# taz.de -- Identität in NRW: Wir sind viele. Aber wer sind wir?
       
       > NRW hat keine Landesidentität, aber ist das Stammland der SPD. Und
       > Dortmund die Herzkammer. Echt jetzt? Ein Versuch, NRW vor Klischees zu
       > retten.
       
 (IMG) Bild: Sentimentale Sepiafärbung: ehemalige Bergleute beim deutschen Bergmannstag in Essen
       
       Auf der Website der Landesregierung Nordrhein-Westfalen steht in großen
       Lettern: „Wir sind 18 Millionen.“ Auf der Website der bayerischen
       Landesregierung schreitet Markus Söder im Sonnenlicht in klimaschützender
       Absicht über eine Wiese. Das ist auch ein fragwürdiger Anblick. Aber kein
       Bayer käme je auf die Idee, mit dem Satz „Wir sind x Millionen“ das eigene
       Bundesland zu preisen. Dass man viele ist, dass man mehr Einwohner hat als
       andere Bundesländer – das schillert mit einer gewissen Unglückstönung
       zwischen Angeberei und einer verdeckten Identitätskrise. Schlummert in dem
       „Wir sind viele“ die Frage „Aber wer sind wir?“?
       
       Die Diagnose mangelhafter Landesidentität [1][hat man dem Bindestrichland
       schon oft gestellt]. Sie lässt sich auf mannigfache Art illustrieren. Das
       Kunstland entstand nach 1945 als britisches Oktroi. Aus Gründen, die schon
       seit Jahrzehnten niemanden mehr interessieren, wurde mit der preußischen
       Rheinprovinz und der preußischen Provinz Westfalen vereint, was nicht
       zusammengehörte. Seitdem müssen es wortkarge Ostwestfalen und redselige
       Rheinländer miteinander aushalten.
       
       Weil der Landesname Nordrhein-Westfalen so elegant wirkt wie dreckige
       Gummistiefel, versuchte man Anfang der 60er Jahre erbaulichere Namen zu
       finden. Der damalige CDU-Ministerpräsident rief die misslicherweise
       Nordrhein-Westfalen geheißenen Landeskinder auf, einen hübscheren Namen zu
       suchen. Die Vorschläge von „Rheinfalen“ über „Westfranken“ bis „Montana“
       setzten sich nicht durch.
       
       Eine andere Namens-Anekdote zeigt das glückliche Abbiegen der
       Identitätsdebatte in Richtung Abklingbecken. Behörden kürzten das Land
       früher jahrelang NW ab und scheiterten damit an den BürgerInnen. Mochte
       Paderborn nicht viel mit Leverkusen, Herford nichts mit Aachen am Hut haben
       – in dem Eigensinn, das Land einfach behördenignorant weiter NRW zu nennen,
       zeigte sich der Vorschein eines knorrigen Selbstbewusstseins.
       
       ## Komplizierter, fragiler, interessanter
       
       Diese Art Erkennbarkeit, Zusammengehörigkeit, eben Identität zu entwickeln
       ist weit entfernt von dem klassischen Regionalpatriotismus nord- oder
       süddeutscher Provinienz. Sie ist komplizierter, fragiler, interessanter.
       Ein typischer Ruhrgebietssatz bringt dieses Gefühl auf den Punkt: Woanders
       is auch scheiße.
       
       Der Autor Wolfram Eilenberger hat ein paar Monate in Mülheim verbracht und
       versucht das Rätsel Ruhrgebiet zu erkunden. Den Scheiße-Satz findet
       Eilenberger autoaggressiv: Er drücke eine „rein re-aktive Art aus, wie man
       nicht über sich denken sollte: Wir sind nicht schön, aber ihr seid auch
       hässlich.“ Wenn man aus soliden Verhältnissen in Karlsruhe stammt, kann man
       sich regionale Identität wohl nur als bürgerstolzes Selbstbewusstsein
       vorstellen und die Pott-Mixtur aus unverstellter Direktheit, Selbstironie
       und Understatement nur als Defizit deuten.
       
       ## Pottsprache als Unterschicht
       
       Auch sprachlich ist NRW und insbesondere das Ruhrgebiet das Gegenbild zum
       Bairischen und Schwäbischen. Dort reden Ministerpräsidenten und Eliten
       selbstverständlich mit dialektaler Einfärbung. Das Bairische und
       Schwäbische sind grosso modo klassenübergreifende Sprachfärbungen, während
       die Pottsprache mit „Hömma“ und „Bömmsken“ eher fürs Kabarett als fürs
       Kabinett taugt. In einem WDR-Doppelporträt über den CDU-Ministerpräsidenten
       Hendrik Wüst und den aus einer Essener Eisenbahnerfamilie stammenden
       [2][SPD-Mann Thomas Kutschaty] ist eine hübsche Szene zu sehen. Kutschaty
       nimmt in einem Tonstudio einen Wahlwerbespot für die SPD auf. „Scheiße, ich
       hab Landtachswahl gesacht, nicht Landtagswahl“, sagt Kutschaty. Die
       Kommunikationsberaterin findet das eigentlich brauchbar, weil authentisch.
       
