# taz.de -- Hannah Kaviani über den Aufstand in Iran: „Es gibt kein Zurück mehr“
       
       > Die Hinrichtungen von Protestierenden haben ihre Wirkung verfehlt, sagt
       > die Journalistin Kaviani. Selbst Religionsgelehrte stellten das Vorgehen
       > infrage.
       
 (IMG) Bild: Mittelfinger für das Regime: Schulmädchen in Teheran in einer Aufnahme von Anfang Oktober
       
       taz: Frau Kaviani, anders als bei früheren Aufständen im Iran halten
       [1][die aktuellen Proteste seit mehr als drei Monaten] an. Was ist Ihre
       Zwischenbilanz? 
       
       Hannah Kaviani: Was wir aktuell beobachten, hat es so in den letzten vier
       Jahrzehnten nicht gegeben. Die Sicht der Gesellschaft auf die Islamische
       Republik ist erschüttert worden. Es gibt kein Zurück mehr. Gleichzeitig hat
       die Niederschlagung der Proteste zugenommen, so dass die Protestformen eine
       neue Gestalt angenommen haben. Die Verhaftung von bis zu 17.000
       Demonstrierenden, 400 oder mehr Getötete und zwei Hinrichtungen, all das
       hat Einfluss auf die Intensität und die Form des Protests.
       
       Inwiefern? 
       
       Von dem, was ich mitbekomme, würde ich sagen: Die Straßenproteste haben im
       Vergleich zu den ersten Wochen abgenommen. Nur die Proteste an den
       Universitäten haben trotz der Niederschlagung zugenommen. Aber dennoch: Der
       Protest hält an, in Form von Slogans an Hauswänden, Bannern über Straßen
       und Streiks. Immer mehr Frauen gehen ohne Kopftuch auf die Straße. Dieser
       Wandel der Protestformen erklärt auch, warum es bei früheren Protesten mehr
       Tote gab. 2019 hatten wir Hunderte, einigen Zählungen zufolge mehr als
       1.000 Tote, in nur zehn Tagen.
       
       Hatten die [2][zwei Hinrichtungen] [3][im Dezember] einen Einfluss auf die
       Bewegung? 
       
       Die Hinrichtungen sind eine Tragödie, waren aber erwartbar. Die schnelle
       Vollstreckung der Urteile, während die Proteste noch anhalten, zeigt, dass
       das Regime Angst verbreiten will. Interessant ist die Reaktion der
       iranischen Gesellschaft sowie der internationalen Gemeinschaft.
       Hinrichtungen sind in der Geschichte der Islamischen Republik ja nichts
       Neues. Als in den 80er Jahren Tausende unter konstruierten Anschuldigungen
       hingerichtet wurden, habe ich, die ich im Land lebte, erst Jahre später
       davon erfahren. Heute, in Zeiten der modernen Kommunikationstechnologie,
       ist die Reaktion direkter und stärker, weshalb momentan auch die
       Todesstrafe für einen weiteren Demonstranten, Mahan Sedarat, hinausgezögert
       wird.
       
       Sie rechnen zunächst nicht mit weiteren Hinrichtungen? 
       
       Gut möglich, dass weitere Protestierende hingerichtet werden, viele wurden
       ja bereits zum Tode verurteilt. Aber die Reaktionen der internationalen
       Gemeinschaft sowie von Leuten, die teilweise Teil des Systems sind, machen
       das Ganze interessant. Die Hinrichtungen sind ein Instrument der
       Islamischen Republik, das sich aktuell gegen sie selbst richtet.
       
       Von welchem Teil des Systems sprechen Sie? 
       
       Die Hinrichtungen haben die Meinungsunterschiede unter den religiösen
       Gelehrten an den Universitäten verstärkt. Einige fragen jetzt: Wo war der
       ordentliche Prozess? Wo waren die unabhängigen Anwälte? Diese Debatten
       stellen eine Herausforderung für die Islamische Republik dar. Nehmen wir
       als Beispiel den Straftatbestand moharebeh, also Gegnerschaft zu Gott. Die
       Definition dieses Tatbestands ist sehr unklar. Einige Gelehrte vertreten
       durchaus die Meinung, dass die hingerichteten Protestierenden nicht Gegner
       Gottes waren, sondern Gegner des Staates.
       
       Wer zum Beispiel? 
       
       Ein sehr prominenter Geistlicher, der sich zu Wort meldete, ist Ajatollah
       Morteza Moghtadai, ehemaliger Leiter des Obersten Gerichtshofs und
       offensichtlich kein Mensch, der wie du und ich denkt. Er führt religiöse
       Argumente an, dass eine Person, selbst wenn sie moharebeh begeht, nicht
       hingerichtet werden sollte. Auch andere, weniger prominente Geistliche und
       Religionsgelehrte haben die Hinrichtungen infrage gestellt. An einigen
       Universitäten gab es Debatten zum Thema. Kürzlich gab ein Professor, der
       die Hinrichtungen kritisiert hatte, bekannt, dass er unter Druck gesetzt
       und möglicherweise von der Universität Teheran entlassen werde.
       
       Lässt sich sagen, dass der Widerspruch aus dem religiösen Establishment
       stärker wird? 
       
       Dafür habe ich keine Daten. Auch in der Vergangenheit hat es hochrangige
       Ajatollahs gegeben, die widersprochen haben. Hossein Ali Montazeri zum
       Beispiel, der einst Nachfolger Chomeinis werden sollte, hat sich in den
       80er Jahren sehr stark gegen die Massenhinrichtungen ausgesprochen. Er
       wurde unter Hausarrest gestellt und starb. Opposition aus Reihen der
       Gelehrten gab es von Tag eins der Islamischen Republik an. Aber mit
       Sicherheit lässt sich sagen, dass mehr solcher Stimmen zu vernehmen sein
       werden, wenn die grundlose Niederschlagung der Proteste und diese völlig
       verrückten Hinrichtungen anhalten sollten.
       
       Sie sprachen von den internationalen Reaktionen auf die Hinrichtungen. Wird
       im Iran registriert, was wir in Europa machen? 
       
       Was ich höre, ist, dass es für die Leute sehr wichtig ist, dass ihre
       Stimmen gehört werden. In Deutschland zum Beispiel übernehmen aktuell viele
       Parlamentarier Patenschaften für Inhaftierte im Iran. Das mag ein
       symbolischer Akt sein, aber in der Vergangenheit gab es unzählige Fälle,
       die diese Unterstützung gebraucht hätten.
       
       Was kann Europa jenseits von Symbolik tun? 
       
       Wir sind im vierten Monat der Proteste und das kann noch lange so
       weitergehen. Das ist kein Thema, das in ein paar Wochen erledigt sein wird.
       Obwohl die Europäer mit dem Krieg in der Ukraine beschäftigt sind, haben
       sie sich mit den Iranern solidarisch gezeigt, indem sie die Niederschlagung
       der Proteste verurteilt und die Namen von Menschenrechtsverletzern auf die
       Sanktionsliste gesetzt haben. Aber was können sie noch tun? Einige fordern
       mehr Druck und weniger diplomatische Kontakte, andere argumentieren, dass
       das iranische Volk am meisten leiden wird, wenn der Kommunikationskanal
       wegfällt. Vor uns liegt eine sehr komplizierte Zeit, vor allem wenn man an
       das Atomabkommen und seine unklare Zukunft denkt.
       
       2 Jan 2023
       
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