# taz.de -- Glaube und Protest in Iran: Der Aufstand als politischer Exodus
       
       > Die Aufstände in Iran sind nicht so überraschend, wie viele glauben. Ein
       > System, das die Sittenpolizei braucht, ist schon lange nicht mehr
       > akzeptiert.
       
 (IMG) Bild: Im Einsatz gegen die Opposition: Basidsch-Milizionäre in einem offiziellen Foto des Mullah-Staates
       
       Aus hiesiger Perspektive finden die Ereignisse im Iran in weiter Ferne
       statt: in einer geografischen, politischen und kulturellen Ferne. Dies
       macht die massenhaften Proteste, die trotz grausamer Gegenmaßnahmen seit
       zwei Monaten immer wieder aufflammen, ebenso unerwartet wie unglaublich.
       
       Wie kommt es, dass eine Gesellschaft derart aufbegehrt, weiter und weiter,
       auch wenn die Staatsgewalt brutal dagegen vorgeht? Woher nehmen die
       Menschen den Mut, sich gegen die staatliche Einschränkung ihres Lebens
       aufzulehnen? [1][Woher nehmen insbesondere die Frauen den Mut, aus dem
       Gefängnis des Kopftuchs auszubrechen – auch wenn sie dabei ihr Leben
       riskieren?]
       
       Viele Einzelne. Die sich dann zu einer Masse verdichten – in die wahllos
       geschossen wird. Und die dennoch weitermacht. Sich wieder trifft. Wieder
       versammelt. Eine Masse, die die Einzelnen auffängt – auch wenn sie sie
       nicht schützen kann.
       
       Die Nachrichten, die uns erreichen, die Videos, die Mitteilungen von
       Aktivisten, die Gespräche mit Betroffenen zeigen beides: eine begreifliche
       Angst ebenso wie einen unbegreiflichen Mut. Die unglaublichen Zustände vor
       Ort lassen sich dabei nur erahnen.
       
       ## Abstraktes Wissen
       
       Man wusste: Seit der iranischen Revolution 1979 gibt es die islamische
       Republik. Das sogenannte Mullahregime. Aber für das europäische Publikum
       war das ein abstraktes Wissen. Was das für die Leute vor Ort, vor allem für
       die Frauen, bedeutete, blieb in unbestimmter Ferne. Die Frauen, die jetzt
       ihre Verhüllung abwerfen, werden plötzlich sichtbar: physisch und
       metaphorisch.
       
       Mit ihrer neuen Sichtbarkeit lüften sie auch den Nebel um dieses Regime und
       machen einiges von der Realität dieser Herrschaft augenscheinlich.
       Insbesondere ein Konzept, eine Institution wird auf den wackeligen Videos
       deutlich erkennbar: [2][die sogenannte Sittenpolizei.]
       
       Was ist das für eine Institution, die ihren Widerspruch schon in ihrer
       Bezeichnung trägt? Sitte ist das Verhalten, das durch Tradition
       selbstverständlich wird. Sitten sind das, was den Einzelnen mit der
       Gesellschaft verbindet. In einer Theokratie, wo politische und religiöse
       Herrschaft zusammenfallen, sind die Sitten durch die Religion bestimmt.
       
       Warum braucht der Glaube, warum brauchen Sitten eine Polizei? Wie schwach
       muss der Glauben sein, wie wenig müssen die Sitten greifen, wenn es einer
       Polizei bedarf, um diese durchzusetzen? Das, was diese dann durchsetzt,
       sind dann aber keine geglaubten Sitten mehr, sondern äußerliche
       Vorschriften. Die Leute fühlen sich nicht mehr verpflichtet, sie werden
       gezwungen.
       
       ## Jede Abweichung sanktionieren
       
       Die Grundlage des Mullahregimes musste schon lange gebröckelt haben, wenn
       es 2005 eine solche islamische Religionspolizei installieren musste, um die
       Einhaltung der islamischen Gesetze im Lebensstil durchzusetzen. Deshalb
       muss jede Lockerung der Sitten abgewehrt werden, denn sie stellt eine
       direkte Bedrohung des Regimes dar. Sodass sich eine eigene Polizei, die
       jede Abweichung penibelst misst, um den korrekten Sitz der Kopftücher
       kümmert. In aller Brutalität.
       
       Wenn aber in einer Theokratie Sittenstrenge und Glauben abnehmen, dann
       bedeutet das ein Auseinanderdriften von Gesellschaft und Macht. Wie viel
       Distanz, wie viel Unzufriedenheit, Unglück, Wut musste sich aufgestaut
       haben, damit der gewaltsame Tod der jungen Kurdin Jina Amini zum Auslöser
       solch eines Aufstands werden konnte.
       
       Dieser Aufstand ist ein politischer Exodus der Menschen aus diesem Staat –
       der sich damit immer mehr auf eine tyrannische Herrschaftsclique reduziert.
       Deren grausame Reaktionen auf diesen Aufbruch, auf diese Verweigerung der
       Gefolgschaft zeigen eines: Ein religiöses Regime, das auf Glauben basiert,
       untergräbt seine eigene Grundlage, wenn es nur durch rohe Staatsgewalt
       überlebt.
       
       Denn wenn ein solches Regime brutale Moralpolizei braucht, um sich zu
       erhalten, dann verrät es, so Slavoj Žižek, „die authentische religiöse
       Erfahrung“, mit der es sich legitimiert. Genau das machen die mutigen
       Frauen – und Männer – sichtbar.
       
       1 Dec 2022
       
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