# taz.de -- Anwalt darf Polizisten „Rassist“ nennen: Freispruch nach Beleidigungs-Klage
       
       > Der linke Bremer Anwalt Jan Sürig musste sich vor dem Amtsgericht
       > Delmenhorst verantworten. Das Gericht sprach ihn vom Vorwurf der
       > Beleidigung frei.
       
 (IMG) Bild: Polizei bei einer Razzia gegen eine arabische sogenannte Großfamilie in Duisburg (Symbolfoto)
       
       BREMEN taz | „Vergessen Sie’s“, pflaumt Jan Sürig den Staatsanwalt an, der
       ihm im Saal 2 des Amtsgerichts Delmenhorst gegenüber sitzt. Der hat ihm
       gerade vorgeschlagen, das Verfahren einzustellen – gegen Zahlung eines
       Bußgeldes an eine gemeinnützige Einrichtung. „Es gibt keine Einstellung“,
       sagt Sürig in demselben schneidenden Ton, mit dem er zu Beginn der
       Verhandlung dem Richter geantwortet hatte, als der ihn nach seinem
       Familienstand fragte. „Ich gebe keine Auskunft zu meinen persönlichen
       Verhältnissen“, hatte Sürig gesagt, „weil es hier keine Verurteilung geben
       wird.“ Damit sollte er recht behalten, am Ende wird er freigesprochen.
       
       Drei Verhandlungsstunden und fünf Zeugenaussagen dauert es, bevor das
       Gericht am Mittwoch in Delmenhorst dieses Urteil fällt. In einem Verfahren,
       in dem es um verletzte männliche Eitelkeit geht, ums Rechthaben natürlich
       und irgendwie auch um [1][Rassismus bei der Polizei], eine Debatte, für
       deren Austragung es allerdings bessere Orte als das Amtsgericht Delmenhorst
       gibt.
       
       Eigentlich sollte der Staat für so etwas kein Geld ausgegeben müssen,
       findet auch der Staatsanwalt, weswegen er mehrfach versucht, Sürig zum
       Einlenken zu bewegen. „Sie sind zwei gestandene Männer, die sich an den
       Karren gefahren sind“, hat er jetzt gerade gesagt, da hat allerdings der
       eine dieser beiden Männer, ein Delmenhorster Polizist, den Saal bereits
       wieder verlassen. So hört nur Sürig seine Worte.
       
       Der 57-Jährige ist ein auf Migrationsrecht spezialisierter Bremer
       Rechtsanwalt, aber in diesem Verfahren sitzt er selbst auf der Anklagebank.
       Er soll am 4. Dezember 2018 den Polizisten „Rassist“ genannt haben, der ihn
       deshalb wegen Beleidigung angezeigt hat. Die Staatsanwaltschaft, deren
       Vertreter heute so an einer Einstellung gelegen ist, hätte das Verfahren
       nicht eröffnen müssen – und sie hätte auch nicht Revision einlegen müssen,
       nachdem Sürig vor einem Jahr vom Amtsgericht Delmenhorst schon einmal
       freigesprochen worden war.
       
       ## Empörung auch vier Jahre später
       
       Und auch Mark S. hätte sich fragen können, ob seine Anzeige notwendig
       gewesen ist. Aber auch als er heute, vier Jahre später, als Zeuge über den
       Vorfall spricht, steht ihm die Empörung ins Gesicht geschrieben. „Er hat
       mich angeguckt und wörtlich als 'Rassist’ tituliert“, erzählt er. Immer
       wieder wiederholt er den Satz und betont, Sürig habe ihn „persönlich“
       angesprochen.
       
