# taz.de -- Der Hausbesuch: Er gibt nicht auf
       
       > Torsten Kirschke will mehr Inklusion für Menschen mit
       > Lernschwierigkeiten. Er reist zu Demos, engagiert sich gegen rechts. Und
       > er will in den Bundestag.
       
 (IMG) Bild: Stets engagiert: Torsten Kirschke in Berlin
       
       Was Torsten Kirschke am stärksten spürt: Dass er nicht wie die meisten
       anderen behandelt wird. Dabei strengt er sich sehr an.
       
       Draußen: Sozialer Wohnungsbau und Szenekneipen prägen das Straßenbild. Der
       Wedding kommt, heißt es in Berlin immer wieder. An der Ecke, wo Kirschke
       wohnt, mag das stimmen. Spätis, Dönerläden, Geschäfte und Bars reihen sich
       aneinander, Hipster fallen nicht auf. Trotzdem: Kirschke will weg. „Mir ist
       es hier zu dreckig, überall werden Drogen verkauft.“ Es zieht ihn in den
       Prenzlauer Berg, wo er aufgewachsen ist. „Aber das wird bestimmt nichts,
       ist ja alles so schickimicki und teuer da.“
       
       Drinnen: Hinter der Wohnungstür ist der Wohn- und Essbereich, vieles hier
       zeugt von Kirschkes politischem Engagement: Ein Poster vom jüngst
       verstorbenen Grünen-Politiker [1][Hans-Christian Ströbele] mit dem Slogan
       „Entwaffnet die Finanzmärkte“ hängt an der Wand. Seine Zimmertür ist
       übersät mit Aufklebern: FCK AfD, Gegen Nazis, Refugees Welcome, Antifa. Auf
       dem Couchtisch stehen eine Flasche Cola und eine Tiefkühlpizza frisch aus
       dem Ofen, Thunfisch. Kirschke isst oft Fertiggerichte, weil er immer auf
       dem Sprung ist. Auch jetzt ist sein Zeitfenster begrenzt; am Abend ist noch
       eine Kundgebung geplant.
       
       Nebenan: Aus dem Nebenzimmer ertönen laute Stimmen. Dort spricht eine
       Mitarbeiterin der Lebenshilfe mit Klient:innen; es ist ihr Büro. Er klopft
       an die Tür, fragt, ob das etwas leiser ginge, bitte? Weil er kognitiv
       beeinträchtigt ist, lebt er in einer betreuten Wohngemeinschaft. Das Büro
       in der Wohnung ist jeden Tag von 12 bis 18 Uhr von einer Betreuer:in
       besetzt. Unterstützung braucht er selten, aber dass jemand da ist, auch
       einfach zum Quatschen, findet er gut.
       
       Familie: Torsten Kirschke ist 1982 geboren, in der DDR. Er wächst als
       Jüngster mit vier Brüdern und einer Schwester auf. „Ich war das
       Nesthäkchen, dem alles in den Hintern gesteckt wurde, das würden zumindest
       meine Brüder sagen.“ Seine Eltern lernten sich bei der Post kennen. Um sich
       um die Kinder zu kümmern, bleibt die Mutter zu Hause. Der Vater arbeitet
       bis zur Rente bei der Post. „Er war keinen Tag krank.“
       
       Sein Weg: Als Torsten fünf Jahre alt ist, kommen er und seine Geschwister
       für eine Zeit ins Kinderheim Makarenko in Schöneweide, die Eltern seien
       überfordert, meint das Jugendamt. „Da hat man mir den Mund zugeklebt“,
       erzählt er. Über diese Zeit redet er nicht gerne. Mehrfach lief er weg.
       
       Zum Glück durften die Kinder bald wieder zurück zu den Eltern. Torsten
       besucht eine Schule für geistig- und lernbehinderte Kinder, zieht in eine
       betreute WG in Lankwitz, später lebt er alleine in einer Wohnung in
       Friedrichshain. Seit sechs Jahren wohnt er jetzt im Wedding. Früher fühlte
       er sich manchmal allein und wünschte sich mehr Ansprache; jetzt sehnt er
       sich wieder nach Ruhe und nach den eigenen vier Wänden.
       
