# taz.de -- Sommerfestival Kampnagel-Theater Hamburg: Magischer Mosquito
       
       > Beim Sommerfestival des Kampnageltheaters Hamburg wird eine vom
       > kanadischen Kid Koala konzipierte Graphic-Novel als Puppenspiel
       > inszeniert.
       
 (IMG) Bild: Stechen wie eine Mücke: Szene aus „Storyville Mosquito“
       
       The Storyville Mosquito“ heißt das Stück, mit dem Kid Koala, virtuoser DJ
       neben vielem anderen, zu Gast war [1][beim Sommer-Event der Kulturfabrik
       Kampnagel] in Hamburg; in dessen Programm ist er eine wiederkehrende Größe.
       Zusammen mit sieben weiteren Mitwirkenden bot er mit viel Musik eine
       rührende Geschichte und ganz großes (Kunst-)Handwerk.
       
       Von den Projekten, die [2][der Kanadier seit 2011 in Hamburg] zur
       Aufführung gebracht hat, bezeichnet er das jüngste als verwandt mit
       „Nufonia Must Fall“ (2014). Handelte diese Echtzeit-Adaption seiner eigenen
       Graphic Novel (2003) von einem Roboter mit Schwierigkeiten, Liebeslieder zu
       schreiben, variiert „Storyville Mosquito“ diese Zutaten: Diesmal ist es ein
       Moskito, der in die Stadt kommt, einen Koffer in der Hand und das Herz
       voller Träume: einmal werden wie Klarinettenlegende Artie Chaux – und
       dessen einziges Konzert miterleben.
       
       Die nostalgisch-chaplineske Geschichte für die ganze Familie bedient sich
       durchaus eingespielter Tropen: Es gibt den garstigen Konkurrenten, einen
       Metallofon spielenden Spinnerich (die vielen Beine!); einen erst
       hinderlichen, dann geläuterten Musikmuseumsdirektor. Und in love interest:
       die Zikade Katy, die, ihrerseits ziemlich glücklos, einen Nudelimbiss
       betreibt und Mosquito im entscheidenden Moment motiviert.
       
       ## Fingerpuppengroße Puppen
       
       Obwohl der Plot vorhersagbar ist, schmälert das nicht die umwerfende
       Umsetzung: Mit 70 Puppen und 20 Bühnenbildern wird in Echtzeit ein
       Trickfilm inszeniert und über die Handelnden projiziert. Wir sehen dabei
       zu, wie the magic happens. So wird etwa von einer „Totalen“ mit
       fingerpuppengroßen Figuren zu einer anderen Kamera geschnitten: Fast
       menschengroß saugen Mosquito und Katy nun vor deren Objektiv ihre Gläser
       leer, um damit durch die Wand dem Konzert nebenan zu lauschen; in die Music
       Hall war Mosquito nicht reingekommen: kein Jackett.
       
       Den Soundtrack steuert ein Streichertrio bei und ein rastloser Kid Koala
       an Turntables und Sampler, Klarinette, E-Gitarre und mit einem halben
       Dutzend weiterer Klangerzeuger. Zu hören ist (beinahe) kein gesprochenes
       Wort, und im Film zu Lesendes kann jeweils leicht dem Publikum gemäß
       angepasst werden.
       
       Das Schöne an so einem Sommertag auf Kampnagel: Gleich danach lässt sich in
       einer benachbarten Halle der früheren Kranfabrik allerbestes
       Kontrastprogramm erleben, in diesem Fall [3][das australische Back to Back
       Theatre] mit „The Shadow Whose Prey the Hunter Becomes“. Den ersten
       Kontrast bietet schon das Bühnenbild, also: seine Abwesenheit. Das Stück
       beginnt mit einem leeren Raum, in dem die Darsteller:innen fünf
       zweckmäßig stapelbare Stühle aufreihen: Das Meeting einer
       Selbsthilfegruppe?
       
       ## Gerade auch hörbar
       
       Denn Dargestellte wie Darstellende sind, was wohlmeinende Bürokratie
       „Menschen mit Behinderung“ nennt, mit geistigen Behinderungen,
       „intellectual disabilities“. Die sind bei der einen mehr, dem anderen
       weniger sicht-, aber gerade auch hörbar.
       
       Dass der gesprochene Text in Echtzeit zu Obertiteln übersetzt wird, mit
       kleinen, sofort sich korrigierenden Pseudo-Fehlern: nur eine Krücke für das
       etwas hilfsbedürftige Publikum? Eine Beleidigung, findet jedenfalls Sarah
       (Sarah Mainwaring): Sie wolle nicht „angespuckt werden und dann poliert“.
       
       Scott (Scott Price) geht noch weiter: Sie sei vorbei, die Zeit des
       tunlichst niemanden Störens, des diskreten Unter-sich-Bleibens – oder
       Schlimmeren: Vom übergroßen Rednerpult aus beklagt er Jahrtausende des
       Wegsperrens, Misshandelns, ja, auch des Vergasens von Menschen wie ihm
       selbst. Von den „Magdalenen-Wäschereien“ erfahren wir, in denen die irische
       katholische Kirche im Namen des Staates behinderte Menschen ausbeutete; und
       davon, wie nach deren Schließung die globale Spielzeugindustrie ins Land
       kam, der Konzern Hasbro sich der billigen Arbeitskraft bediente.
       
       Glücklicherweise: Der bei solchem Stoff und solchen Macher*innen wohl
       naheliegendste Fehler unterläuft der seit über 30 Jahren existierende
       Theaterkompanie nicht: Ja, in dem Stück geht es um Behinderung; auch, aber
       nicht nur. Die Beteiligten sind Expert:innen in eigener Sache, aber sie
       bleiben Schauspieler:innen in einem klugen, erfreulich selten
       didaktischen Stück, das immer wieder auch famos komisch ist. Und uns, den
       ach so Normalen, sogar eine scheckige Form von Hoffnung stiften kann.
       
       Denn der zur Beute gewordene Jäger aus dem Titel, das ist der Mensch,
       dereinst überrundet von der künstlichen, der Intelligenz der Maschinen.
       Werden die uns versklaven? So behandeln, wie wir mit Hühnern und Truthähnen
       umgehen? Oder eher so, wie wir es mit „Behinderten“ tun? Da haben Sarah und
       Scott und Simon, Simon Maurice Laherty, der Dritte auf der Bühne, uns etwas
       voraus: „Ihr werdet nie mithalten können. Ganz egal, wie sehr ihr euch
       anstrengt.“ Was am Ende auf irritierende Weise beruhigend ist.
       
       14 Aug 2022
       
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