# taz.de -- JR in der Kunsthalle München: Mensch, schaut uns in die Augen
       
       > JR ist ein Bote seiner Zeit und mehr Banksy als Basquiat. Der
       > Street-Art-Künstler schafft es sogar in die großen Kunsthallen wie jetzt
       > in München.
       
 (IMG) Bild: Der Blick der Pariser Banlieue: „28 millimètres. Portrait d'une génération“ von JR, 2004
       
       Die Banlieue, die Bannmeile, die sich wie ein Gürtel um den noblen
       Stadtkern von Paris legt, ist ein düsterer Ort. Wohntürme schrauben sich in
       den Himmel. 2005 war sie Schauplatz der schlimmsten Krawalle in Europa:
       Waschmaschinen wurden aus Fenstern auf Polizisten geworfen, Autos gingen in
       Flammen auf, Jugendliche trafen sich mit Schusswaffen, Fahrradketten und
       Küchenmessern zu organisierten Keilereien.
       
       Wenn es hoch herging in der Banlieue, so berichtete ein französischer
       Polizist der Autorin dieses Texts damals, wurden die Wohnviertel nur noch
       von außen abgeriegelt, damit der Ärger nicht in die Stadt schwappte. Man
       überließ das Chaos und die Gewalt im Inneren sich selbst.
       
       Das ist die Welt, aus der der 1983 geborene Street-Art-Künstler JR kommt.
       Sein Akronym JR steht für Jean-René – oder für „Juste ridicul“ („einfach
       lächerlich“). Als Teenager mitten im brodelnden Dampfkessel von Montfermeil
       beginnt JR mit seinen reduzierten Graffiti: Er kombiniert Tags, also
       Signatur-Schriftzüge, mit aufgeklebten Fotografien.
       
       Ihm hat die Hypokunsthalle in München nun – nach New York, Paris, London –
       eine große Einzelschau gewidmet. „JR: CHRONICLES“ ist die eindrucksvolle
       Ausstellung überschrieben. Die Hängung ist düster und drückend. JRs
       übergroße, oft fratzenhaft verzogene Porträts überwachen die Besucher.
       Zitate illustrieren sein Kunstverständnis: JR will nicht die Welt verändern
       – aber die Wahrnehmung der Welt.
       
       ## Dort, wo der gesellschaftliche Unfall passiert
       
       Klar wird das auf den ersten Metern: JR ist Augenzeuge – einer, der sich
       aktiv dahin begibt, wo unter Billigung von Autoritäten ein
       gesellschaftlicher Unfall passiert, und wo das routinierte Wegblicken
       gleichzeitig zur Gewohnheit und zum Kollektivverbrechen wird. Er reist in
       die Favelas, nach Israel, an den Zaun, der die USA vor Einwanderern
       schützen soll.
       
       Schon der junge JR sorgt dafür, dass seine Lebenswelt sichtbar wird, dass
       [1][die Gesichter der Banlieue das Pariser Stadtbild] erobern, dass ihre
       Geschichten eben doch in die Stadt schwappen. Großformatige Fotografien
       seiner Freunde hängt er in die Champs-Élysées und versieht sie mit
       gesprayten Rahmen. Wenn die Staatsmacht die Bilder herunterreißen lässt,
       bleibt so zumindest eine Leerstelle – die über Tage Menschen zeigt, dass
       hier etwas nicht gesehen werden sollte.
       
       2006 erlangt er internationale Bekanntheit mit einem Mural: „Portrait of a
       Generation“. Krawall-Jugendliche aus Montfermeil kopiert er neben andere
       Figuren der Kommune: Feuerwehr, Helfer, den Bürgermeister sogar. Inspiriert
       hätten ihn die Murales von Diego Rivera, sagt er – und trifft damit eher
       eine politische als eine künstlerische Aussage: Die Tafelbilder des
       überzeugten Kommunisten Rivera brachten das einfache Volk mit den Mitteln
       der Kunst in die Räume der Bourgeoisie. Sie erhoben die, denen die
       Gesellschaft kaum eine Existenzberechtigung zubilligen wollte, über den
       Umweg der Kunst zum Wandschmuck – und ironischerweise zum Statussymbol.
       
