# taz.de -- Kolonialvergangenheit mit China: Unter deutschen Dächern
       
       > Nicht nur in Afrika, auch in China machten Deutsche sich breit – und
       > besetzten viele Jahre lang eine Bucht. Warum ist das hierzulande kaum
       > bekannt?
       
 (IMG) Bild: Qingdao 1937: Die Hafenstadt ist Angriffsziel bei der japanischen Invasion
       
       Am Morgen des 14. November 1897 landeten Kriegsschiffe der Deutschen
       Kaiserlichen Marine in der Kiautschou Bucht (heute Jiaozhou) der
       ostchinesischen Provinz Shandong. Zwei Wochen zuvor waren in Shandong zwei
       deutsche Missionare ermordet worden und Kaiser Wilhelm II. wollte den
       Vorfall nutzen, um ein lange geplantes Vorhaben endlich in die Tat
       umzusetzen – eine Kolonie zu errichten, die den wirtschaftlichen und
       militärischen Einfluss des Deutschen Kaiserreichs in China stärken sollte.
       
       17 Jahre lang besetzten die Deutschen die Bucht. Über einhundert Jahre
       später ist Qingdao, das ehemals kleine Fischerdorf, wo die Kaiserliche
       Marine damals anlegte, eine Stadt mit 9 Millionen Einwohner*innen und
       einem der größten Häfen der Welt. Es hat sich viel verändert. Und doch ist
       Deutschland immer noch präsent.
       
       ## Quingdaos Altstadt wirkt auf pittoreske Art deutsch
       
       Ich bin in Qingdao geboren und aufgewachsen, in den mäandernden Straßen und
       den rotdachigen Häusern des alten Deutschen Viertels. Obwohl die Deutschen
       meine Heimatstadt nur bis 1914 besetzen konnten, haben sie hier Spuren
       hinterlassen. Schaut man von einem der umliegenden Hügel auf Qingdao hinab,
       sieht die pittoreske Altstadt aus, als könne sie auch in Deutschland
       liegen. Viele der Gebäude sind noch erhalten und stehen unter
       Denkmalschutz. Meine alte Schule wurde von dem deutschen Missionar und
       Sinologen Richard Wilhelm gegründet, damals lief ich auf dem Campus täglich
       an seiner Statue vorbei. Mit seiner Brille und der Fliege erschien mir
       dieser Mann wie ein sanfter Gelehrter. Manchmal hatten wir Musikunterricht
       in dem dreistöckigen Haus hinter der Statue, in dem er einst lebte.
       
       Umso erstaunter war ich, als ich nach Deutschland zog und feststellte, dass
       nur eine Handvoll Menschen von Qingdao wussten. Wenn ich erzählte, woher
       ich kam, entschuldigten sich viele dafür, außer Beijing und Shanghai keine
       chinesischen Städte zu kennen. Oder sie sagten: „Ah!“, wenn ihnen einfiel,
       dass sie schon mal ein [1][Tsingtao-Bier] in einem chinesischen Restaurant
       getrunken haben.
       
       Meine deutschen Freunde erzählten mir, dass sie im Geschichtsunterricht
       kaum etwas über deutschen Kolonialismus gelernt haben. Wenn überhaupt, dann
       ging es um Afrika. Und obwohl Kolonialgeschichte mittlerweile in der
       hiesigen Öffentlichkeit zu einem hitzig diskutierten Thema geworden ist,
       wird nur selten darüber gesprochen, was Kaiser Wilhelm II. in China tat.
       
       „Was denken denn die Chinesen darüber?“, werde ich hier oft von
       interessierten Deutschen gefragt. Und an dieser Stelle wird es kompliziert.
       
       In Qingdao sehen viele Menschen den deutschen Kolonialismus als Teil der
       Geschichte und Identität ihrer Stadt an. Sie erzählen freudig von den
       deutschen Wurzeln des Tsingtao Bier oder zeigen Touristen den Weg zur
       Altstadt mit ihrer deutschen Architektur. Historiker, die zur deutschen
       Kolonialvergangenheit in China arbeiten, loben Deutschlands
       Infrastrukturprojekte wie die Eisenbahntrasse, das Abwassersystem und die
       Häfen oft als moderne Grundlage der Stadt.
       
       Die wohlwollenden Haltungen gegenüber der deutschen Kolonialgeschichte
       passen nicht so recht zum aufstrebenden Nationalismus in China heute. Die
       Zeit, in der unser Land von westlichen Mächten und von Japan besetzt und
       unterworfen wurde, nannten wir in der Schule „Das Jahrhundert der
       Demütigung“. [2][Der chinesische Nationalismus von heute] hat seine Wurzeln
       in der historischen Trauer dieser Zeit. Historiker*innen argumentieren
       sogar, dass die deutsche Aggression dazu beigetragen hat, diesen
       Nationalismus überhaupt erst entstehen zu lassen.
       
       ## Nach dem berühmten Boxeraufstand wurde geplündert
       
       Am Ende des 19. Jahrhunderts begannen arme Bauern in Shandong, die unter
       Naturkatastrophen, den Übergriffen der Deutschen und anderen
       imperialistischen Mächten litten, [3][den sogenannten Boxeraufstand,] eine
       antiimperialistische und anti-christliche Bewegung. Deutschland und sieben
       andere Nationen taten sich damals zusammen, um die Aufstände brutal zu
       unterdrücken. Dieser Krieg endete mit über 100.000 Toten und der Plünderung
       des Kaiserpalastes in Beijing. Viele der damals gestohlenen Schätze
       befinden sich bis heute in deutschen Museen, das hat ein [4][aktuelles
       Provenienzforschungsprojekt] gezeigt, an dem sieben deutsche Museen
       beteiligt sind.
       
