# taz.de -- Verschärftes Jugendstrafrecht in Polen: Piotr, Adam und der Justizminister
       
       > Polens Regierung jagt mit neuen Strafrechtsverschärfungen vielen Eltern
       > Angst um ihre Kinder ein. Beobachtungen in einem Kiosk in Warschau.
       
 (IMG) Bild: Justizminister Ziobro (re.), hier mit dem Chef der Gefängnisse in Polen, hat das Strafrecht verschärft
       
       WARSCHAU taz | [1][“Härtere Strafen für Verbrecher!“] – als Wahlkampfslogan
       war das im demokratischen Polen fast schon ein Garant für die Wiederwahl
       eines [2][Justizministers]. Denn nach der Überwindung des kommunistischen
       Polizeistaates 1989, der auch noch die Todesstrafe kannte, erschien vielen
       Polen das neue Strafgesetzbuch viel zu lax.
       
       Doch an der Stellschraube lässt sich nicht endlos drehen. Nachdem jetzt
       Justizminister Zbigniew Ziobro das Strafrecht noch einmal verschärft hat
       und so selbst 14-Jährige nicht mehr unter das Jugendstrafrecht fallen und
       mit bis zu 40 Jahren Gefängnis bestraft werden können, ist in Warschau die
       Stimmung gekippt. Am meisten Angst haben Eltern um ihre Kinder.
       
       Piotr und sein Vater Adam – beide heißen in Wirklichkeit anders – kommen
       oft in den Kiosk an der Warschauer Metrostation Pole Mokotowskie, in dem
       auch die taz-Korrespondentin regelmäßig ihre Zeitungen kauft.
       
       Der zehnjährige Viertklässler liebt den Stand mit Comics und Spielsachen.
       Er stürzt sofort darauf zu, während sein Vater einige Waffenmagazine
       durchblättert. Seit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine
       interessiert er sich für Waffen aller Art. Piotr zupft an seiner Jacke. Der
       Junge hat schon etwas gefunden – ein WM-Fußball-Sammelalbum mit einigen
       Tütchen Bildern. Adam dreht sich um, sieht den Preis – umgerechnet über 12
       Euro – und schüttelt den Kopf: „Zu teuer!“ bescheidet er seinem Sohn. „Such
       dir was anderes aus!“
       
       ## In 60 Sekunden macht sich fast der ganze Kiosk strafbar
       
       Piotr mault ein bisschen, aber der Vater bleibt unerbittlich. Als er zahlen
       will, reicht ihm Piotr ein Billig-Comic, dreht sich aber schon Richtung
       Ausgang. Doch die Kioskfrau hat in den Spiegel an der Decke geschaut, läuft
       Piotr hinterher und zieht das Fußball-Sammelalbum unter seinem roten Anorak
       hervor. „Hab ich es doch gewusst! Du bist ein Dieb!“, ruft sie und zückt
       bereits das Handy: „Ich rufe jetzt die Polizei!“
       
       Dann schließt sie die Kiosktür zu und ruft zwei weiteren Kunden zu: „Sie
       sind Zeugen!“ Adam ist entsetzt: „Tun Sie das nicht! Bitte! Ich zahle das
       Heft auch. Wenn Sie wollen, auch den doppelten Preis. Aber zeigen Sie
       meinen Sohn nicht an. Er kommt dann ins Heim, wer weiß, vielleicht sogar in
       den Knast.“
       
       Der Zwei-Meter-Mann ist verzweifelt, legt alles Geld auf die Theke, das er
       im Portemonnaie hat. „Bitte tun Sie das nicht! Sie ruinieren unsere ganze
       Familie!“ Dann schreit er Piotr an: „Komm sofort hierher. Entschuldige
       Dich! Wie kannst Du nur so etwas tun? Du bringst uns alle ins Gefängnis!“
       
       Der Junge ist wachsbleich im Gesicht, geht langsam auf seinen Vater und die
       Kioskbesitzerin zu, druckst kaum hörbar heraus: „Das wollte ich nicht!“ Ein
       älterer Mann, der seinen Lottoschein am Tisch in der Mitte des Kiosks
       ausfüllt, richtet sich auf und sagt in scharfem Ton: „Sie machen sich hier
       gerade alle schuldig. Der Junge ist ein Dieb.“ Dann deutet er auf den
       Vater: „Sie versuchen Strafvereitelung zu begehen und bestechen zu diesem
       Zweck die Kioskfrau. Das kann Sie drei bis fünf Jahre Gefängnis kosten.“
       
       Dann deutet er auf die Kioskfrau: „Und Sie denken anscheinend darüber nach,
       die Bestechung anzunehmen und die Polizei nicht anzurufen. Das kann Sie
       nach dem neuen Strafgesetzbuch bis zu zehn Jahre Haft kosten. Dazu kommt
       noch Geiselnahme. Denn Sie haben diese Dame hier und mich im Kiosk
       eingeschlossen. Das sind noch mal mindestens zehn Jahre!“
       
       Die alte Dame in langem Mantel und dunkelgrünem Hut mischt sich ein: „Jetzt
       aber mal halblang! Hier geht gar niemand ins Gefängnis. Ich erinnere mich
       noch gut an den Kommunismus. Da hatten wir auch ständig Angst vor Polizei
       und Gefängnis.“ Sie geht an den hohen Tisch in der Mitte des Kiosks, nimmt
       einen Stift und schreibt etwas auf einen Zettel. „Hier“, sagt sie und
       wendet sich an den Vater: „Das ist die Adresse der ukrainischen Schule hier
       im Viertel. Da gehen Sie jetzt mit Ihrem Sohn hin und geben das Album der
       Schuldirektorin als Spende.“
       
       Dann nickt sie der Kioskbesitzerin freundlich zu: „Jetzt schließen Sie hier
       wieder auf, und dann ist alles gut.“
       
       10 Dec 2022
       
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