# taz.de -- Migrationserfahrungen auf der Bühne: Ein bunter Abend über Zerrissenheit
       
       > In Osnabrück gibt es viele Menschen mit polnischem Migrationshintergrund.
       > Ihre Erfahrungen hat das dortige Theater zu einem Stück verarbeitet.
       
 (IMG) Bild: Immer wieder auch Musik: Izabela Kałduńska hinter spielerisch diskutierendem Publikum
       
       OSNABRÜCK taz | Im Foyer empfängt der clowneske Conférencier (Oliver
       Meskendahl) mit einem launigen Monolog am E-Piano und kommt gleich mit
       einer Triggerwarnung daher: „Heute hier sieht der Zufall uns tief in die
       Augen.“ Das kann gerade narzisstisch geprägte Persönlichkeiten kränken. Wer
       also denkt, den Zufall unter Kontrolle sowie sein Leben im Griff zu haben
       und genau zu wissen, warum er (oder sie) konkret gerade jetzt im
       Theaterfoyer steht, der (oder die) möge es doch verlassen, lautet die
       Aufforderung.
       
       Denn: Wer gleich den zum Spielcasino erklärten Theatersaal betrete, müsse
       akzeptieren, dass alles am heutigen Abend – und im Leben überhaupt – auch
       ganz anders hätte kommen können. Das Publikum muss sich wohl darauf
       einstellen, Schicksal und Fügung als metaphysisches Rätsel oder Ausdruck
       der großen Sinnlosigkeit des Daseins wahrzunehmen – „serdecznie witamy,
       herzlich willkommen!“
       
       Damit ist auch schon der zweite Ausgangspunkt dieser philosophisch
       angehauchten Stückentwicklung „Kinder der Zeit / Dzieci Epoki“ am
       [1][Theater Osnabrück] angesprochen. Auf die Partnerländer Syrien und
       Türkei folgt in dieser Spielzeit das politisch gerade aufblühende Polen.
       Ein Choreograf und Musiker von dort geben ihre Visitenkarten ab, Stücke
       polnischer Autor:innen und Komponist:innen werden aufgeführt und
       Anfang Juni holt das Festival „Uwaga!“ eine Woche lang Gastspiele in die
       Stadt.
       
       Da dürfen natürlich die polnischen Mitbürger:innen nicht fehlen, sind
       sie doch neben den Türk:innen die größte Migrant:innengruppe in der
       Stadt: Sie kamen als Aussiedler:innen, später als Saisonkräfte fürs
       Spargelstechen, als Erntehelfer:innen überhaupt – und nach dem
       Eintritt Polens in die EU dann auch in aller Binnen-Freizügigkeit.
       
       ## Als Community kaum sichtbar
       
       Pol:innen gelten als gut integriert und daher als Community kaum
       sichtbar. Das Team um [2][Regisseur Nils Zapfe] aber hat sie aufgespürt und
       angesprochen, ließ sich Lebensgeschichten erzählen. Die werden nun aber
       nicht in Dokumentartheatermanier auf die Bühne geholt, sondern sind
       vielmehr in einen Spieleabend integriert. Weil etwa Angehörige der zweiten
       und [3][dritten Generation] berichten, nicht freiwillig aus-
       beziehungsweise eingewandert zu sein, sondern als Anhängsel ihrer Eltern,
       kommt auch der Zufall unverzüglich in den Fokus.
       
       Ihrer sozialen Gruppe werden die Zuschauenden entkleidet und betont
       zufällig an Vierertische verteilt. Das Schauspieler:innen-Quintett gibt
       Würfel aus für eine Speed-Dating-Animation: Dem geworfenen Zahlenwert sind
       Fragen zugeordnet, die dann am Tisch reihum zu beantworten sind.
       
       Später werden diese Tischbesatzungen neu gemischt und weitere Fragespiele
       initiiert. Polnischen Erfinder:innen gilt ein solches Quiz. Aber es
       gilt etwa auch zu erraten, wie viele unter den Anwesenden für die
       Legalisierung von Cannabis sein mögen, sich als atheistisch verstehen oder
       auch grundsätzlich eine Revolution befürworten. Die so Beschriebenen müssen
       dann jeweils aufstehen zum Nachzählen.
       
       Im Wechsel mit diesen Kennenlernaktionen werden die Animateur:innen zu
       Darstellern der real interviewten Deutsch-Pol:innen – eigens eingeübter
       Akzent inklusive. Sie behängen eine Minibühne mit Erinnerungsbildern sowie
       -objekten und berichten fragmentarisch vom Ankommen und der Kindheit in
       Deutschland, von der Einbürgerung. Auch lassen sie an ihrer Außensicht
       teilhaben, bekunden beispielsweise Verwunderung über die
       Blockwartmentalität der Deutschen.
       
       ## Im deutschen Regelnetzwerk
       
       So, wie sich das Publikum in der Regelhaftigkeit der angebotenen Spiele
       näherkommt, so haben diese Pol:innen demnach ihre neue Heimat
       kennengelernt im normativen Regelnetzwerk des deutschen Alltags. Das wird
       nun in Eckdaten vorgetragen: „Nachtruhe 22 bis 6 Uhr“ heißt es da, „Müll
       trennen – aber richtig!“ oder: „Beim Denken dürfen keine Lücken entstehen“.
       
       Mitten hinein ins interaktive Geschehen sind ab und an Zitate aus Wisława
       Szymborskas titelgebendem Gedicht collagiert: „Wir sind Kinder der Zeit, /
       die Zeit ist politisch. / Alle deine, unsere, eure / Tagesgeschäfte,
       Nachtgeschäfte / sind politisch.“ Ein Anknüpfungspunkt, aus dem die
       Inszenierung leider nichts macht, dafür lieber musizieren und etwas singen
       lässt.
       
       Das Ergebnis ist ein durchaus unterhaltsames Aufführungsformat. Vor allem
       der Austausch in netten Tischgruppen macht Spaß. Nur die vielfach
       unerzählten Geschichten von Migration, von Zerrissenheit zwischen den
       Kulturen, aber auch zwischen Eltern und Kindern, von der Einsamkeit unter
       einem fremden Himmel schließlich – sie kommen zu kurz. Die bunte
       Inszenierung überformt den Inhalt, all die Fragen, Lebensabgründe und
       -aufschwünge verlieren sich als bloße Andeutungen im Spiel des Zufalls.
       
       Weitere Vorstellungen: Mi. 15.5.,; Fr. 24.5.; Do. 6.6. + Sa., 22.6.,
       jeweils 19.30 Uhr, [4][Osnabrück, Emma-Theater]
       
       20 May 2024
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Doppel-Tanz-Abend-in-Osnabrueck/!6002300
 (DIR) [2] /Theaterstueck-in-Braunschweig/!5843127
 (DIR) [3] /Politikerinnen-ueber-Diversitaet/!6003523
 (DIR) [4] https://www.theater-osnabrueck.de/spielzeit/schauspiel/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jens Fischer
       
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