# taz.de -- „Die Jahre“ im Theater Osnabrück: Wenn das Erinnern politisch wird
       
       > Das Theater Osnabrück adaptiert die Autobiografie „Die Jahre“ der
       > Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux. Die Vorstellungen sind ständig
       > ausverkauft.
       
 (IMG) Bild: Endlose französische Essenszeremonie: die drei Annie Ernaux-Darstellerinnen treffen sich zu Tisch
       
       Sie spielen, im Theater Osnabrück. Und das ist gut so. Ärgerlich nur, dass
       darüber geredet werden muss. Die [1][französische
       Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux] [2][hat den agitatorischen Aufruf
       „Strike Germany“ unterschrieben]. Der will internationale
       Künstler:innen dazu bewegen, deutsche Kulturinstitutionen zu
       boykottieren, weil sie mit „McCarthyistischen Maßnahmen“ beispielsweise
       Solidaritätsbekundungen für Palästina einschränken. Und weil sie von einem
       Staat finanziert würden, der mit der Anti-BDS-Resolution
       anti-palästinensischen Rassismus und Zensur befördert habe.
       
       Der Terror der Hamas wird verschwiegen, die „Strike
       Germany“-Verantwortlichen bleiben anonym. Warum Ernaux all das unterstützt,
       dann aber selbst nicht boykottiert, also weiterhin Geld für Aufführungen
       ihrer Texte an deutschen Bühnen kassiert, ist bestenfalls inkonsequent,
       wenn nicht verlogen. So aber kommt Osnabrück in den Genuss einer
       Kurzfassung [3][ihrer besonderen Autobiografie „Die Jahre“], die das
       private Erleben im Hallraum der Zeitgeschichte beziehungsreich verortet:
       von den 1940er-Jahren ihrer Kindheit bis ans Ende der Nullerjahre des neuen
       Jahrtausends.
       
       Ernaux inszeniert sich mit ihren gesellschaftlichen Prägungen als
       Repräsentantin der Nachkriegsgeneration. Es wird lebendig, wie sie in der
       provinziellen [4][Enge ihres proletarisch-bildungsfernen Elternhauses
       aufwächst]; wie sie sich aus dem Milieu schamvoll in die libertäre
       Studienzeit entfernt; wie sie Lehrerin wird, heiratet, zwei Kinder bekommt
       und sich scheiden lässt; wie sie eine Künstlerinexistenz führt und
       schließlich mit dem Alter wie auch einer Krebserkrankung kämpft. Um zu
       zeigen, dass das Politische dabei privat wurde, gibt es parallel
       Beschreibungen vom „Hungerwinter 42! Nur Kälte und Steckrüben“, der
       Befreiung Frankreichs durch die US Army und wie dann das Wirtschaftswunder
       erblüht, die 68er-Bewegung das Denken verändert, aber trotzdem
       Konsumorientierung und Verspießerung im Einfamilienhaus folgen.
       
       ## Fantasieanregend karg
       
       All das geht, minutiös und durchaus selbstkritisch notiert, einher mit der
       Einübung eines zeittypischen Repertoires an Gewohnheiten, Regeln,
       Konventionen, Sprachfloskeln und „wie man sich bewegt, sich hinsetzt,
       lacht. Wie man auf der Straße jemandem etwas zuruft, wie man isst, wie man
       nach etwas greift.“ Solche soziologisch geschulten Blicke zurück können als
       Panoramen der Jahrzehnte und persönlichen Entwicklungswege mit großem
       Ensemble in historisch informierter Nostalgie auf die Bühne geschwelgt
       werden.
       
       Oder „Die Jahre“ werden karg fantasieanregend von einem Darstellerinnentrio
       als spielerisches Erzähltheater serviert, [5][wie jetzt in der Regie von
       Kathrin Mayr am Theater Osnabrück]. Das Klickklack der verrinnenden Zeit
       tickt auf der von Gardinenwänden strukturierten Bühne. Dessen zentrales
       Objekt ist ein Tisch für die endlosen Essenszeremonien der Franzosen.
       