       Einmal spricht er Sürig während seiner Aussage direkt an. „Das ist eine
       Unverschämtheit“, sagt er zu ihm. In 30 Jahren als Polizist sei er oft
       beleidigt worden, aber „so eine Schweinerei“ habe er noch nie erlebt. „Sie
       sind ja kein dummer Mensch, Sie haben Jura studiert“, sagt der 51-Jährige
       zu Sürig, „was fällt Ihnen ein, mich als Rassisten zu bezeichnen?“
       
       Ob Sürig ihn allerdings tatsächlich so genannt hat, wird weder aus seiner
       Aussage noch aus der anderer Zeugen deutlich, Sürig streitet es ab, der
       Richter hält es für erwiesen. Sürig könnte auch etwas gesagt haben wie:
       „Wenn Sie solche Worte wählen, dann ist das rassistisch.“ Denn damals vor
       vier Jahren, als er das R-Wort benutzt haben soll, hatte sich Sürig
       seinerseits sehr aufgeregt. Er war als Verteidiger an einem Verfahren gegen
       [2][Mitglieder der Familie Miri] beteiligt, Mark S. hatte als Zeuge
       ausgesagt.
       
       Sürig, darin besteht Einigkeit bei allen Beteiligten, hatte dem
       Polizeihauptkommissar vorgehalten, er habe in seinem Bericht [3][vom
       „Miri-Clan“ gesprochen] und damit eine Formulierung verwendet, die
       nahelegt, jemand werde aufgrund seiner ethnischen Zugehörigkeit kriminell.
       Daraufhin habe Sürig einen minutenlangen Monolog über Sippenhaft und
       NS-Strafjustiz gehalten, sagt Mark S. Ein Zeuge, der damals als
       Staatsanwalt im Gericht war, bestätigt diese Wahrnehmung.
       
       ## Es geht um den „Clan“-Begriff
       
       Wer Sürig schon einmal in einem Verfahren erlebt hat, kann sich das
       bildlich vorstellen. [4][Er drischt auf die hässlichen Fratzen von
       Rassismus] und Faschismus ein, kaum blicken sie um die Ecke. „Ooooho“,
       stöhnt er jetzt, „und damit wird man Richter in Oldenburg!“ Damit meint er
       den Staatsanwalt im Zeugenstand, der mittlerweile als Richter arbeitet. Der
       sagt, er habe es damals nicht für nötig gehalten, zu intervenieren, als
       Mark S. in seiner Zeugenbefragung ebenfalls den Clan-Begriff verwendete.
       „Das hatten Sie doch bereits getan“, sagt er zu Sürig.
       
       Mark S. erinnert sich, dass er im Zeugenstand zunächst gesagt hatte: „Das
       ist eine Familie, die Straftaten begeht.“ Er habe sich dann – vermutlich
       aufgrund von Sürigs Intervention, das kann niemand mehr so richtig
       rekonstruieren – verbessert, „das ist eine Familie, deren Mitglieder
       Straftaten begehen“.
       
       Als Verteidiger sei es ihm darum gegangen, mit der [5][Kritik am
       Clan-Begriff] auf selektive Wahrnehmung und Rassismus bei der Polizei
       hinzuweisen, sagt Sürig. Das Gericht folgt ihm darin und wertet in seinem
       Urteil seinen Satz über Rassismus nicht als Beleidigung, sondern als
       Meinungsäußerung sowie als Bestandteil seiner damaligen
       Verteidigungsstrategie.
       
       ## In eigener Sache ermittelt
       
       Wie recht Sürig mit der selektiven Wahrnehmung hat, zeigt sich darin, dass
       Mark S. zwei Männer, deren Auseinandersetzung mit einem Mitglied der
       Familie Miri der Auslöser für das Verfahren vor vier Jahren war, nur als
       „Flüchtlinge“ bezeichnet. Eine Eigenschaft, die für den Vorfall unerheblich
       ist, weil es darum gegangen war, wer eine rote Ampel ignoriert hatte.
       