       Zu Beginn des Ersten Weltkriegs wurden deutsche Truppen in Qingdao von
       Japan besiegt, das damals zu den Alliierten gehörte und vor Ort eigene
       territoriale Ambitionen hatte. Als der Versailler Vertrag deutsche Rechte
       in Shandong auf Japan übertrug, anstatt sie an China zurückzugeben,
       strömten wütende chinesische Studierende auf die Straßen der größten Städte
       des Landes und riefen „Kämpft bis zum Tod, gebt mein Qingdao zurück!“
       [5][Diese Proteste, bekannt als Bewegung des vierten Mai,] inspirierten
       eine neue Generation chinesischer Intellektueller. Manche von ihnen
       gründeten später die Kommunistische Partei.
       
       In Qingdao bauten die Deutschen nur das Europäische Viertel großzügig aus,
       sie kümmerten sich nicht darum, das Leben der chinesischen Bevölkerung zu
       verbessern, die unter strikter ethnischer Trennung woanders lebte. Die
       Segregation bedeutete für die Chinesen und Chinesinnen Gewalt und tägliche
       Demütigung. Ehen zwischen Chinesen und Europäern waren verboten, da
       Chinesen als unterlegen und untergeordnet galten. Während die europäischen
       Bewohner Qingdaos sich frei in der ganzen Stadt bewegen durften, musste die
       chinesische Bevölkerung ab 21 Uhr eine Laterne bei sich tragen, um sofort
       erkennbar zu sein.
       
       ## Kolonialismus bringe Fortschritt – so die Propaganda
       
       Qingdao sollte für das deutsche Kaiserreich eine Vorzeigekolonie werden, um
       die anderen Kolonialmächte und die chinesischen Eliten zu beeindrucken.
       Dass es manchen Chinesen in der Stadt erlaubt war, Krankenhäuser und
       Schulen zu besuchen, half der Propaganda, Kolonialismus schaffe
       Zivilisation, Fortschritt und Moderne, schreibt die deutsche Sinologin
       Mechthild Leutner. Diese Erzählung wirkt bis heute nach. Das liegt auch
       daran, dass es aus dieser Zeit kaum chinesische Aufzeichnungen gibt – die
       Quellenlage ist so schlecht, dass sich Forschende stark auf deutsche
       Archive und Schriften verlassen müssen, die häufig nur die Perspektive der
       Besatzungsmacht widerspiegeln.
       
       Bleibt die Frage: Warum haben die Menschen in Qingdao bis heute ein eher
       rosiges Bild der Kolonialbesatzung? Viele sagen mir, dass Deutschland eben
       das kleinere Übel im Vergleich zu Japan gewesen sei, dessen Soldaten die
       Stadt plünderten und später, während des Zweiten Weltkriegs, unvorstellbar
       brutale Verbrechen in ganz China verübten. Manche haben von der Segregation
       gehört, aber kaum jemand kennt die Details.
       
       Qingdaos Wahrnehmung dieser Vergangenheit hatte immer auch mit den
       politischen Epochen zu tun, die China durchlaufen hat, meint Lü Yixu,
       Germanistin der Universität Sydney, die zu dem Thema forscht. Zu den
       Anfängen der Volksrepublik betonten offizielle Dogmen die
       Gewaltherrschaft und das Leid der Chinesen unter der deutschen Besatzung.
       Aber als China sich in den 1980er Jahren öffnete, gab es eine Verschiebung
       und „Modernisierung wurde zunehmend zum Tenor der Diskussion“, schreibt Lü.
       Vielleicht liegt es daran, dass die Menschen heute lieber nach
       Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit Deutschland suchen, statt die dunkle
       Vergangenheit zu erwähnen.
       
       ## Ein deutscher Missionar übersetzte das „I-Ging“
       
       China verändert sich so schnell. Immer, wenn ich nach Qingdao zurückkehre,
       sind alte Dinge verschwunden und es gibt neue, die ich lernen muss. Meine
       Familie ist aus unserer alten Wohnung ausgezogen und meine Schule befindet
       sich jetzt auf einem neuen, schicken Campus. Richard Wilhelm haben sie
       mitgenommen. Auf dem neuen Schulgelände steht eine 1:1-Replik seines alten
       Wohnhauses. Anders als die meisten Missionare seiner Zeit ist Wilhelm dafür
       bekannt, dass er sich weigerte, auch nur einen einzigen Chinesen zu
       konvertieren – so erzählt man es sich. Er übersetzte Klassiker wie das
       „I-Ging“, und wird heute dafür gefeiert, dem Westen chinesische Kultur
       nähergebracht zu haben.
       
       Richard Wilhelm war wohl eher ein Ausnahmefall. Trotzdem ist den Qingdaoern
       kaum eine andere Person aus der Zeit der deutschen Besatzung so in
       Erinnerung geblieben. Vor zwei Jahren feierte meine alte Schule ihr
       120-jähriges Bestehen. Der damalige deutsche Botschafter in China, Clemens
       von Goetze, hielt bei der Zeremonie eine Rede. Er sprach von Freundschaft
       und Austausch zwischen Deutschland und Qingdao. Das Wort Kolonialismus kam
       nicht vor. Und die chinesische Seite schien damit kein Problem zu haben.
       
       Übersetzung aus dem Englischen: Lin Hierse
       
       31 Jan 2023
       
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