# taz.de -- Keine Welle von Sozialprotesten: Lauwarm, leicht bewölkt
       
       > Einen „heißen Herbst“ hatten manche erwartet, von der Linkspartei über
       > Rechtsextreme bis zu Baerbock. Doch der Massenaufstand blieb aus. Warum?
       
 (IMG) Bild: Montags-Protest im Oktober 2022 in Frankfurt/Oder. Sonderlich viele sind es allerdings nicht
       
       Die [1][schrillsten Töne] hatte Außenministerin Annalena Baerbock
       angeschlagen. Wenn im Winter das Gas ausgehe, „können wir überhaupt keine
       Unterstützung für die Ukraine mehr leisten, weil wir dann mit
       Volksaufständen beschäftigt sind“, sagte die Grüne im vergangenen Juli.
       Auch der Thüringer Verfassungsschutzchef Stefan Kramer warnte vor einer
       „hochemotionalen, explosiven und gewalttätigen Situation, wo es zu
       Straßenprotesten kommen wird, die von Extremisten unterwandert und geschürt
       werden“. Die Coronaproteste seien dagegen „wahrscheinlich eher ein
       Kindergeburtstag“ gewesen.
       
       Manche hofften, der Unmut über die enorme Inflation von zeitweise über 10
       Prozent könnte sich [2][in kraftvollen linken Sozialprotesten entladen].
       Andere fürchteten, der Themenkomplex aus Preissteigerung und Ukrainekrieg
       würde der Verschmelzung [3][extremer Rechter und Querdenker] einen Schub
       geben. „Wir haben den politischen Auftrag, den heißen Herbst anzuheizen“,
       befand der neurechte Vordenker Götz Kubitschek im August im Podcast seines
       „Instituts für Staatspolitik“.
       
       Womit also würde zu rechnen sein? Mit Massendemos? Einer
       Gelbwestenbewegung? Gar mit Anschlägen?
       
       Lagerübergreifend war der 5. September als Protestauftakt auserkoren
       worden. Der Linken-Bundestagsabgeordnete Sören Pellmann hatte zur
       Kundgebung „Heißer Herbst gegen soziale Kälte“ nach Leipzig aufgerufen.
       Auch extreme Rechte wie der Ex-AfDler André Poggenburg, der
       Verschwörungsideologe Jürgen Elsässer und die „Freien Sachsen“ trommelten
       ihre Anhänger an jenem [4][Montag] nach Leipzig. Mit dem Slogan „Getrennt
       marschieren – gemeinsam schlagen“ versuchten sie zu suggerieren, es handele
       sich um eine gemeinschaftlich verabredete Aktion. Gregor Gysi, von den
       Linken als Redner geladen, musste sich eilig von solchen Querfrontavancen
       distanzieren.
       
       Doch blieb die Resonanz am 5. September verhalten – und das sollte sich
       auch in den Folgemonaten nicht ändern. Die AfD-Demo „Unser Land zuerst“ am
       8. Oktober brachte etwa 10.000 Menschen nach Berlin; das
       Demonstrationsbündnis „Solidarischer Herbst“ von Paritätischem
       Wohlfahrtsverband, Campact und anderen [5][mobilisierte zwei Wochen später
       rund 24.000]. Massendemos waren das nicht.
       
       „Der ‚heiße Herbst‘ war ja eher ein laues Lüftchen“, klagte Stefan Huth,
       der Chefredakteur der linken Zeitung junge Welt, bei der
       Rosa-Luxemburg-Konferenz am zweiten Januarwochenende. Kurioserweise wählte
       Verfassungsschutzchef Thomas Haldenwang Ende Dezember gegenüber der
       Süddeutschen Zeitung dieselben Worte: „Was aktuell an Protesten läuft, ist
       eher ein laues Lüftchen.“
       
       Das Frustpotenzial der Rekordinflation trieb die Menschen also nicht auf
       die Straße. Aber warum nicht?
       
       ## Die Entlastungspakete kamen an
       
       Mit [6][ihren Hilfspaketen] habe die Bundesregierung die Lage teilweise
       entschärft, glaubt Ulrich Schneider, der Geschäftsführer des Paritätischen
       Wohlfahrtsverbands. Die Ampel sei zwar in die Lage „reingestolpert“, habe
       aber mit dem erhöhten Wohngeld, der Gaspreisbremse und den Einmalzahlungen
       für Rentner linke Forderungen teilweise erfüllt. „Viele fühlten sich
       entlastet“, sagt Schneider. Schon bei einem Treffen mit
       Gewerkschaftsspitzen Anfang September habe Bundeskanzler Olaf Scholz in
       Aussicht gestellt, die scharf kritisierte Gasumlage durch eine Preisbremse
       zu ersetzen. „Das führte dazu, dass die großen Gewerkschaften sich nicht an
       Demos beteiligten.“
       
       Bettina Kohlrausch lässt bis zu dreimal pro Jahr Tausende Erwerbstätige und
       Arbeitsuchende zu ihrer sozialen Lage und den politischen Einstellungen
       befragen – das zählt zu ihrem Job als Wissenschaftliche Direktorin des
       Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der gewerkschaftlichen
       Hans-Böckler-Stiftung. Es zeige sich, dass die finanziellen Sorgen, die im
       Zuge der Coronakrise und gestiegener Preise gerade bei den unteren
       Einkommen zugenommen haben, „antidemokratische Einstellungen“ speisten.
       „Ich hatte deswegen auch gedacht: Das Potenzial für einen heißen Winter ist
       da“, sagt Kohlrausch. Doch es sei nicht abgerufen worden.
       
