# taz.de -- Kanzler in Albanien: Die EU widmet sich ihrem Hinterhof
       
       > Nach Jahren der Vernachlässigung kümmert sich die EU wieder um den
       > Westbalkan und reist zum Gipfel nach Albanien – denn auch Russland hat
       > Freunde hier.
       
 (IMG) Bild: Auftaktprogramm des EU-Westbalkan-Gipfels in Albanien am 6. Dezember
       
       Als Olaf Scholz am Dienstag in Tirana ankommt, ist Angela Merkel schon da.
       Ihr Konterfei säumt zusammen mit anderen „großen Europäer:innen“ die
       Straße, die zum Treffpunkt der EU mit den sechs Westbalkanstaaten in einem
       Hotel im Stadtzentrum führt. Der ehemalige tschechische Präsident Václav
       Havel und die ermordete schwedische Politikerin Anna Lindh sind darunter.
       Scholz nicht.
       
       Zum ersten Mal findet der gemeinsame Westbalkangipfel außerhalb der EU und
       tatsächlich auf dem Westbalkan statt, nämlich in Albanien. Hier legt man
       sich ordentlich ins Zeug. Statt grauer Dezemberkälte erwarten die Gäste in
       der Hauptstadt Tirana Sonne, laue Luft und zu ihrer Überraschung – Kultur.
       
       Albaniens [1][sozialistischer Ministerpräsident Edi Rama] hat für die
       Regierungschef:innen aus EU und den fünf anderen Westbalkanländern ein
       kleines Festival organisiert. Wohl um die erweiterungsmüden
       Europäer:innen in Stimmung zu bringen. Eine Volkstanzgruppe wiegt sich
       zu schmissigen Hirtenliedern, EU-Kommissionpräsidentin Ursula von der Leyen
       unternimmt gar den Versuch rhythmisch mitzuklatschen, auch Emmanuel Macron
       stimmt ein. Als Höhepunkt schlägt eine Mädchen-Breakdancegruppe in blauen
       EU-Overalls Salti. Scholz schaut und kratzt sich am Kopf.
       
       Doch die Botschaft ist angekommen: Wir wollen rein in eure EU. Und zwar
       schnell. Die sechs Westbalkanstaaten – Albanien, Bosnien und Herzegowina,
       Kosovo, Nord-Mazedonien, Montenegro und Serbien – befinden sich seit Jahren
       in unterschiedlichen Stadien des Wartens, wobei das Kosovo erst am Dienstag
       angekündigt hat,ebenfalls EU-Mitglied werden zu wollen. Dass der
       Beitrittsprozess stagniert, liegt zum einen an gewichtigen Playern in der
       EU [2][wie Frankreich], die weitere Erweiterungen skeptisch sehen. Aber
       auch an innenpolitischen Problemen.
       
       ## Vučić zum Jagen getragen
       
       Das ethnische geteilte Bosnien und Herzegowina ist formal ein
       internationales Protektorat, der Zentralstaat ist funktionsunfähig. Im
       ebenfalls ethnisch geteilten Montenegro löst eine politische Krise die
       andere ab, die [3][einzige Konstante ist das organisierte Verbrechen].
       
       Im Kosovo verhindern nur die dort stationierten internationalen
       KFOR-Truppen, dass es zu bewaffneten Auseinandersetzungen mit dem Nachbarn
       Serbien kommt. Das größte Westbalkanland Serbien ist eine Autokratie mit
       gleichgeschalteten Medien, verzankt mit allen Nachbarstaaten und verbrüdert
       mit Russland.
       
       Serbiens allmächtiger Staatspräsident Aleksandar Vučić wollte gar nicht
       nach Tirana kommen, und ließ sich erst einen Tag vorher auf sanften Druck
       der EU zur Anreise überreden. Daheim hatte er Vertreter der EU zuvor als
       „Heuchler“ bezeichnet, den Ministerpräsidenten des Kosovo Albin Kurti
       nannte er „terroristischen Abschaum“ und Deutschland warf er
       „antiserbische“ Politik vor.
       
       Die Unabhängigkeit des Kosovo erkennt Serbien nicht an, sondern betrachtet
       es als aufmüpfige Provinz. Im Unterschied zu den anderen Westbalkanländern
       trägt [4][Serbien die Sanktionen gegen Russland nicht mit].
       
       ## Geldversprechen zeigen Wirkung
       
       Russland wiederum versucht seinen Einfluss in der Region zu vergrößern.
       Genau das bringt die EU dazu, dem Westbalkan nach Jahren des Desinteresses
       wieder mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Ein weiteres Thema auf der
       Tagesordnung ist die Migration. Die EU möchte diese begrenzen, denn seit
       Jahresbeginn sind so viele Menschen über die Westbalkanroute in die EU
       gekommen wie zuletzt 2016.
       