       Aber Pottsprache ist weit entfernt davon, in allen sozialen Kontexten
       anwendbar zu sein. Sie ist eher Slang, Sprache der Unterschicht. Obwohl die
       sepiafarbene Selbstfolklorisierung des Ruhrgebiets weit vorangeschritten
       und „Hömma“ und „Landtach“ als Authentizitätssoundbites verwendbar sind,
       ist Pottsprache noch immer durch Klassenzugehörigkeit kodiert. Soziale
       Aufsteiger zwischen Moers und Unna bemühen sich wie vor 50 Jahren
       jedenfalls darum, möglichst hochdeutsch zu klingen. Die Pottfärbung bricht
       nur durch, wenn Gefühle im Spiel sind.
       
       ## NRW ist kein Mangelwesen
       
       NRW ist, wenn man nach vorzeigbarer, konkurrenzfähiger Identität forscht,
       kein Mangelwesen Es sieht, vom Hochsitz in Süddeutschland aus betrachtet,
       nur so aus. Überhaupt ist Identität bekanntlich nichts Kristallines,
       sondern biegsam. Das Ruhrgebiet ist als Sehnsuchtsort authentischer
       Arbeiterlichkeit und wärmende, identitätsstiftende Heimat vielleicht erst
       in dem Moment entstanden, in dem es in der Wirklichkeit bergabging und die
       Industrie von einer Krise in die nächste taumelte. Das ist nicht
       verwunderlich. Das Bewusstsein von Heimat – im Deutschen ein
       wehmutsverhangenes Wort – entsteht ja meist erst aus räumlicher oder
       zeitlicher Distanz.
       
       Der Trend, das Ruhrgebiet immer mehr [3][in eine Art industrielles
       Freiluftmuseum zu verwandeln], ist doppelbödig. Die Oberbürgermeister von
       Bochum, Essen und Gelsenkirchen sind skeptisch, ob der Weg zurück nach
       vorne führt und sperren sich dagegen, aus dem Revier das Welterbe
       „Industrielle Kulturlandschaft Ruhrgebiet“ zu machen. Wahrscheinlich ist es
       produktiver, mehr als auf rostige Relikte auf die historische gewachsene
       Ironie – und empathiefähige Art der Ruhrgebietbewohner zu setzen, die
       Erdverbundenheit mit Weltoffenheit kombiniert und sich langer
       Migrationserfahrung verdankt.
       
       ## Abgewrackt, aber menschenfreundlich
       
       [4][Leon Goretzka], in Bochum geboren, brachte den klugen,
       erfahrungsgesättigten Alltagspragmatismus im Revier zielgenau auf den
       Punkt: „Ich bin ein Kind des Ruhrgebiets. Da antwortet man auf die Frage
       nach der Nationalität Schalke, Dortmund oder Bochum.“ So mögen die
       Innenstädte zwischen Unna und Duisburg auf feinnervige BürgerInnen etwas
       abgewrackt wirken. Dafür beherbergen sie kommunikative Talente, Humor und
       unsentimentale Menschenfreundlichkeit.
       
       Die politischen NRW-Mythen sind mit ein paar Stichworten umrissen:
       Stammland der SPD. Dortmund ist die Herzkammer der Sozialdemokratie
       (Herbert Wehner). Und Landtagswahlen in Düsseldorf sind kleine
       Bundestagswahlen, mit magischer Auswirkung auf den Bund. Nichts daran ist
       völlig falsch. Legenden bestehen ja immer aus Wahrheit in kleineren Dosen
       und solider Ignoranz gegenüber Fakten, die stören könnten.
       
       ## Der Proporz regiert
       
       Bis 1966 galt NRW als Stammland einer Partei – der CDU, die fast durchweg
       regierte. Das SPD-Stammland-Klischee fußt auf den folgenden 39 Jahren, in
       denen die SPD in Düsseldorf regierte. NRW war aber nie so
       sozialdemokratisch durchwirkt, wie es Bayern durch die CSU war. Viele
       katholische Milieus im Münsterland und am Niederrhein blieben für die SPD
       Diaspora. Der Politikwissenschaftler Ulrich von Alemann hat zudem auf einen
       grundlegenden Unterschied zwischen Bayern und NRW hingewiesen. Im Süden
       regiert das Prinzip „the winner takes it all“ – deswegen hat die CSU von
       der Staatskanzlei bis zum Dorfbürgermeister das Sagen. NRW ist hingegen auf
       Konsens geeicht.
       