       Doch auch Sürigs Wahrnehmung scheint aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit
       selektiv zu sein. Als Fachanwalt für Migrationsrecht hat er zu oft erlebt,
       [6][wie seine Mandant:innen unter strukturellem und individuellem
       Rassismus] leiden. An diesem Tag in Delmenhorst stellt er in Frage, dass
       Richter und Staatsanwalt – beide deutlich jünger als er – auf dem Boden des
       Grundgesetzes stehen würden, weil sie den Clan-Begriff nicht so
       problematisch finden wie er.
       
       Was den Polizisten Mark S. geritten hat, Sürig anzuzeigen, bleibt bis zum
       Schluss unklar. Zumal er schon damals selbst nicht wusste, was der konkret
       gesagt hatte, irgendwas mit Rassismus, das war ihm hängen geblieben.
       Deshalb hatte er ein paar Tage später die damals vorsitzende Richterin
       aufgesucht, um sie zu fragen, ob und was sie gehört hatte.
       
       Die wiederholte am Mittwoch als Zeugin, was sie Mark S. damals schon gesagt
       hatte: Sie habe es nicht mitbekommen. Dasselbe sagte ihm die
       Gerichtssekretärin, die als Protokollantin dabei gewesen war und die er
       kurz darauf anrief. „Ich habe es nicht verstanden und deshalb nicht ins
       Protokoll geschrieben“, sagt sie am Mittwoch als Zeugin.
       
       Spätestens an dieser Stelle fragt man sich, ob der Polizist sich damals
       wirklich in seiner Ehre verletzt fühlte oder ob es ihm darum ging, gezielt
       den linken Bremer Rechtsanwalt zu attackieren. Denn Mark S. bat die
       Sekretärin, das Protokoll so zu ändern, dass es zu seinem Vorwurf passt. So
       beschreibt es sichtlich befremdet ein weiterer Zeuge, ein Delmenhorster
       Amtsrichter. Dem hatte die Sekretärin vom Anruf des Polizisten erzählt.
       „Erstaunlich“ habe er es auch gefunden, dass Mark S. sie überhaupt
       angerufen hatte, von seinem Diensttelefon, er gab sich auch als
       Polizeihauptkommissar zu erkennen.
       
       „Sie haben in eigener Sache ermittelt“, wirft ihm Sürigs Verteidiger vor,
       als Mark S. jetzt im Zeugenstand steht. „Das ist nicht verboten“, sagt Mark
       S. – und grinst.
       
       15 Feb 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Vorwuerfe-gegen-Bremer-Polizei/!5825453
 (DIR) [2] /Weniger-Verbrechen/!5052785
 (DIR) [3] /Bekaempfung-von-Clan-Kriminalitaet/!5895850
 (DIR) [4] /Hausverbot-beim-Bremer-Jugendamt/!5359595
 (DIR) [5] https://www.zeit.de/gesellschaft/2020-05/diskriminierung-clan-kriminalitaet-razzien-polizei-rassismus
 (DIR) [6] /Abschiebung-in-ein-unbekanntes-Land/!5815987
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Eiken Bruhn
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Rassismus
 (DIR) Prozess
 (DIR) Schwerpunkt Polizeigewalt und Rassismus
 (DIR) Delmenhorst
 (DIR) Black Lives Matter
 (DIR) Emsland
 (DIR) Jugendamt
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Protest gegen rassistische Gewalt: Parallelen zum Fall George Floyd
       
       In Bremen haben Securities der Bahn einen Schwarzen Mann zu Boden gebracht
       und festgehalten. Ein Bündnis protestiert gegen rassistische Gewalt.
       
 (DIR) Abschiebung in ein unbekanntes Land: Razzia bei den Eltern
       
       Im Emsland hat die Ausländerbehörde nachts versucht, einen jungen, in
       Deutschland geborenen und aufgewachsenen Mann in den Kosovo abzuschieben.
       
 (DIR) Hausverbot beim Bremer Jugendamt: Wer schreit, kriegt unrecht
       
       Ein Bremer Rechtsanwalt, der Mitarbeiter des Jugendamtes für befangen hält,
       bekam Hausverbot. Nun entscheidet ein Gericht, ob das rechtens war.