# taz.de -- Der Bundeskanzler in London: Undiplomatisches Grinsen
       
       > Olaf Scholz und Boris Johnson sind sich in der Ukraine-Politik in vielem
       > einig. Nur das Thema Nordirland bringt den eloquenten Premier ins
       > Stottern.
       
 (IMG) Bild: Unterkühlt und hitzig, sachlich und polemisch: Olaf Scholz und Boris Johnson
       
       LONDON taz | „Update on Ukraine“ steht auf dem Bildschirm, der die
       Pressekonferenz von Boris Johnson und Olaf Scholz Freitagnachmittag in der
       Downing Street ankündigt. Nichts zählt mehr, nur der Krieg. Er überstrahlt
       alles, gnädigerweise auch [1][Johnsons Partygate-Affäre]. Während des
       Lockdowns hatte es im Regierungssitz illegale Feiern gegeben. Vielleicht
       sollte man Johnson fragen, wo in der Downing Street der Kühlschrank mit dem
       Alkohol steht, witzelt ein Journalist.
       
       Großbritannien hat schon im Januar Waffen an die Ukraine geliefert. Berlin
       ist viel zurückhaltender. Auch dass Deutschland zudem [2][weiter Milliarden
       an Putin für Gas und Öl] überweist, halten manche in London für eine
       Fortsetzung von Berlins Appeasement-Politik gegenüber Moskau. Vielleicht
       betonen Johnson und Scholz in ihren Statements gerade deshalb, dass man
       sich im Grundsätzlichen einig sei.
       
       [3][Putins Krieg] habe den Westen vereint, so beide unisono. Johnson hält
       die deutsch-britischen Beziehungen auch wegen Putins Krieg für „so lebendig
       wie nie“. Man rückt zusammen. Scholz lobt die Sanktionen des Westens als
       „hochwirksam“. Russland habe keinen Zugang mehr zu westlicher
       Hochtechnologie, und könne sich diese auch nicht auf dem Weltmarkt
       beschaffen. „Wir werden erfolgreich sein“, sagt Scholz.
       
       ## Einigkeit in der Kriegsstrategie
       
       Auch Johnson glaubt, dass die Sanktionen erst künftig ihre ganze Wirkung
       entfalten werden. Einig sind sich beide auch in der grundlegenden
       Kriegsstrategie: keine direkte militärische Konfrontation mit Russland,
       aber unterhalb dessen fast alles, um der Ukraine zu helfen.
       
       Man ist nett zueinander. Der britische Premier schaut verständnisvoll auf
       die missliche Tatsache, dass Deutschland weiter Milliarden für russisches
       Gas zahlt. Man könne eben „Energiesysteme nicht über Nacht umwandeln“.
       Johnson lobt, dass Deutschland „Mitte 2024 kein russisches Gas mehr kaufen“
       werde. Das sei „ganz außergewöhnlich“.
       
       Johnson redet prägnant, Scholz etwas länger. Scholz und Johnson sind
       unterschiedliche Temperamente. Unterkühlt und hitzig, sachlich und
       polemisch.
       
       ## Diplomatie und Waffenlieferungen
       
       Einen bemerkenswerten Unterschied gibt es in der Frage, ob es sinnvoll ist,
       mit Putin zu reden. Johnson, in Dauerkontakt mit Kiew, hat das letzte Mal
       kurz vor der Invasion mit Putin gesprochen. Verhandlungen mit ihm seien
       „nicht sehr vielversprechend“, man könne ihm nicht trauen. Scholz hingegen
       verteidigt die Gespräche, die Macron und er mit dem Kreml führen.
       
       Interessant ist die Begründung: „Wir versuchen dem russischen Präsidenten
       zu sagen, wie die Lage wirklich ist“, – nämlich, dass die russische
       Invasion stockt, viele russische Soldaten tot und Waffen zerstört sind. All
       das, so der Kanzler, erfahre Putin „vielleicht aus seinem engsten Umfeld
       nicht“. Dieses Bild ist ein Blick in den Abgrund. Ein Diktator, der einen
       Angriffskrieg führt, ist schlimm. Ein Diktator, der einen Angriffskrieg
       führt und seine eigene Propaganda glaubt, ist noch schlimmer.
       