       Der Proporz regiert, das Modell Schweiz. Auch wo die SPD alleine
       durchregieren konnte, waren CDU-Leute in Kommunen im Ruhrgebiet Kämmerer,
       Dezernenten und leiteten die Ordnungsämter. NRW ist ein Konsensland und
       zudem politisch bestürzend strukturkonservativ. Die Regierungsbezirke
       stammen von 1816. Das Ruhrgebiet gehört daher skurrilerweise 200 Jahre
       später zu den Bezirken Arnsberg, Münster und Düsseldorf.
       Verwaltungstechnisch durchschneiden die Grenzen das Revier willkürlich. Sie
       stammen aus der Zeit, als zwischen Bochum und Duisburg vor allem Schafe und
       Kühe lebten. Das ist so effektiv, wie Berlin von Potsdam, Frankfurt (Oder)
       und Eberswalde aus zu verwalten.
       
       ## Wehner war es nicht
       
       Und die Herzkammer der SPD, das tausendfach bemühte Wehner-Zitat, das
       Aufstieg und Fall der Partei so anschaulich fasst? Früher gab es mal 25.000
       GenossInnen in Dortmund, jetzt noch 5.000. Der Begriff klebt an Dortmund.
       Als SPD-Herzkammer gilt schnell das ganze Ruhrgebiet, obwohl Essen und
       Oberhausen von der CDU regiert werden und Mülheim die erste schwarz-grün
       regierte deutsche Großstadt war. 2017 erklärte CDU-Mann Tauber einfach ganz
       NRW zur SPD-Herzkammer, was an Geschichtsfälschung grenzte.
       
       Ohne kleinlich wirken zu wollen: Vielleicht hat jemand Dortmund mal
       Herzkammer der SPD genannt. Herbert Wehner war es nicht. Jedenfalls kennt
       der Historiker Christoph Meyer, Vorsitzender der Herbert-und-Greta-Wehner
       Stiftung und Autor einer 600 Seiten starken, viel gerühmten Biografie des
       SPD-Mannes, keine Quelle. Und er müsste es wissen. Wehner hat 1973 vielmehr
       die AfA, die Arbeitsgemeinschaft der Arbeitnehmer, als Herzkammer der SPD
       bezeichnet. Denn Wehner war weitsichtigerweise der Ansicht, dass die SPD in
       der Regierung vergessen könnte, woher sie stammt, und daher einer
       Arbeitnehmerorganisation bedürfe. Diese finstere Ahnung bestätigte sich
       2002, als Schröder die Agenda 2010 erfand und Wolfgang Clement, ein
       überzeugter Neoliberaler, der später in der FDP strandete, die SPD in NRW
       ruinierte.
       
       ## Seit 20 Jahren ein Swing State
       
       Für den Glauben, dass Landtagswahlen in NRW Vorboten für den Bund sind,
       gibt es zwei einleuchtende Daten. 1966 und 2005, Anfang und Ende der
       SPD-Dominanz. Sozial-Liberal in Düsseldorf 1966 wird zu Recht als Vorbote
       für die Brandt-Scheel-Regierung 1969 gelesen. 2005 endete Rot-Grün. Peer
       Steinbrück und zuerst Clement waren treue Vasallen von Schröders
       Agenda-Kurs. Mit dem Strukturwandel, der wie ein mühsam gebremster Orkan
       durch das Ruhrgebiet fegte, ging auch die sozialdemokratische Lebenswelt,
       der mitunter verfilzte Kosmos aus Partei und Gewerkschaft,
       Wohnungsbaugenossenschaft und AWO, unter. Den Verlust der Macht in
       Düsseldorf und Berlin hat die SPD mit dem neoliberalen Verrat an Teilen der
       eigenen Klientel selbst verursacht.
       
       Und nun? NRW ist seit fast 20 Jahren ein swing state. Mal ist die CDU
       vorne, mal die SPD. NRW wählt strukturkonservativ. Mindestens 60 Prozent
       votieren für die alten Volksparteien. Es kann sein, dass die Wahl 2022 die
       Symbolik fortschreibt. Wenn die SPD siegt, wäre es ein Zeichen, dass der
       lange für unaufhaltsam erklärte Niedergang der Sozialdemokratie gebremst
       oder gar gestoppt ist. Regieren altes und neues Bürgertum, CDU und Grüne,
       die es schon lange zueinander zieht, wäre das ein finsteres Zeichen für die
       SPD. Der Sieg im Bund 2021 würde als glückliche Ausnahme erscheinen. Denn
       eine Niederlage in NRW hat mehr politische Schwungmasse als eine in Kiel.
       In NRW leben 18 Millionen. Einfach sehr viele.
       
       12 May 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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