# taz.de -- NSU-Terror in Bayern: Der Wunsch nach Aufklärung
       
       > Der bayerische Landtag widmet dem NSU-Komplex einen zweiten
       > Untersuchungsausschuss. In den Fokus rücken Unterstützernetzwerke in
       > Franken.
       
 (IMG) Bild: In Nürnberg erinnert eine Holztafel an İsmail Yaşar, der vom NSU ermordet wurde
       
       MÜNCHEN taz | Es ist der 23. Juni 1999, Mehmet O. macht in seiner Kneipe
       sauber. „Sonnenschein“ heißt sie. Vor zwei Wochen hat der erst 18-Jährige
       die Bar in der Nürnberger Scheurlstraße übernommen, gestern war die große
       Eröffnungsfeier. In der Toilette findet der junge Wirt eine Taschenlampe,
       wundert sich, wer die hier wohl vergessen haben mag. Als er sie anschaltet,
       wird er aus der Toilette und quer durch den Gastraum geschleudert.
       
       Die Taschenlampe ist eine Rohrbombe. Dass O. den Anschlag überhaupt
       überlebt, hat er einem Konstruktionsfehler der Attentäter zu verdanken. Er
       erleidet jedoch schwere Schnittverletzungen, muss wochenlang gepflegt
       werden. Die psychischen Wunden verheilen noch langsamer. O. hat Angst, auf
       die Straße zu gehen, fühlt sich auch in seiner Heimatstadt nicht mehr
       sicher, verlässt Nürnberg.
       
       Was Mehmet O. zu diesem Zeitpunkt nicht weiß – und auch fast zwanzig Jahre
       lang nicht erfahren wird: Er ist das erste Opfer des
       Nationalsozialistischen Untergrunds. Doch die Ermittler verdächtigen ihn
       selbst – eine Erfahrung, von der auch viele Angehörige der NSU-Mordopfer
       berichten. „Was wurde mir nicht alles angehängt? Drogenhandel, Schutzgeld,
       Versicherungsbetrug. Ich hätte die Bombe selber hochgehen lassen, sagten
       sie“, erzählt Mehmet O. 2021 in einem Interview mit der Saale-Zeitung. „Mit
       diesem Verdacht musste ich jahrelang leben.“
       
       Mehmet O. ist ein Deckname, den der Mann heute in der Öffentlichkeit
       benutzt. Er hat noch immer Angst. Die beiden NSU-Mörder Uwe Mundlos und Uwe
       Böhnhardt sind zwar tot, und ihre Komplizin [1][Beate Zschäpe sitzt im
       Gefängnis], aber wer weiß, wer da draußen noch immer frei herumläuft?
       
       ## In Bayern beging der NSU die Hälfte seiner Morde
       
       Ja, wer weiß? Die Frage stellt sich nicht nur Mehmet O., sondern
       beschäftigt unter anderem auch zwei der Oppositionsparteien im bayerischen
       Landtag. Grüne und SPD haben deshalb jetzt einen zweiten
       NSU-Untersuchungsausschuss beantragt, im Mai wird er offiziell die Arbeit
       aufnehmen. Einen zweiten in Bayern wohlgemerkt, deutschlandweit ist es
       bereits der 15. Und natürlich ist die Frage nach den Hintergründen des
       Anschlags in der „Sonnenschein“-Bar nur eine von vielen auch vier Jahre
       nach dem Ende des NSU-Prozesses ungeklärten Fragen.
       
       Seit der erste Untersuchungsausschuss zum NSU-Komplex seine Arbeit im
       Herbst 2013 beendet hat, habe sich viel getan, finden die Parlamentarier,
       der Erkenntnisstand sei heute ein völlig anderer.
       
       In Bayern beging der NSU die Hälfte seiner Morde, drei in Nürnberg, zwei in
       München. [2][Enver Şimşek], Abdurrahim Özüdoğru, Habil Kılıç, İsmail Yaşar
       und Theodorus Boulgarides hießen die Opfer. Mit dem Mord an Enver Şimşek,
       der an seinem Blumenstand in Nürnberg-Langwasser erschossen wurde, begann
       im Jahr 2000 die Serie.
       
       Doch gerade in Franken gibt es besonders viele offene Fragen. So deutet
       einiges darauf hin, dass die Nürnberger Neonaziszene und das NSU-Umfeld in
       Thüringen und Sachsen um die Jahrtausendwende herum enge Kontakte gepflegt
       haben. Wurden diese Strukturen bei den Ermittlungen ausreichend unter die
       Lupe genommen?
       
       Das ist eine der Fragen, denen der Ausschuss nun auf den Grund gehen will,
       erzählt [3][Toni Schuberl] von den Grünen, der designierte
       Ausschussvorsitzende. Das Taschenlampenattentat sei dabei auf jeden Fall
       zentral. „Das ist schließlich noch nie richtig untersucht worden.“ Und für
       Schuberl steht die Frage im Raum: Hätten die Morde des NSU verhindert
       werden können, wenn damals richtig ermittelt worden wäre?
       
