# taz.de -- Gerson Liebl streitet für deutschen Pass: Koloniales Unrecht wirkt bis heute
       
       > Gerson Liebl geht in Berufung: Ihm wird der Pass verweigert, weil seine
       > Großeltern wegen rassistischer Gesetze der Kaiserzeit nicht heiraten
       > durften.
       
 (IMG) Bild: Zieht notfalls bis nach Karlsruhe: Gerson Liebl kämpft für sein Recht
       
       BERLIN taz | Gerson Liebl will’s noch mal wissen: Der Mann aus Togo, der
       seit 30 Jahren dafür kämpft, Deutscher zu sein, weil er einen deutschen
       Großvater aus Kolonialzeiten hat, geht in Berufung. Kürzlich hat das
       Berliner Verwaltungsgericht seine Klage auf Ausstellung eines deutschen
       Staatsangehörigkeitsausweises durch die Innenverwaltung des Landes Berlin
       abgewiesen [1][(taz berichtete)].
       
       „Das Urteil ist Rechtsbeugung“, sagt Liebl, der nach Jahren juristischer
       Auseinandersetzungen eine Art Experte für Kolonialrecht geworden ist und
       sich derzeit vor Gericht selbst vertritt – auch mangels Geld für einen
       Anwalt. Vor allem kritisiert er, dass das Verwaltungsgericht, wie andere
       Gerichte zuvor, seine Entscheidung letztlich mit kolonialem (Un-)Recht
       begründet. „Die Gesetze damals waren rassistisch. Wie kann so etwas heute
       noch gelten?“, fragt er.
       
       Das Problem: „Mischehen“, wie man damals sagte, waren im [2][Kaiserreich]
       nicht gewollt. In den Kolonien und „Schutzgebieten“ wie Togo wurde daher
       keine Möglichkeit geschaffen, um nach deutschem Recht – vor einem
       Standesbeamten, mit Urkunde etc. – zu heiraten. Auch wenn Ehen zwischen
       Deutschen und „Einheimischen“ in Togo, anders als etwa in Samoa, wohl auch
       nicht ausdrücklich verboten waren. Dennoch konnte Liebls Großvater,
       Friedrich Liebl, der von 1908 bis 1911 in einem Krankenhaus in Anecho/Togo
       als Regierungsarzt beschäftigt war, Liebls Großmutter, Kokoé Edith Ajavon,
       nur nach dem sogenannten „Stammes-Recht“ heiraten.
       
       Allerdings erkannten die deutschen Behörden solcherart geschlossene Ehen
       nicht an. Weshalb der Sohn der beiden, Liebls 1910 geborener Vater Jean
       Johann, nach deutschem Recht kein eheliches Kind war – und somit auch kein
       Deutscher. Denn bis 1993 konnte man die deutsche Staatsangehörigkeit per
       Abstammung von einem deutschen Vater nur erwerben, wenn die Eltern
       verheiratet waren.
       
       ## Perpetuiertes Unrecht
       
       Diese Verknüpfung von Ehe- und Staatsbürgerschaftsrecht nennt Liebl
       rassistisch – und sein letzter Richter, James Bews vom Berliner
       Verwaltungsgericht, gab ihm da sogar recht: Diese Gesetze aus der
       Kaiserzeit seien „selbstverständlich rassistisch“ gewesen, sagte er in der
       Verhandlung. „Für die Beurteilung der Rechtslage“ sei dies jedoch „nicht
       erheblich“. Und folgte im Urteil der Linie seiner Vorgänger: Weil Liebls
       Vater nach damaligem Recht kein Deutscher per Geburt war, sei er selbst es
       heute ebenso wenig.
       
       Kritik an dieser Sichtweise gab es im Laufe von Liebls langem Kampf immer
       wieder – und es gibt sie bis heute. Es sei ein „rechtliches und politisches
       Problem, wenn offensichtlich rassistische Aspekte des Kolonialrechts in
       heutige Entscheidungen übernommen werden und sich koloniales Unrecht damit
       perpetuiert“, sagt der Jurist für Internationales Recht an der Universität
       Wiesbaden, Matthias Goldmann. Zusammen mit dem Direktor des
       Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Privatrecht,
       Ralf Michaels, hat Goldmann den „Fall Liebl“ analysiert, weil er in ihren
       Augen grundsätzliche Fragen zum Umgang mit Kolonialrecht aufwirft.
       
       Für Goldmann liegt die Krux in dem grundlegenden juristischen Prinzip, dass
       für jeden Fall immer dasjenige Recht in Anschlag gebracht werden muss, das
       zur fraglichen Zeit galt. Diese „Intertemporalität“ des Rechts wird
       allgemein als notwendig angesehen, um Rechtssicherheit herzustellen – da
       man sonst ja alle Entscheidungen rückwirkend angreifen könnte, sobald sich
       Gesetze – etwa aufgrund neuer Werte – ändern.
       