       Die EU hatte also ein Interesse daran, dass der Westbalkangipfel mehr als
       eine reine Showveranstaltung wird. Und bietet etwas an. In einer
       gemeinsamen Abschlusserklärung wird festgehalten, dass die EU mit 3,5
       Milliarden Euro der Region dabei hilft, die hohen Energiepreise abzufedern.
       Bis zu 30 Milliarden Euro öffentliches und privates Kapital sollen als
       Investitionen in die Region und unter anderem in den Ausbau erneuerbarer
       Energien fließen. Das hatte man allerdings schon Anfang November so
       besprochen.
       
       Aber es scheint auch zu wirken. In der Abschlusserklärung, der sich sogar
       Serbiens Präsident Vucic anschloss, wird festgehalten, dass „der
       eskalierende Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine“ Frieden und
       Sicherheit in Europa und in der Welt gefährde und „Russland die alleinige
       Verantwortung für die derzeitige Energie- und Wirtschaftskrise trägt.“ Ein
       gemeinsames Bekenntnis zur Umsetzung der Sanktionen fehlt aber.
       
       Scholz macht auf der Abschlusspressekonferenz in Bezug auf Serbien denn
       auch klar: „Was die Frage der Sanktionen betrifft, haben wir einen
       Dissens“.
       
       ## „Migrantenschleusung“ und günstiger telefonieren
       
       Das [5][Migrationsmanagement] wird als gemeinsame Aufgabe bekräftigt,
       weitere 30 Millionen Euro an EU-Geldern sollen in die Bekämpfung der
       „Migrantenschleusung“ fließen. Zudem hat die EU mit den Telefonanbietern
       ein gemeinsames Roamingabkommen unterzeichnet. Und ja: Erneut bekräftigt
       die EU die gemeinsame Perspektive zum Beitritt. Jetzt aber
       unmissverständlich. Und noch schneller als bisher. Dafür erwarte man aber
       auch Reformen.
       
       EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen sprach bereits von „neuem
       Schwung“ im Beitrittsprozess und verwies auf die zunehmende Frequenz
       gemeinsamer Treffen. EU-Ratspräsident Charles Michel betonte, wie wichtig
       Fortschritte bei den Beitrittsbemühungen auch für die EU seien. „Ich bin
       absolut überzeugt, dass die Zukunft unserer Kinder mit dem Westbalkan in
       der EU sicherer und wohlhabender sein wird“, sagte der Belgier.
       
       Die Phrase „europäische Perspektive“ klingt für die Menschen in den
       Westbalkanländern nach all den Jahren des Wartens jedoch hohl und
       unglaubwürdig. [6][Das arme Nordmazedonien] ist ein Paradebeispiel, warum
       dieser Perspektive hier kaum noch jemand Glauben schenkt. Seit 2005 hat das
       Land den Status „Beitrittskandidat“, hat unglaubliche Verrenkung bis hin
       zur Änderung des eigenen Namens unternommen.
       
       Die eigentlichen Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien und Albanien
       begannen jedoch erst im Juli dieses Jahres. Daran hatte immerhin auch
       Scholz seinen Anteil. Im Frühling besuchte er das Land bereits zum zweiten
       Mal in diesem Jahr auf seiner Balkantour. Damals betonte Scholz, dass die
       EU einen Ruf zu verlieren habe, falls sie den Ländern nur Versprechen mache
       ohne Taten folgen zu lassen.
       
       ## Scholz, der große Europäer?
       
       Im November luden er und Außenministerin Annalena Baerbock die
       Westbalkanländer zum Treffen nach Berlin ein. Im Rahmen des [7][„Berliner
       Prozess“] – einst von Merkel gegründet – soll die Annäherung der
       Beitrittskandidaten untereinander und an die EU vorangehen. Der
       EU-Westbalkan-Gipfel in Tirana gilt auch als Testlauf für die Fortsetzung
       des Berliner Formats.
       
       Konkrete Schritte, wie denn der Beitrittsprozess beschleunigt werden kann,
       wurden zwar nicht vereinbart. Scholz war am Ende des Gipfels dennoch
       optimistisch: „Das war doch jetzt schon eine ganz neue Stimmung. Ich bin
       wirklich zuversichtlich, dass da jetzt eine alle erfassende neue Bewegung
       zustande gekommen ist.“, so der Kanzler.
       
       Falls es Scholz tatsächlich gelänge während seiner Amtszeit wenigstens
       eines dieser Länder in die EU zu holen, könnte er sich zurecht zu den
       „großen Europäern“ zählen. Aber das dauert sicher noch.
       
       6 Dec 2022
       
       ## LINKS
       
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