       Auf eigenen Beinen: Torsten Kirschke ist sich sicher, dass er es alleine
       schaffen würde in einer eigenen Wohnung. Er ist viel unterwegs, mit dem Zug
       reist er durch Deutschland zu Veranstaltungen, Hilfe holt er sich
       vielleicht mal für Behördengänge. „Kommt Zeit, kommt Rat“, sagt er, und:
       „Probieren geht über Studieren.“ Er liebt Sprichwörter und Redensarten.
       „Ich versuche eben alles so lange, bis es funktioniert. Und falls nicht,
       habe ich ja eine große Familie.“ Einfach wird die Wohnungssuche nicht,
       glaubt er. „Es muss zentral sein, ich will nicht ewig zur Bahn laufen.“
       
       Politisches Erwachen: Kirschke engagiert sich politisch. Nicht nur, aber
       auch, weil er sich benachteiligt fühlt. In seinen Zwanzigern besuchte er
       Veranstaltungen verschiedener politischer Parteien. Als er bei den Grünen
       Joschka Fischer kennenlernte, machte es klick. Der Mann beeindruckte ihn,
       die Ideale der Partei überzeugen ihn. Er wird Mitglied der Öko-Partei. Wenn
       es um Politik geht, redet er sich richtig in Rage. Seine Standpunkte macht
       er problemlos klar, wiederholt sich dabei öfters, weil ihm die Themen
       wichtig sind, vor allem Sozialpolitik und Inklusion.
       
       Enttäuschung: Seine Partei rühme sich stets, Inklusionspartei zu sein, sagt
       Kirschke, doch es passiere nichts. Er wünscht sich, dass Menschen wie er
       endlich mehr Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt haben. Er würde gerne
       arbeiten, kassiert aber eine Absage nach der anderen, erzählt er, selbst
       für Hilfsarbeiten im Lager wird er abgelehnt.
       
       Immerhin, ein Praktikum bei der Grünen-Bundestagsabgeordneten Canan Bayram
       konnte er machen und war begeistert. Mehr ergab sich aber nicht daraus.
       „Die Strukturen fehlen einfach überall. Und die Unternehmen wollen sie auch
       gar nicht schaffen, weil ihnen das zu teuer ist. Lieber kaufen sie sich
       frei.“ Das zu ändern, wäre Sache der Politik. „Aber da fehlt das Interesse,
       weil wir keine Lobby haben.“
       
       Klare Kante: [2][Werkstätten], wo Menschen mit Behinderung arbeiten, lehnt
       er nicht per se ab, fordert aber eine Lohnreform. Das Entgeltsystem müsse
       komplett überdacht werden. „Wir sind doch keine Dumping-Arbeitskräfte, die
       die Wirtschaft ausbeuten kann, so wie es ihr gefällt.“ Das wäre alles
       anders, wenn es Menschen wie ihn im Bundestag geben würde oder sie
       wenigstens Gehör fänden, ist Kirschke überzeugt. Tatsächlich sind Menschen
       mit Behinderung im Deutschen Bundestag mit 3,2 Prozent deutlich
       unterrepräsentiert – gegenüber den 9,5 Prozent in der Gesamtgesellschaft.
       „Inklusion heißt für mich auch im Bundestag“, sagt Kirschke.
       
       Ein Listenplatz: Bei der vergangenen Bundestagswahl versucht er es; von
       seiner Partei lässt er sich in Berlin für einen Listenplatz aufstellen. Es
       ist das erste Mal, dass jemand mit Lernschwierigkeiten auf einer Liste
       auftaucht. Sein Listenplatz ist die 16, nur die Berliner Bewerber:innen
       bis Platz 4 ziehen in den Bundestag ein.
       