       Im Zusammenhang mit der Kolonialzeit führe das Prinzip der
       Intertemporalität aber immer wieder zu Konflikten, erklärt Goldmann. So sei
       in der Restitutionsdebatte lange argumentiert worden ([3][etwa von
       Museen]), wenn es Kaufverträge oder Schenkungsurkunden gebe, seien
       koloniale Objekte „rechtmäßiger“ Besitz. „Aber im kolonialen Kontext galt
       als Recht oder Vertrag, was wohl weder nach den damals für rein deutsche
       Sachverhalte geltenden Maßstäben noch nach heutigen verfassungsrechtlichen
       Maßstäben Bestand haben könnte.“
       
       ## Experte fordert für Abwägung mit Grundrechten
       
       Matthias Goldmann fordert daher, die Grundsätze des intertemporalen Rechts
       nicht als absolut zu betrachten. Stattdessen müssten sie abgewogen werden
       gegen die Grundrechte, etwa Artikel 3 (Gleichheitsgrundsatz,
       Diskriminierungsverbot) oder Artikel 6 Abs. 5 (Gleichbehandlung von
       unehelichen mit ehelichen Kindern). „Die Intertemporalität muss Grenzen
       haben“, sagt der Jurist.
       
       In einem ähnlichen Fall hat auch das Bundesverfassungsgericht eine solche
       Grenze gezogen. 2020 befanden die Karlsruher Richter, dass nichteheliche
       Kinder von NS-Opfern nicht schlechter gestellt werden dürfen als eheliche.
       Geklagt hatte eine 1967 geborene US-Bürgerin, deren Vater vor den Nazis
       geflohen und als Jude ausgebürgert worden war. Sie berief sich auf Artikel
       116 des Grundgesetzes, der die Wiedereinbürgerung von NS-Opfern und ihren
       „Abkömmlingen“ regelt.
       
       Das Bundesverwaltungsamt hatte ihr die deutsche Staatsbürgerschaft
       verweigert mit dem Argument, zum Zeitpunkt ihrer Geburt hätte sie, selbst
       wenn der Vater damals Deutscher gewesen wäre, auch kein Recht gehabt,
       Deutsche zu sein, da ihre Eltern nicht verheiratet waren und ihre Mutter
       US-Bürgerin war. Nach dem Prinzip der Intertemporalität hatten sie damit
       wohl recht. Das BVerfG urteilte dennoch, diese Sichtweise sei eine
       Verletzung der Grundrechte der Klägerin nach Artikel 3 und 6.
       
       Auch Liebl argumentierte in seinem letzten Prozess mit diesem Beschluss des
       BVerfG – vergeblich. Das oberste deutsche Gericht habe sich bei seiner
       Entscheidung nur auf „Abkömmlinge“ von NS-Verfolgten nach Artikel 116
       bezogen, so der Richter. Zudem habe sich Liebl „nicht auf eine Verletzung
       seines eigenen Grundrechts (…) bezogen, sondern auf eine Ungleichbehandlung
       seines nach dem damals geltenden deutschen Recht nichtehelich geborenen
       Vaters“.
       
       ## Geht der Fall bis nach Karlsruhe?
       
       Für Goldmann ist das nicht überzeugend. Er sagt: „Wenn man sich die
       tragenden Gründe des Urteils ansieht, ist das schon mit Liebl vergleichbar.
       In beiden Fällen geht es um die eklatante Ungerechtigkeit der
       Ungleichbehandlung von nichtehelichen Kindern.“
       
       Ob die bei „Abkömmlingen“ aus Kolonialzeiten tatsächlich Bestand haben
       kann, müsste letztlich wohl ebenfalls das Bundesverfassungsgericht
       entscheiden. Goldmann hofft daher, dass Liebl mit seiner Berufung
       durchkommt und seinen Fall bis nach Karlsruhe bringen kann. Dies sei von
       den Voraussetzungen her zwar „schwierig, aber möglich“.
       
       Wie viele Menschen außer Liebl die Problematik betrifft, kann heute nur
       geschätzt werden. Die Deutschen dürften aber in allen Kolonien und
       „Schutzgebieten“ zusammen mindestens einige hundert Kinder gezeugt haben.
       So seien den Behörden 1912 allein in Togo 243 „Mischlinge“ bekannt gewesen,
       heißt es in einem Gutachten zum „Fall Liebl“ aus dem Jahr 1999.
       
       Hier könnte der Grund dafür liegen, dass auch die Politik bislang nicht
       bereit war, das Thema im Sinne der Nachfahren von Kolonisierten
       abschließend zu regeln, wie dies Unterstützer von Gerson Liebl immer wieder
       gefordert haben. Doch die Angst, damit vielleicht Hunderte neue
       „afrikanische“ Deutsche zu schaffen, ist kein Argument.
       
       26 Jun 2022
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Folgen-des-deutschen-Kolonialismus/!5852561
 (DIR) [2] https://de.wikipedia.org/wiki/Deutsches_Kaiserreich
 (DIR) [3] /Debatte-ums-Berliner-Humboldt-Forum/!5733776
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Susanne Memarnia
       
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