       Und dann gibt es die [4][Waffenfrage]. Scholz betont immer wieder, man
       stimme sich mit London, Paris und Washington ab und werde keinen Alleingang
       wagen, indem man etwa, wie von Kiew verlangt, schweres Gerät liefert. Nicht
       nur in London hat man den Eindruck, dass der deutsche Alleingang darin
       besteht, möglichst wenig Waffen zu liefern.
       
       ## Definition von Defensivwaffe verändert sich
       
       Am Donnerstag waren ukranische Regierungsvertreter in London. Sie würden
       das militärische Gerät bekommen, das sie brauchen können, so Johnson. Aber
       nur Defensivwaffen. Doch was Defensivwaffen sind, scheint sich gerade unter
       der Hand zu verändern.
       
       In Deutschland will eine Rüstungsfirma 100 Marder-Schützenpanzer an Kiew
       verkaufen. Scholz äußert sich dazu in London wie immer: umwegig. [5][Berlin
       liefere schon] Panzerabwehrwaffen, Luftabwehrwaffen und Munition. Die Frage
       nach dem Marder-Panzer „lasse sich nur sehr fachlich beantworten.“.
       
       Die Bundesregierung bezweifelt, dass diese Schützenpanzer einsetzbar sind.
       Es brauche dafür monate- oder sogar jahrelange Ausbildung. Diese Begründung
       – und Scholz Terminus „fachlich“ – zeigt aber auch eine Verschiebung des
       Diskurses an. Das generelle Nein zur Lieferung von Schützenpanzern, die
       auch offensiv eingesetzt werden können, weicht auf.
       
       ## Reizthema Brexit und Nordirland
       
       Scholz war schon in Warschau, Paris, Washington. Auch wenn er und Johnson
       sich schon bei Nato und G7 getroffen haben, sein offizieller Antrittsbesuch
       in London erfolgt spät. In London ist man darüber nicht amüsiert. Denn man
       kann es als Symbol für die seit dem Brexit gesunkene internationale
       Bedeutung des Königreichs lesen.
       
       Es wird nun regelmäßig Treffen der beiden Regierungen geben. Berlin hat mit
       mehreren Staaten solche Regierungskonsultationen. Sie schaffen Nähe und
       Verbindlichkeit, aber auf eine eher lockere Art.
       
       London hat nach dem Brexit – den Johnson nicht erwähnt, Scholz dagegen
       genüsslich gleich zu Beginn seines Statements – ein gesteigertes Interesse
       an einer engeren Bindung an Berlin. [6][Der Elefant im Raum ist der Artikel
       16 des Nordirlandprotokolls]. Nordirland gehört politisch zu
       Großbritannien, ist aber laut Artkel 16 trotzdem faktisch Teil der EU.
       
       Das hat Brüssel gegen London in den Brexit-Verhandlungen durchgesetzt, um
       eine Eskalation im Nordirland-Konflikt zu verhindern. Johnson will die
       Zollregelungen nun unbedingt ändern. Er hofft, dass die Chancen dafür im
       Windschatten des Ukrainekrieges und angesichts der neuen Einigkeit des
       Westens gestiegen sind. Und er hofft auf Hilfe aus Berlin.
       
       ## Berlin bleibt auf EU-Linie
       
       Auf die Frage eines britischen Journalisten, ob Scholz und Johnson auch
       über den Artikel 16 gesprochen haben, verliert der sonst so eloquente
       britische Premier fast die Kontrolle. Man habe „so harmonisch“ darüber
       geredet, dass er diese Harmonie nicht stören wolle, in dem er jetzt „noch
       etwas dazu sagt“. Genau das tut er Sekunden später. Der Artikel 16 müsse
       „vom Tisch“. Aber man sei bei allen anderen Themen völlig einig. Also – bei
       Nordirland eben nicht. Dass sich ein gewiefter Politiker in einer Minute so
       widerspricht, ist selten.
       
       Bei der Nordirland-Frage liegen Welten zwischen Johnson und der EU. Die
       vage Hoffnung auf Sonderabsprachen mit Berlin in Sachen Nordirland sind
       wohl Asche. Berlin will nicht von der Linie in Brüssel abweichen.
       
       Während sich Johnson um Kopf und Kragen redet, grinst Scholz, sonst bekannt
       für minimalistische Mimik, über das ganze Gesicht. Fast undiplomatisch.
       
       9 Apr 2022
       
       ## LINKS
       
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