       ## Warum wurden Hinterbliebene wie Tatverdächtige behandelt?
       
       Welche Verbindungen gibt es zur Nürnberger Hooligan-Szene? Welche Bedeutung
       kam dem [4][Neonazi-Netzwerk Blood & Honour] zu? Wer hat die möglichen
       Anschlagsziele und Fluchtrouten für das NSU-Trio akribisch ausgespäht? In
       dessen Zwickauer Wohnung waren nach der Selbstenttarnung Todeslisten mit
       tausenden Adressen, darunter viele in Franken, gefunden worden. Und welche
       Rolle spielte etwa Susann Eminger, die Frau des verurteilten
       NSU-Unterstützers André Eminger? Mehmet O. soll sie auf Bildern
       wiedererkannt haben, als der Anschlag auf seine Kneipe 2013 nach der
       Aussage eines anderen Angeklagten im Prozess erstmals dem NSU zugeordnet
       werden konnte.
       
       Natürlich wird es auch um den Einsatz von V-Leuten gehen. Nicht wenige von
       ihnen waren im NSU-Umfeld tätig. Welche Informationen haben sie den
       Sicherheitsbehörden geliefert? Ein Mann mit dem Decknamen Primus etwa hat
       für das Bundesamt für Verfassungsschutz gearbeitet. Seine Rolle sei noch
       immer im Unklaren. Der Bauunternehmer soll Mundlos und vielleicht auch
       Böhnhardt vorübergehend in seiner Firma beschäftigt haben. Auch die Frage,
       ob er an der Beschaffung von Wohnmobilen für den NSU beteiligt gewesen war,
       steht im Raum.
       
       Alles in allem sind es 198 Fragen, die SPD und Grüne in ihrem Katalog
       aufgelistet haben. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei natürlich dem
       Vorgehen der Behörden: Warum, fragen die Parlamentarier, wurde zehn Jahre
       lang in die völlig falsche Richtung ermittelt, wurden fast alle Hinweise
       auf einen rechtsextremen Hintergrund außer Acht gelassen? Und warum wurden
       Hinterbliebene und Überlebende wie Tatverdächtige behandelt? Schuberl
       vermutet hier einen Fall von institutionellem Rassismus: „Ich will da jetzt
       keinem einzelnen Ermittler eine rassistische Haltung unterstellen.“ Aber
       der Reflex sei eindeutig gewesen: Aufgrund des Migrationshintergrunds der
       Opfer habe man sofort Rückschlüsse gezogen und die Täter im Bereich der
       Clankriminalität gesucht.
       
       ## Petition fordert: „Kein Schlussstrich!“
       
       Und als die Polizei Mehmet O. 2013 noch einmal aufsuchte, wurde er weder
       informiert, warum er 115 Bilder von Rechtsextremisten durchsehen musste,
       noch setzte man ihn in Kenntnis, dass er offensichtlich Opfer eines
       Anschlags von Neonazis geworden war. Man warnte ihn lediglich davor, sich
       an die Medien zu wenden. Erst im Sommer 2018, als Journalisten bei einer
       gemeinsamen Recherche des Bayerischen Rundfunks und der Nürnberger
       Nachrichten den ehemaligen Wirt aufsuchen, erfährt Mehmet O., wer die Bombe
       damals gelegt hat.
       
       Die politischen Verantwortungsträger, so argumentieren die Initiatoren des
       Untersuchungsausschusses, hätten den Hinterbliebenen und Überlebenden eine
       vollständige und rückhaltlose Aufklärung der NSU-Verbrechen und ihrer
       Hintergründe versprochen. „Davon sind wir auch zehn Jahre nach der
       Enttarnung des NSU und drei Jahre nach dem Ende des NSU-Prozesses vor dem
       Münchner Oberlandesgericht immer noch weit entfernt“, heißt es jedoch in
       dem Antrag auf Einsetzung des Ausschusses.
       
       Auch Angehörige von Opfern des NSU, Vertreter der Nebenklage im NSU-Prozess
       sowie Fachberatungsstellen für Opfer rechtsextremer Gewalt hatten in der
       Petition „Kein Schlussstrich“ einen zweiten Untersuchungsausschuss in
       Bayern gefordert. Die Stadträte in Nürnberg und München hatten sich der
       Forderung angeschlossen. Nach anfänglicher Skepsis unterstützen
       mittlerweile auch CSU, Freie Wähler und FDP das Vorhaben. Die
       konstituierende Sitzung des Ausschusses soll am 19. Mai stattfinden.
       
       18 Apr 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Dominik Baur
       
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