# taz.de -- „Antihero“ aus allen Boxen: Das Lied des Jungen
       
       > Der ukrainische Junge stand in einem Elektronik-Laden und hörte sein Lied
       > beim Boxen-Test. Es war der Beginn einer fast wortlosen Begegnung.
       
 (IMG) Bild: Probates Mittel der Kommunikation: Lautsprecher, aus denen Musik kommt
       
       Draußen beginnt der Frühling und drinnen spielt Musik. Ein etwa 14-jähriger
       Junge im Media Markt in Hamburg-Altona steht versunken vor den tragbaren
       Bluetooth-Lautsprechern und tippt auf seinem Handy. Aus einem türkisem
       Lautsprecher hallt ein Lied, gefühlvoll, melancholisch. Es gefällt mir.
       
       „Was ist das für ein Lied“, frage ich ihn. Er schaut mich an und schüttelt
       den Kopf: „Ukraine“, sagt er, als würde das alles erklären. Seine Mimik ist
       unbeweglich. Ich zeige auf sein Handy und versuche ihm begreiflich zu
       machen, dass ich gern wissen würde, wie das Lied heißt, was er spielt.
       
       Er zeigt mir die Anzeige, aber die Schrift ist kyrillisch, ich kann sie
       nicht in mein Handy eingeben. Der Junge macht mir mit Gesten klar, dass ich
       eine Musik-App auf meinem Handy öffnen soll. In der Suchmaske tippt er
       sofort auf die mündliche Diktierfunktion. Es sieht geübt aus, als würde er
       das häufig machen, um so zwischen kyrillischer Schrift und lateinischer
       Schrift zu navigieren: „Antihero“, sagt er dann in mein Handy hinein. Seine
       Stimme klingt brüchig und rau, er scheint im Stimmbruch zu sein.
       
       Sofort spült der Algorithmus „Antihero“ [1][von Taylor Swift] mit mehr als
       118 Millionen Aufrufen als Ergebnis hoch. Wir schauen beide ratlos auf das
       Lied. Der Künstler seines Lieds heißt jedoch Elman. Da er hier unbekannter
       ist und der Liedtitel kyrillisch geschrieben, wird er nicht sofort
       gelistet. Ich gebe „Elman“ in einer anderen Musikdatenbank ein.
       
       Dort erscheinen verschiedene Lieder von ihm. Wir vergleichen die
       kyrillischen Buchstaben mit dem Titel auf dem Handy und finden damit
       schließlich das Lied. Wir freuen uns. Die Mimik des Jungen bleibt jedoch
       weiter recht ernst und unbeweglich. Als ich weggehe, nimmt er sofort wieder
       den Platz am Tisch vor den Boxen ein. Ich merke jetzt, dass ich ihn mit
       meiner Frage beim [2][Musikhören] unterbrochen habe, beim Träumen vor den
       Boxen.
       
       Etwas später lasse ich mich von einem Mitarbeiter bei den Lautsprechern
       beraten. Wir koppeln mein Handy an eine Box, um den Sound zu testen. Den
       Jungen sehe ich jetzt nicht mehr. Er scheint gegangen zu sein. Ich wähle
       für den Lautsprechertest wieder sein Lied „Antihero“ aus, das gerade noch
       auf meinem Handy abspielbar ist.
       
       Laut wummert der Song durch die Lautsprecher und beschallt die ganze
       Abteilung.
       
       Da sehe ich etwas weiter neben uns den Jungen stehen. Er blickt uns an.
       Neben ihm steht eine Frau, wahrscheinlich seine Mutter, und ein jüngeres
       Geschwisterkind. Er sagt etwas zu der Frau. Sie lächeln. Drei Menschen, die
       schüchtern wirken, die sich die Boxen, die hier ausgestellt sind, nur
       anzuschauen scheinen. Aber was weiß ich in dem Moment schon.
       
       Während ich sie anschaue, denke ich, wer sich durch den [3][russischen
       Angriffskrieg] alles auf die Flucht machen musste. Wer hierhergekommen ist
       mit einer Geschichte, einem eigenen Musikgeschmack und Träumen, die oft gar
       nicht so sichtbar werden.
       
       Der Mitarbeiter und ich gehen nun zu anderen Lautsprechern, um sie zu
       testen. Bei jedem einzelnen lasse ich nun das Lied des Jungen laufen. Ich
       spüre, dass ich ihm eine Freude machen will. Dass sein Lied hier auch durch
       das Handy einer Fremden, der er die Musik gezeigt hat, nun bei allen hier
       drin Gehör findet. Später am Ausgang sehe ich die Familie noch einmal. Wir
       nicken uns kurz zu.
       
       Zu Hause suche ich wieder nach dem Lied und finde das Musikvideo dazu im
       Kanal von Atlantic Records Russia. 41 Millionen Aufrufe hat [4][das Video].
       
       Der Künstler ist in Aserbaidschan geboren. Den Jungen scheint die
       musikalische Nähe des Sängers zu Russland nicht gestört zu haben oder er
       hat sie nicht beachtet. Ich lasse den Liedtext nun [5][im Internet
       übersetzen]. „Ich bin ein einfacher Antiheld. Du bist gut“, singt der
       Künstler. Es ist ein Liebeslied.
       
       1 Apr 2023
       
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