       Seine Nachbarschaft wird JR schnell zu eng. Im israelischen Grenzgebiet
       kombiniert er wandhohe Porträts von Isralis und Palästinensern. Die
       übereinander montierten Gesichter wohnen auf verschiedenen Seiten der
       Grenze, haben aber denselben Job: Friseur, Taxifahrer, Bäcker. Und keiner
       der Betrachter dies- oder jenseits des Grenzzauns kann zwischen Gegner und
       Bruder unterscheiden. JR porträtiert Frauen in den Slums von Nairobi. Er
       lässt ein Kindergesicht über den mexikanischen Grenzzaun linsen.
       
       ## Die Wohntürme von Montfermeil
       
       Als vor zehn Jahren in Montfermeil Wohntürme abgebrochen werden, tapeziert
       er mit seinem Team riesige Porträts seiner Kindheitsfreunde in die Räume –
       sodass die Bagger, Hieb um Hieb, die Vergangenheit enthüllen.
       
       Und in München rollt er auf dem Odeonsplatz eine 45 Quadratmeter große
       Plane mit dem Gesicht des ukrainischen Kindes Valeriia auf – so, wie er es
       schon Mitte März in Lwiw getan hatte, um russischen Kampfbombern zu zeigen,
       [2][auf wen sie ihre Geschosse donnern].
       
       Auch die Kamera, mit der JR die ersten Fotos geschossen haben will, hat es
       in eine Vitrine geschafft. Der Künstler hat sie in der Pariser Metro
       gefunden, sagt er. Technisch versiert war er damals nicht, aber der Blitz
       ermöglichte ihm spontane Nachtaufnahmen mit krassen Kontrasten – die er zu
       seinem visuellen wie inhaltlichen Statement macht.
       
       Unverwechselbar – und damit breit verkäuflich – werden seine Arbeiten durch
       sein starkes Plotting und die Konsistenz seiner Erzählung, die sich in der
       Geschichte mit der Kamera schon andeutet und durch seinen Auftritt zieht.
       
       JR verbirgt nicht nur seinen Namen, sondern auch seine Augen. Er inszeniert
       seine Halb-Anonymität und Halb-Legalität mit Hut und Sonnenbrille – und
       wird so zum perfekten Epitome eines Underground-Künstlers, der es
       eigentlich längst geschafft hat. JR ist mehr Banksy als [3][Basquiat]. Aber
       macht der Erfolg, vielleicht Hype, seine Arbeiten weniger packend?
       
       JR ist mit 39 Jahren ein perfekter Bote seiner Zeit. Er nutzt
       allgegenwärtige Medien – Film und Fotografie – und hinterlegt sie mit einer
       Idee, die so stark und plakativ ist, dass man sich der emotionalen
       Strahlkraft nicht entziehen kann.
       
       30 Aug 2022
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Stadtsoziologie-von-Henri-Lefebvre/!5783043
 (DIR) [2] /Angriffe-auf-Zivilbevoelkerung/!5865542
 (DIR) [3] /Afro-amerikanische-Kunst-in-London/!5452032
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Johanna Schmeller
       
       ## TAGS
       
 (DIR) zeitgenössische Kunst
 (DIR) Streetart
 (DIR) Banlieue
 (DIR) Ausstellung
 (DIR) München
 (DIR) Street Art
 (DIR) Musik
 (DIR) Bildende Kunst
 (DIR) Präsident Trump
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Wirbel um Künstler-Enigma Banksy: Street-Art von der Straße geklaut
       
       Ein Stoppschild elektrisiert Großbritannien. Es wurde vom mysteriösen
       Künstler Banksy verziert, aber schnell abmontiert. Scotland Yard ermittelt.
       
 (DIR) Rap in Deutschland und Frankreich: Gefühle aus Frankreich
       
       Deutschsprachiger Rap ist ohne Einflüsse aus dem Nachbarland gar nicht
       denkbar. Zeit für eine vorläufige Bilanz.
       
 (DIR) Graffiti-Festival in Benin: Wo Amazonen und Ufos landen
       
       Der Kunst des Graffiti gelten in afrikanischen Ländern vermehrt Festivals.
       In Benin laufen die Bilder über 660 Meter einer Hafenmauer.
       
 (DIR) Trumps Notstandserklärung: Klagewelle rollt an
       
       Um die Grenzmauer zu finanzieren, hat der US-Präsident den nationalen
       Notstand ausgerufen. Dagegen artikuliert sich breiter Widerstand.