       Bei der jüngsten Befragung im November hatte 1 Prozent angegeben, sich
       durch die Hilfsmaßnahmen „sehr entlastet“ zu fühlen, 26 Prozent „etwas
       entlastet“, und weitere 42 Prozent stellten eine „geringfügige Entlastung
       fest“. Es sei „nicht so, dass die beschlossenen Entlastungen allen Menschen
       ihre finanziellen Sorgen nehmen“, sagt Kohlrausch. „Aber vielleicht haben
       die Leute doch das Gefühl, dass etwas passiert ist für sie.“
       
       Zwar gebe es „viel Wut und viele Sorgen“, aber es existiere kein klares
       Feindbild aufseiten der Protestierenden, sagt der in Basel lehrende
       [7][Soziologe Oliver Nachtwey]. Die Regierung habe „sichtbar Bemühen
       gezeigt, mit dieser Situation umzugehen und die stärksten Notlagen
       einigermaßen abzufedern“. Das unterscheide die Ausgangslage für
       Sozialproteste etwa von der Zeit der Agenda 2010 in den Nullerjahren, als
       die Regierung als „unsozial, unnachgiebig und hart“ wahrgenommen worden
       sei, sagt Nachtwey.
       
       Daphne Weber vom Parteivorstand der Linken hingegen glaubt, dass die
       Belastungen bei vielen erst verspätet spürbar werden. „Die große Rechnung
       kriegen viele erst jetzt.“ Hinzu komme, dass für viele Menschen
       Demonstrationen keine Option seien – sie suchten eher „Lösungen für sich“.
       Die Frage laute nun: „Was folgt jetzt langfristig an konkreter Solidarität.
       Da müssen wir die Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften verstärken.“
       
       ## Kein Triumph für Rechtsaußen
       
       Auch die Rechten vermochten die Lage nur bedingt auszunutzen. [8][In Plauen
       kamen im Herbst Tausende] zu sogenannten Volksversammlungen zusammen. So
       etwa am 6. November, als sich rund 4.500 Menschen in der vogtländischen
       Kreisstadt versammelten, trommelten, „Freiheit“ riefen und Schilder mit
       Forderungen wie „Raus aus der NATO“, „Asylbetrüger abschieben“, „Frieden
       mit Russland“ oder „Stoppt die WHO“ vor sich hertrugen.
       
       Zum Ende der DDR 1989 hätten Kundgebungen in Plauen eine führende Rolle
       gespielt – unter Verweis darauf würden dort heute Reden gehalten, die „vor
       Rassismus und Demokratiefeindlichkeit strotzen“, sagt Michael Nattke vom
       Kulturbüro Sachsen. Die großen Sozialproteste seien zwar in der Fläche
       ausgefallen. Aber es gebe lokale Hochburgen, wie eben Plauen oder Bautzen,
       wo weiterhin wöchentlich Tausende auf die Straße gehen. In Bautzen sei dies
       getrieben von einem harten Kern von Verschwörungsideologen, die sich mit
       einer „agilen Neonaziszene“ organisierten und unter anderem auch Ken
       Jebsen eingeladen hätten, so Nattke.
       
       Insgesamt sehe er eine Protestermüdung: „Viele der Akteure sind seit Beginn
       der Coronaproteste 2020 durchgehend auf der Straße.“ Dazu komme, dass die
       neuen Themen teils kontrovers seien, etwa die Frage, ob Russland eher
       positiv oder eher als einstiger Besatzer betrachtet werde. Daher sei der
       inhaltliche Kitt jenseits des schwindenden Coronathemas dünn.
       
       Johannes Kiess leitet ein Forschungsprojekt an der Universität Leipzig, das
       Hunderte verschwörungsideologische Telegram-Kanäle beobachtet. Die in der
       Pandemie entstandene Verbindung von Nazis und Querdenkern sei „stark und
       weiter da“, sagt Kiess. Doch die Energiekrise sei von der Politik „gut
       genug wegmoderiert“ worden, und so habe das rechte Spektrum darin „nie
       einen zündenden Punkt gefunden“.
       
       ## Grabenkämpfe bei den Montagsdemos
       
       Außerdem seien die untersten Einkommensschichten bei rechten Protesten kaum
       vertreten: „Das ist eher von der Mittelschicht getragen. Die schimpfen zwar
       über die hohen Benzinpreise, sind aber nicht existenziell bedroht.“
       Grabenkämpfe und „Kleinstaaterei“ im rechten Lager hätten das ihrige getan:
       „Einig ist man sich nur, wenn es gerade einen Erfolg gibt. Und der ist im
       Herbst ausgeblieben.“ In Leipzig etwa hätten sich die rechten Montagsdemos
       zuletzt in drei separate Züge aufgespalten.
       
       Auch der Magdeburger Rechtsextremismusexperte David Begrich glaubt, dass
       sich in den Coronaprotesten ein neues Milieu aus extremer Rechter und
       Querdenkern zusammengefunden habe. Die Inflation komme jedoch „bei vielen
       Menschen nicht stark genug an“, um Grundlage breiter Proteste zu sein. „Die
       [9][aktuell hohen Flüchtlingszahlen aber werden gesehen]. Und dafür gibt es
       in Ostdeutschland eine rassistische Deutungsfolie, die auf Resonanz stößt.“
       Begrich erwartet deshalb eher eine „Wiederkehr der Proteste von 2015“. Denn
       Rassismus und die soziale Frage zusammenzuführen, das sei seit jeher das
       Erfolgsrezept der extremen Rechten.
       
       21 Jan 2023
       
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