       „Da war ich schon sehr enttäuscht, irgendwie hatte ich ein bisschen
       Hoffnung, dass es klappt.“ Worüber er sich besonders ärgert: Es habe kein
       Wahlprogramm in leichter Sprache gegeben, zumindest nicht auf Papier, nur
       im Netz, aber nicht jeder könne mit dem PC umgehen. „Das hat wieder
       gezeigt, dass sich die Leute in der Partei um uns keine Gedanken machen.“
       
       Kandidatur: Beim Bundesparteitag der Grünen werden Annalena Baerbock und
       Robert Habeck als Vorsitzende verabschiedet, eine neue Parteispitze wird
       gewählt. Spontan entscheidet sich Torsten Kirschke zu kandidieren, er wird
       digital zugeschaltet. „Ich möchte kandidieren, um zu zeigen, dass Menschen
       mit Behinderung genauso in den Bundesvorstand können wie normale Menschen“,
       beginnt er seine Vorstellungsrede, die er ad hoc immer noch aufsagen kann.
       
       Er bemängelt, was seines Erachtens im Bundestagswahlkampf schiefgelaufen
       ist. „Es ist wichtig zu zeigen, dass wir kein Klotz am Bein sind und dass
       wir politisch mithalten können und wollen.“ Mit seiner Kandidatur wolle er
       gegen Diskriminierung und Benachteiligung eintreten, sagt er, und für mehr
       Inklusion. „Wir sind Menschen erster Klasse.“ Souverän beantwortet er die
       Fragen der Delegierten. Gewählt wird er nicht. „Damit habe ich natürlich
       auch nicht gerechnet. Aber es war eine tolle Chance, meine Themen mal vor
       einem so großen Publikum vorbringen zu können.“
       
       Diskriminierung: Schon seit Jahren reist Torsten Kirschke von einer Demo
       zur nächsten, engagiert sich gegen Rechtsextremismus. Inzwischen hat er
       einen Presseausweis und betreibt engmaschig Demobeobachtung, er filmt, vor
       allem, wenn es zu Verstößen der Polizei kommt. Unter dem Namen
       [3][Demokratie Frei Haus] twittert er, hat fast 1.000 Follower:innen.
       Gerade erst kommt er von einer Gerichtsverhandlung, bei der es um eine
       Beleidigung auf einer Kundgebung ging.
       
       Er selbst werde häufig Opfer von Diskriminierung, sagt er, von Nazis, aber
       auch von der Berliner Polizei. „Da werde ich teilweise umkreist und die
       machen eine La-Ola-Welle um mich rum, mein voller Name wird bei
       Querdenker-Demos gerufen. Das ist gefährlich.“ Sein Name tauche auch immer
       wieder in Telegram-Kanälen auf, sagt er. Wenn er das Gefühl hat, ungerecht
       behandelt zu werden, fackelt er nicht lange. „Ich bringe dann sofort ein
       Strafverfahren auf den Weg.“
       
       Hummeln im Hintern: Torsten Kirschke packt den Rest der Pizza in eine
       Tupperdose und entschuldigt sich, er muss wieder los. Um 17 Uhr ist eine
       Kundgebung gegen Rechtsextremismus, vorher trifft er sich noch mit einigen
       Aktivist:innen. „Ich bin ein Hans Dampf in allen Gassen. Meine Mutter hat
       schon immer gesagt, ich hätte Hummeln im Hintern. Zu Hause rumsitzen kann
       ich nicht, das ist mir zu blöd.“ Von seiner Partei ist er gerade wieder
       enttäuscht. Er war beim Bundesparteitag in Bonn, auf Inklusionspolitik sei
       dort nicht eingegangen worden. Er hofft trotzdem, dass sich bald etwas
       bewegt. „Ich werde nicht aufgeben; es können doch nicht nur
       Professor:innen im Bundestag sitzen.“
       
       12 Feb 2023
       
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