# taz.de -- Russische Gesellschaft im Krieg: Ein Jahr Angst vor der Zukunft
       
       > Was hat der Angriff gegen die Ukraine mit der russischen Gesellschaft
       > gemacht? Wie prägen Kriegsnarrative den Alltag? Einige persönliche
       > Gedanken.
       
 (IMG) Bild: „Verteidigung des Vaterlandes“: rückwärtsgewandte Veranstaltung am 23.02.2023 in Moskau
       
       Hass, Angst und Hoffnung. Das sind die drei Wörter, die mein persönliches
       2022 verkörpern, das am 24. Februar begann. Ich möchte hier über jedes von
       ihnen erzählen.
       
       Mein Land hat eine aggressive Militärkampagne gegen das Nachbarland
       begonnen. Nun ist es nicht so, dass so etwas noch nie vorher passiert wäre.
       Uns, damals noch sowjetischen Kindern, hat man beigebracht, dass es immer
       der Angreifer ist, der Unrecht hat. Und sogar beim Krieg in Afghanistan
       wurde behauptet, es handele sich um Hilfe, die wir der Führung eines
       befreundeten Staates auf ihre Bitte hin gewährten. Es gab überhaupt keinen
       Anlass für diese Aggressionen gegen die Ukraine. Außer der Anschuldigung
       eines möglicherweise bevorstehenden Angriffs. Aber genau das ist es, was
       man der Gesellschaft weismachen wollte. Und genau daraus entstand der Hass.
       
       ## Hass, der jeden Krieg begleitet
       
       Der Hass ist der unveränderliche Begleiter eines jeden Krieges in jedem
       beliebigen Staat. Aber soweit ich mich erinnere, war der größte Teil des
       Hasses nicht gegen die Feinde gerichtet (wer immer das auch sein soll),
       [1][sondern gegen die eigenen Landsleute]. Diejenigen, die den Behörden
       unangenehme Fragen stellen und versuchen, die wahren Gründe für die
       Kampfhandlungen herauszufinden.
       
       Nun, ich persönlich kann weder an eine Dekommunisierung noch an eine
       Entnazifizierung glauben. Und im letzten halben Jahr sind sogar die
       aggressivsten Propagandisten von diesen Formulierungen abgerückt. Aber wenn
       die Nachbarn solche Fragen stellen, oder Bekannte oder Menschen, die man
       zufällig trifft, dann schlägt ihnen Hass entgegen. Niemand kann die Frage
       beantworten, warum gegen die „Nazis in der Ukraine“ echte Nazi-Bataillone
       kämpfen, insbesondere die „Rusitsch“, paramilitärische neonazistische
       Sabotageangriffs-Aufklärungsgruppe.
       
       Warum irritiert niemanden die [2][Verherrlichung von gesetzlich verbotenen
       privaten Militäreinheiten?] Und warum können diejenigen, die offen um die
       ukrainischen Kinder trauern, die während des Beschusses ums Leben kamen,
       einfach für mehrere Tage festgenommen werden?
       
       ## Angst vor der Zukunft
       
       Solche Fragen bringen Hass hervor. So wenig es Antworten darauf gibt, so
       schnell arten solche Gespräche in Streit oder sogar Schlägereien aus. Aber
       auch dies hat keinen Einfluss auf die Definition des Begriffes „Recht“,
       weil die ANGST sich zu deutlich zeigt. Genauer gesagt: die Angst vor der
       Zukunft, vor dem Fortschritt.
       
       Das ganze Jahr lang haben offizielle Medien über die „Wiederherstellung der
       historischen Gerechtigkeit“ berichtet, über die „Rückbesinnung auf die
       Wurzeln“, den „Kampf für die traditionellen Werte“ und den „Krieg für das
       große Russland, das wir verloren haben“. Aber nie hat jemand bisher
       erzählt, was mein Land jetzt vorhat. Es gibt kein Bild von der Zukunft,
       keine Pläne für wenigstens die zehn nächsten Jahre, absolut keine Idee
       davon, wie sich Russland entwickeln wird, nichts über die Wissenschaft und
       größere Leistungen.
       
       ## Hoffnung und Fortschritt
       
       Jetzt sind wir, ist unser Land in einem solchen Zustand, dass wir den
       Nachbarn und der Welt absolut nichts mehr bieten können, außer vielleicht
       Atomraketen. Aber Atomraketen sind keine Ideologie, und das gegenwärtige
       Russland hat zu ihnen kaum noch eine Beziehung, da sie alle noch in der
       Sowjetunion entwickelt wurden. In den dreißig Jahren danach ist nichts
       prinzipiell Neues entstanden, weder im technischen noch im kulturellen
       Bereich.
       
       Aber die Versuche, jetzt im Eilverfahren diese Löcher mit einer Pionier-
       oder vorimperialistischen Ideologie zu stopfen, werden vermutlich schon im
       Entwicklungsstadium scheitern. Denn das herrschende Regime fürchtet nichts
       so sehr wie den Fortschritt. Es ist darauf nicht vorbereitet und möchte ihn
       auch nicht. Aber [3][lange nicht alle Menschen in Russland sind der
       gleichen Meinung]. Und genau darin liegt auch HOFFNUNG.
       
       Aus dem Russischen [4][Gaby Coldewey]
       
       Dieser Text ist Teil der [5][taz Panter Beilage] zur taz-Sonderausgabe „Ein
       Jahr Krieg in der Ukraine“
       
       25 Feb 2023
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Boris Epchiev
       
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