# taz.de -- Annie Ernaux' Familienleben im Film: Der heimlich geschriebene Roman
       
       > Familienaufnahmen geben in „Annie Ernaux – Die Super-8-Jahre“ Einblick in
       > das Leben einer Mutter. Die sondert sich ab und wird zur Autorin.
       
 (IMG) Bild: Annie Ernaux, mit ihren Söhnen im Urlaub
       
       Solche Bilder hat jeder in der Foto- oder Filmkiste: ein bei schlechtem
       Wetter und schlechtem Licht aufgenommenes Bergpanorama, das so wenig
       hermacht, dass es nur zu denjenigen spricht, die im Augenblick der Aufnahme
       dabei waren. Aber genau darin liegt das Geheimnis der privaten Bildarchive:
       Sie dokumentieren nicht nur das, was abgelichtet ist, sondern auch die
       Umstände, in denen sie entstanden sind – mehr als es glatte, professionelle
       Aufnahmen je könnten.
       
       Auf diese Vieldeutigkeit baut Annie Ernaux ihr filmisches Essay auf, das
       sie zusammen mit Sohn David Ernaux-Briot verwirklicht hat und bereits im
       Mai auf dem Filmfestival von Cannes vorstellte. Beim Bergpanorama, mit dem
       der Film beginnt, handelt es sich um die Alpen, wie man sie von der
       französischen Stadt Annecy aus sieht. „Zum Winterende 1972 kauften wir uns
       eine Bell & Howell Super-8-Kamera mit Projektionsequipment“, hört man dazu
       die Stimme von Annie Ernaux aus dem Off.
       
       Ihr Mann Philippe Ernaux und sie waren damals Anfang Dreißig, ihre zwei
       Söhne Eric und David sieben und drei. Suggeriert wird, dass es sich hier um
       die ersten Aufnahmen dieser Kamera handelte. Und dass es von nun an
       chronologisch weitergeht, als ob man sich an der Seite der Autorin durch
       sortierte Super-8-Rollen vorarbeitet bis ins Jahr 1981.
       
       Im Medium des Films vollzieht Ernaux hier auf ihre Weise nach, was sie
       als Schriftstellerin [1][bis zur Literatur-Nobelpreiswürde in diesem Jahr]
       geführt hat: ein reflektiertes und reflektierendes Erinnern, das
       alltägliche und private Dinge so unglaublich präzise fasst, dass sie in
       einem neuen, allgemein gültigen Licht erscheinen.
       
       ## Glücksmomente, denen Gewalt innewohnt
       
       Gleich ihre erste Beobachtung zu den Besonderheiten der Super-8-Aufnahmen
       ist dafür ein typisches Beispiel: Während man Aufnahmen von ihr und den
       Söhnen sieht – sie kommen nach Hause, sie zieht sich den Mantel aus und
       hängt ihn sorgfältig weg, die Söhne machen derweil reflexhaft vor der
       Kamera Faxen –, notiert ihre Stimme aus dem Off das Element des
       Theatralischen, das die Kamera zwangsläufig zu provozieren scheint.
       
       Kinder, die posieren und absichtlich die Augen verdrehen – es sind
       Dokumente von Glücksmomenten, denen zugleich eine gewisse Gewalt innewohnt.
       Was macht man mit diesen dem Alltag, ihrem Ursprungskontext entrissenen
       Augenblicken?
       
       In ihrem Off-Kommentar fügt Ernaux im vollen Bewusstsein des Privilegs
       der Rückschau neue Kontexte hinzu. In den Szenen, wo sie sich selbst als
       30-jährige, berufstätige Mutter zweier Kinder sieht, die das teure
       Film-Hobby ganz und gar dem Ehemann überlässt, erkennt sie zugleich die
       [2][vom Ehrgeiz des Schreibens innerlich gequälte Frau, die sie damals
       war.] Sie habe in dieser Zeit an Nachmittagen heimlich geschrieben – und
       weder ihrem Ehemann noch ihrer Mutter, die damals bei ihnen lebte, davon
       erzählen können.
       
       Im Blick auf die eigene Stellung in diesen Aufnahmen, auf die Rolle, die
       sie gespielt hat und was sie noch erinnert von ihren Gefühlen dabei,
       erzählt Ernaux von ihrem Coming-of-Age als Autorin. Aus dem heimlichen
       Schreiben an Nachmittagen wurde ein Roman, dessen Manuskript sie
       einschickte und das vom renommierten Verlag Gallimard angenommen und 1974
       publiziert wurde, „Les Armoires vides“. Die Familienfilmchen zeigen sie
       immer mehr als eine Frau, die sich absondert und nicht dazugehört.
       
       ## Eine linke Familiengeschichte
       
       Zugleich, und auch das ist den Lesern ihrer Bücher ein vertrautes Element,
       gehen ihre Überlegungen ganz selbstverständlich über das Private hinaus.
       Vor allem in der Abfolge der gefilmten Urlaube und Reisen bildet Ernauxs
       Familienleben der 70er Jahre eine linke Geschichte par excellence ab.
       Chile, Marokko, Albanien, Moskau, dazu Spanien und Portugal – aus der
       Länderfolge ergibt sich geradezu eine Art Code für die Illusionen und
       Enttäuschungen einer sich fortschrittlich wähnenden Generation.
       
       Da ist der Enthusiasmus, mit der Philippe Ernaux in dem sich unter Salvador
       Allende reformierenden Chile des Jahres 1972 filmt; es gibt Szenen von
       verstaatlichten Produktionsstätten und Begegnungen mit der sowjetischen
       Kosmonautin Walentina Tereschkowa.
       
       Zu den Bildern einer Reise nach Albanien Mitte der 70er Jahre erinnert sich
       Ernaux an die vielen markanten Ungleichzeitigkeiten: Wie sie sich bei der
       Einreise ihrer dekadenten westlichen Kleidung entledigen mussten – und
       Frauen von da an Kleider zu tragen hatten.
       
       Sie schildert, wie sehr sie abgeschirmt wurden von der tatsächlichen
       Lebenswelt der Albaner, und dass konträr zur propagierten Begegnung mit dem
       „neuen Menschen“ sie sich oft eher zurück in die eigene Kindheit versetzt
       fühlte, in die Stille der Städte ohne Autos, in der sich Menschen zu Fuß
       oder mit dem Fahrrad bewegten. Nie hätten sie damals gedacht, dass kaum 20
       Jahre später von Albaniens Stalinismus-Maoismus so ganz und gar nichts mehr
       übrig bleibe, während die Reste der 2000 Jahre alten römischen Ruinen dort
       noch immer überdauern.
       
       28 Dec 2022
       
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