       Kindlich der Zukunft entgegenfiebernd (Cora Kneisz) und bollerig
       lebensschlau räsonierend (Nientje C. Schwabe) kennzeichnen zwei
       Altersstufen von Ernaux. Dazwischen zu verorten ist Schauspielerin Vanessa
       Czapla mit einem anfangs verklemmtem Warten auf den ersten Kuss, bis es
       endlich diesem Gefühl der Dringlichkeit geschuldet ist, und doch so
       verlegen wie enttäuscht wahrgenommen wird, „dass man nach einem
       Klammerblues auf einem Feldbett lag und den Penis eines Mannes und Sperma
       im Mund hatte, nachdem einem im letzten Moment der Knaus-Ogino-Kalender
       eingefallen war und man die Schenkel zusammengepresst hatte.“
       
       Hoffnungssuchend zwischen Angst und Ausbruchswünschen wird durch die
       kleinbürgerlich eingeengte Ernaux-Existenz getanzt, fürs Recht auf
       Abtreibung argumentiert und erkannt: „Simone de Beauvoir zu lesen,
       bestätigte nur, dass es Pech war, eine Gebärmutter zu haben.“ Beeindruckend
       mit welch liebevoller Präzision Czapla die widersprüchlichen und daher
       verunsichernden Gefühle der langwierigen Loslösung vom „typischen
       Frauengefühl“ einer „naturgegebenen Unterlegenheit“ gestaltet.
       
       Die Akteurinnen agieren zumeist im Dialog als Ernaux-Dreierpack, tippen
       dabei aber auch diverse Rollen quer durch die Dekaden und Generationen an
       und gestalten sie prototypisch in ihren sozialen Rollen. Wie in der Vorlage
       wechseln sich die leise ironische Sachlichkeit des Heraufbeschwörens von
       Momenten, Musiken, Gerüchen, Gedanken und Gerichten ab mit grundsätzlichen
       Überlegungen, etwa wie Erinnern überhaupt funktioniert, aber auch zu
       Männer- und Frauenrollen, Klassismus, Glück und dem Bedienen des
       kapitalistischen Systems, wobei stets die Frage mitschwingt: Wie soll man
       leben?
       
       Der ganze Abend verdichtet in seinen Suchbewegungen ein Leben, skizziert
       Herkunft, Entfremdung, Self-Empowerment, Aufstieg, Stagnation und
       Emanzipation – sowie die zugrundeliegende Veränderung der individuellen
       Bedürfnisse und Interessen. Aus Ernaux’ Distanzierungsstil in der 3. Person
       und mit dem verallgemeinernden „man“ entwickelt der empathische Regieansatz
       wieder große Nähe zur Protagonistin, so dass die Bühnenfassung als
       kollektive Erzählung fürs Publikums-Wir funktioniert.
       
       Auf die rasante Zeitreise im netten Weißt-du-noch-Gestus mit der
       chronologischen Und-dann-und-dann-Dramaturgie kann der Zuschauende
       selbstbesinnlich einsteigen, Überschneidungen mit der eigenen Geschichte
       entdecken und hinterfragen. Die Publikumsbegeisterung für das Angebot ist
       groß, stets schnell ausverkauft sind die Vorstellungen.
       
       20 Feb 2024
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Literaturnobelpreis-fuer-Annie-Ernaux/!5882551
 (DIR) [2] /!5983222
 (DIR) [3] /Literaturnobelpreistraegerin-Annie-Ernaux/!5882552
 (DIR) [4] /Nobelpreistraegerin-Annie-Ernaux/!5882613
 (DIR) [5] https://erleben.osnabrueck.de/de/veranstaltungen-finden/die-jahre/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jens Fischer
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Theater Osnabrück
 (DIR) Theater
 (DIR) Autobiografie
 (DIR) Annie Ernaux
 (DIR) Französische Literatur
 (DIR) Theater Osnabrück
 (DIR) Zeitgenössischer Tanz
 (DIR) Literatur
 (DIR) Schwerpunkt #metoo
 (DIR) Essay
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Migrationserfahrungen auf der Bühne: Ein bunter Abend über Zerrissenheit
       
       In Osnabrück gibt es viele Menschen mit polnischem Migrationshintergrund.
       Ihre Erfahrungen hat das dortige Theater zu einem Stück verarbeitet.
       
 (DIR) Doppel-Tanz-Abend in Osnabrück: Stumme Schreie
       
       Das Theater Osnabrück koppelt zwei Choreografien für den Abend „Dwa –
       Zwei“. Tänzerisch geht das Konzept auf, inszenatorisch bleiben Fragen.
       
 (DIR) Romane über die eigenen Eltern: Der Mutter eine Stimme geben
       
       Romane über die eigene Mutter boomen derzeit. Doch was gibt man von ihr
       preis, und wie schützt man sie? Diese Fragen treiben viele Autoren um.
       
 (DIR) Debatte um autofiktionale Romane: Zählt nur noch die Authentizität?
       
       Bevor das neue Literaturjahr so richtig losgeht: ein Versuch, etwas
       Unordnung in die Debatte über den Erfolg der Autofiktion zu bringen.
       
 (DIR) Annie Ernaux' Familienleben im Film: Der heimlich geschriebene Roman
       
       Familienaufnahmen geben in „Annie Ernaux – Die Super-8-Jahre“ Einblick in
       das Leben einer Mutter. Die sondert sich ab und wird zur Autorin.