# taz.de -- Anne Frank als Animationsfilm: Farben der Vergangenheit
       
       > Ari Folmans „Wo ist Anne Frank“ führt das Leid aus der NS-Zeit und von
       > heute in einer Zeitreise zusammen. Der kontrastreiche Film ist auch ein
       > Appell.
       
 (IMG) Bild: Jetzt als Anime-Figur: das jüdische Mädchen Anne Frank
       
       Es erscheint paradox: Der Mensch, der fähig ist zu fühlen, zu lernen und zu
       adaptieren, ist oft nicht in der Lage, einen angemessenen Umgang mit
       anderem menschlichen Leid zu finden. Und das trotz des Bewusstseins einer
       leidvollen Vergangenheit in der Menschheitsgeschichte.
       
       Im Animationsfilm „Wo ist Anne Frank“ des israelischen Filmregisseurs Ari
       Folman bekommt diese Paradoxie einen Ausdruck verliehen, mit einer
       Thematik, die nicht an Aktualität verliert. Der Film beginnt mit dem
       Tagebuch der Anne Frank und führt von da in die Gegenwart, konfrontiert
       seine Hauptfigur Kitty mit der Not von Geflüchteten aus Kriegsgebieten.
       
       Im Anne-Frank-Haus, dem berühmten Museum in Amsterdam, erwacht „Kitty“, das
       Tagebuch von Anne Frank, begleitet von einem leisen Klimpern, zum Leben.
       Die mit Tinte geschriebenen Buchstaben erheben sich vom Papier aus dem Buch
       mit dem berühmten rotkarierten Einband. Sie tanzen durch die Luft und
       formen sich zu der von Anne Frank erschaffenen Fantasiefreundin mit den
       roten Haaren.
       
       ## Geflüchtet einst und jetzt
       
       Kitty ist aus der Zeit gefallen. Eben aus der, in der Anne während des
       Kriegs, im Versteck eines Hinterhauses, ihre Gedanken beim Schreiben ihrer
       imaginären Freundin anvertraute. Vergeblich beginnt Kitty nach ihrer
       Freundin zu suchen. Zeitgleich versucht eine geflüchtete Familie draußen
       zwischen dem Museum und der Gracht bei starkem Unwetter ihren Unterschlupf
       in Gestalt eines Zelts erfolglos vor dem Wegfliegen zu retten. Im
       Hintergrund ist eine Schlange von Menschen zu sehen, die für einen
       Museumsbesuch anstehen. Auf die Idee, der Familie mit ihrem Zelt zu helfen,
       kommt keiner von ihnen.
       
       Die erwachte Kitty bleibt zunächst für die Besucher und Besucherinnen im
       Museum unsichtbar. Zu sehen ist sie erst dann, wenn sie das Museum mit dem
       Tagebuch verlässt. Ohne das Buch verliert sie Kraft, ist nicht lebensfähig.
       Es ist ihr Herz, ihr Puls, ihr Leben. So beschreibt es später im Film ihre
       neue Bekanntschaft Peter, der als Einziger ihre Identität erkennt und ihr
       ihre Geschichte glaubt. Sie lernt ihn auf ihrer Suche kennen, es entsteht
       eine romantische Beziehung.
       
       ## Flucht aus der Tristesse
       
       Während Kitty Anne sucht, sucht die Stadt Kitty, um das historische
       Dokument zurückzuerhalten. Vorbei an der Anne-Frank-Schule,
       Anne-Frank-Brücke und dem Anne-Frank-Theater, braucht es eine Weile, bis
       die Protagonistin versteht, dass sie in einer anderen Zeit gelandet und
       Anne, über die Denkmäler hinaus, schon lange nicht mehr physisch anwesend
       ist. Ihre Suche geht bis nach Bergen-Belsen, den Ort, an dem Anne durch die
       Nazis ums Leben kam.
       
       Im Film entsteht ein Dialog aus den Sequenzen mit Kittys eigener Geschichte
       in der Gegenwart und den Sequenzen, in denen die Bilder abtauchen in die
       Vergangenheit, in der Anne Frank im Hinterhaus versteckt lebte. Besonders
       kräftig werden die Farben des Films wider Erwarten in der Vergangenheit –
       in Annes Fantasien, Wahrnehmungen und Träumen. Das Amsterdam der Gegenwart
       erscheint hingegen vor allem grau und trist.
       
       Der Animationsfilm, der ab sechs Jahren freigegeben ist, folgt auf die
       gleichnamige Graphic Novel, die Folman zuvor mit der Künstlerin Lena
       Guberman veröffentlicht hatte. Ihr Ansatz, die Geschichte Anne Franks im
       Medium Comic zu erzählen, entstand aus dem Gedanken, eine jüngere
       Generation ansprechen zu wollen. Ari Folman ist selbst in einer Familie von
       Holocaustüberlebenden aufgewachsen. Seine Eltern kamen in derselben Woche
       wie die Familie Frank in Auschwitz an. [1][Folman feierte 2008 mit dem
       Animationsfilm „Waltz with Bashir“] große Erfolge und erhielt mehrere
       Auszeichnungen, unter anderem den Golden Globe.
       
       Die visuelle Gestaltung ist in „Wo ist Anne Frank“ besonders
       abwechslungsreich: Während sich die Figuren in einem überwiegend gleichen
       zeichnerischen Stil fließend durch die Szenen bewegen, fallen die
       statischen Hintergrundkulissen auf. Die Räume des Hinterhauses wirken
       ziemlich realistisch, was daher kommt, dass für den Film extra kleine
       analoge Modelle der Räumlichkeiten nachgebaut wurden.
       
       Durch die neu erschaffene Figur der Kitty entsteht bei Ari Folman eine
       Schnittstelle der Zeiten und weist auf eine Inkonsequenz hin: das
       vorhandene Bewusstsein des menschengemachten Leids der Vergangenheit bei
       gleichzeitig fortwährenden Diskriminierungen und Ungerechtigkeiten im
       Umgang mit geflüchteten Menschen heute.
       
       Für die Rettung von Geflüchteten setzt sich Kitty im Verlauf des Films ein.
       Die Geschichte spannt einen Bogen zwischen diesen zwei verschiedenen Formen
       menschlichen Leids und ist trotzdem weit davon entfernt, den unmöglichen
       Versuch zu unternehmen, einen direkten Vergleich anzustellen. Vielmehr ist
       der Film als Appell zu verstehen, der den Wert eines jeden Menschenlebens
       erneut bewusst machen möchte und einen gerechten und würdigen Umgang mit
       Menschen in prekären Lebenssituationen einfordert.
       
       22 Feb 2023
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Paula Marie Kehl
       
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