# taz.de -- Deutsche und der Ukrainekrieg: Vernachlässigte Lebensrealitäten
       
       > In Deutschland gibt es viele Meinungen zum Ukrainekrieg. Empathie gibt es
       > wenig. Ukrainischstämmige Mitbürger_innen fühlen sich zunehmend fremd.
       
 (IMG) Bild: Demonstration zum Jahrestag des Kriegsbeginns in der Ukraine
       
       Vor Kurzem schickte mir ein Studienfreund nach einem knappen Jahr
       Funkstille kommentarlos einen Text des indischen Philosophen Krishnamurti,
       der mich vermutlich zum Pazifismus bekehren und der „Spirale des Hasses und
       der Gewalt“ entreißen sollte, an die er mich recht schnell nach Beginn des
       russischen Angriffskriegs verloren glaubte. Als Panzerkolonnen auf meine
       Geburtsstadt Kyjiw zurollten und die ersten Raketen in Wohnhäuser
       einschlugen, hatte er mir von seinen Kindheitsängsten vor dem Krieg erzählt
       und sich Trost von mir erhofft.
       
       Andere deutsche Freunde haben sich [1][seit Kriegsbeginn] gar nicht erst
       gemeldet. Eine einzige Person aus meiner Schulzeit schrieb mir – wegen
       etwas Beruflichem. Einige Kollegen meiner Mutter schauen jetzt lieber weg,
       als sie zu grüßen. Bei unserer Ankunft in Deutschland vor knapp 30 Jahren
       grüßten uns auch viele unserer Nachbarn nicht. Wir glaubten mittlerweile
       dazuzugehören. Jetzt erzählen mir Menschen mit ähnlichen Biografien immer
       häufiger, wie fremd sie sich in Deutschland fühlen.
       
       Wenn ich #DasIstNichtUnserKrieg an Berliner Wänden sehe, möchte ich nicht
       nur inhaltlich widersprechen – führt doch das russische Regime
       selbsterklärt einen Krieg gegen den Westen –, sondern erkenne auch ein
       Signal an mich und Millionen andere: Das ist nicht euer Land. Es fühlt sich
       fast so an, als würde man uns die Schuld dafür geben, dass unser
       Herkunftsland zerstört wird.
       
       ## Menschenrechte als Verhandlungsmasse
       
       Der Krieg und die Leidtragenden werden häufig zum Vorwand für eigene
       Belange. Wenn beklagt wird, dass [2][ukrainische Kriegsflüchtlinge]
       vermeintlich weiße Privilegien genießen, klingt es, als würden sie zum
       strukturellen Rassismus beitragen. Solche Vorwürfe heben weder die
       Ungerechtigkeiten auf noch helfen sie den Benachteiligten. Stattdessen
       machen sie Menschenrechte zur Verhandlungsmasse. Dabei spielt es keine
       Rolle, wie es Betroffenen mit diesen Diskussionen geht.
       
       Vor dem Krieg lebten ungefähr 3,5 Millionen Menschen mit
       Migrationshintergrund aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion in
       Deutschland. Nahezu allen von uns hat der Krieg den Boden unter den Füßen
       weggezogen. Jenseits der politischen Lager ziehen sich Risse durch
       Gemeinschaften und Identitäten, gezeichnet von Trauma, Verlust und Scham.
       Zusammenhalt ist selten geworden, stattdessen finden wir uns in Konkurrenz
       zueinander. Auch Worte des Mitgefühls sind selten, im Gegensatz zu
       Meinungen.
       
       In vielen Fällen hat der Staat Einwanderer unterstützt, auch in meinem. In
       vielen Fällen ist er daran gescheitert. Darüber gibt es wichtige Debatten.
       Ausgeklammert wird jedoch, dass der Staat aus Menschen besteht, die den
       Ankommenden auf Augenhöhe begegnen sollten, bereit, ihnen Empathie und Raum
       zu geben. Daran scheitert die deutsche Nachkriegsgesellschaft – daran
       scheitern wir – ein ums andere Mal. Was programmatisch als Diversität
       postuliert wird, erweist sich in der Praxis oft als Funktionalisierung von
       Individuen und Projektion. Immer weiter wächst die Kluft zwischen
       vernachlässigten Lebensrealitäten.
       
       ## Selbstzensur der Betroffenen
       
       Während ich in letzter Zeit häufiger wohlwollend auf meinen unangemessen
       scharfen Ton und meine Bevorteilung hingewiesen werde, begegne ich vielen
       Menschen mit Wurzeln in Osteuropa, die sich selbst verbieten, über den
       persönlichen Schmerz im Zusammenhang mit dem Krieg zu reden. Und
       gleichzeitig bin ich regelmäßig mit mäandernden Monologen Unbeteiligter
       über die eigene Ratlosigkeit und Verzweiflung konfrontiert, als säßen wir
       in ihrer Therapiesitzung.
       
       Neulich endete ein solcher Monolog bei einem internationalen Seminar zu
       Friedensarbeit in der Ukraine mit der Schlussfolgerung, man müsse unbedingt
       den Betroffenen zuhören. Nur dass dafür keine Zeit mehr blieb.
       
       3 Apr 2023
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Irina Bondas
       
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