# taz.de -- Ex-PEN-Präsidentin über Taiwan und China: „Taiwan könnte ein Vorbild sein“
       
       > Die Menschenrechtsaktivistin und frühere PEN-Präsidentin Tienchi
       > Martin-Liao erlebte die Diktatur in Taiwan. Sie spricht über China als
       > Gefahr.
       
 (IMG) Bild: Rotes Idyll: Blütenmeer in der taiwanischen Hafenstadt Kaohsiung
       
       taz am wochenende: Frau Martin-Liao, in der Meerenge von Taiwan kam es erst
       vor wenigen Tagen zu einer Konfrontation zwischen einem US-amerikanischen
       und einem chinesischen Schiff. Wie ernst muss man die chinesischen
       Drohgebärden nehmen? 
       
       Tienchi Martin-Liao: Chinesische Drohgebärden sind in Taiwan nichts Neues,
       das geht seit Jahrzehnten so. In letztem August jedoch, [1][als die
       US-Demokratin Nancy Pelosi Taiwan besucht hat, ist die Situation
       eskaliert.] Früher gab es zumindest die Regelung, dass chinesische
       Kriegsschiffe oder Flugzeuge nicht die Mitte der Meerenge von Taiwan
       überqueren. Jetzt kreisen tagtäglich Kriegsschiffe und Militärflugzeuge um
       Taiwan.
       
       Der Ukrainekrieg hat sicher auch in Taiwan Ängste vor einer Invasion
       geschürt, oder? 
       
       China ist nicht Russland. China hat international viel mehr Gewicht, die
       sogenannte „Volksbefreiungsarmee“ ist die zahlenmäßig größte Armee der
       Welt, auf höchstem Hightech-Standard. Die Bevölkerung Taiwans lebt seit
       Jahr und Tag unter dieser Bedrohung, ihnen ist die Gefahr bewusst. Trotzdem
       zeigen sie eine gewisse Gelassenheit, was ich sehr wichtig finde.
       
       Regierungen in Europa und den USA zählen auf eine gute Beziehung zu China.
       Das hat zur Folge, dass grobe Menschenrechtsverletzungen wie die
       Inhaftierung von Millionen Uiguren in Xinjiang zwar kritisiert werden, aber
       kaum ernsthafte Konsequenzen für China mit sich bringen. Rechnet Taiwan im
       Kriegsfall mit der Unterstützung anderer Staaten? 
       
       Das ist nicht zu vergleichen. Obwohl es mit 11 Millionen sehr viele
       Menschen sind, handelt es sich bei den Uiguren um eine ethnische
       Minderheit. Die Uiguren haben eine ganz andere Kultur, Religion, andere
       Traditionen. Peking vertritt eine unmenschliche Minderheitenpolitik, nicht
       nur den Uiguren, auch den Tibetern und den Menschen in der Inneren Mongolei
       gegenüber. Taiwan ist jedoch spätestens [2][seit 1949 ein unabhängiges
       Land, als Tschiang Kai-schek aus China vor den Kommunisten floh] und den
       Regierungssitz der „Republik China“ nach Taiwan verlagerte. Das ist bis
       heute der internationale Name Taiwans, eines freien Landes.
       
       Auf dem Demokratieindex von 2022 belegt Taiwan den 10. Platz, vier Plätze
       vor Deutschland. 
       
       Und dennoch schrumpfen international die Handlungsoptionen Taiwans immer
       weiter. Nur 14 Staaten erkennen Taiwan an, ein Land, das sich aus eigener
       Kraft von einer, ich nenne es mal „weichen Diktatur“ zu einem
       demokratischen Land entwickelt hat. Dass das international, insbesondere
       von den westlichen Staaten, nicht anerkannt wird, ist eine Schande. Aber
       man muss natürlich realistisch bleiben: Wer möchte schon mit China einen
       Krieg führen?
       
       Das heißt, das Beste für Taiwan ist, alles bleibt genauso wie bisher, um
       China nicht zu provozieren? 
       
       Ja, den Status quo erhalten. Was ich zudem glaube, hoffe: Selbst, wenn
       China Taiwan versuchen würde einzunehmen, würde das nicht so blutig
       ablaufen wie in der Ukraine. Peking kann es sich nicht leisten, die eigene
       Bevölkerung umzubringen. Natürlich sind wir Taiwaner, aber wir sprechen die
       gleiche Sprache, wir haben die gleiche Kultur wie die Chinesen. Ich denke,
       es gibt für Peking andere Methoden, Blockaden, digitale Attacken, um Taiwan
       zu schwächen.
       
       Wie steht es um Fake-News-Kampagnen, spielen die im Konflikt eine Rolle? 
       
       Was eher eine Rolle spielt, ist die Einflussnahme Chinas auf taiwanische
       Medien. Es gibt viele Printmedien, Talkshows und Nachrichtensender, die
       sehr chinafreundlich sind. Ob aus Opportunismus oder sich daraus ergebenden
       persönlichen Vorteilen, möchte ich nicht beurteilen. Das Problem ist, dass
       die Taiwaner nicht mehr wissen, was es bedeutet, in einer Diktatur zu
       leben. Unter Tschiang Kai-schek – ich bin während seiner Regentschaft
       aufgewachsen, bin zur Schule und zur Uni gegangen – war es unangenehm. Aber
       es war keine harte Diktatur, die du tagtäglich spürst. Wenn China Taiwan
       einnimmt, ist Kritik nicht mehr möglich. Dass einigen in Taiwan ihre
       Freiheit nicht bewusst ist, macht mir Sorgen.
       
       Lassen Sie uns über die Soft-Power Kultur sprechen. Sie selbst waren bis
       vor Kurzem lange Zeit Präsidentin des taiwanischen PEN. 
       
       Wir sind das unabhängige chinesische PEN-Zentrum. Das hat mit Taiwan
       eigentlich nichts zu tun, steht aber falsch im Internet, da haben Sie
       recht. Etwa die Hälfte unserer 200 Mitglieder lebt in China, die andere
       Hälfte im Exil. Wir versuchen, unsere Kollegen in China, Autoren und
       Journalisten, zu unterstützen und Aufmerksamkeit darauf zu lenken, wenn
       wieder jemand verhaftet worden ist.
       
       Kann die Mitgliedschaft im PEN für in China lebende Autor:innen
       problematisch werden? 
       
       Ja. Überwacht werden unsere Mitglieder in China alle. Einige werden immer
       wieder zur Polizei bestellt, erfahren psychischen Terror. Wenn es Unruhen
       im Land gibt, wie etwa beim White Paper Movement, als gegen die
       Coronamaßnahmen protestiert wurde, oder wenn hoher ausländischer Besuch
       nach China kommt, dann werden einige unserer Leute abtransportiert, raus
       aus Peking, und machen Zwangsurlaub in Polizeibegleitung. Der chinesische
       Staat hat allein wegen seiner Schriftsteller sehr hohe Kosten.
       
       In Taiwan gibt es mit der konservativen, aktuell zweitstärksten Kuomintang
       (KMT) eine Partei, die sich als nationalistisch versteht, aber gleichzeitig
       für eine Annäherung an China eintritt. Was für ein Verständnis von
       Nationalismus hat man in Taiwan? 
       
       Da muss man unterscheiden: taiwanischer oder chinesischer Nationalismus.
       Ungefähr 14 Prozent der taiwanischen Bevölkerung kommen direkt aus China.
       Auch meine Mutter, meine Geschwister und ich sind 1949 nach Taiwan
       übergesiedelt. Mein Vater, ein KMT-General, hat den Befehl von Tschiang
       Kai-schek bekommen, weiter in der Provinz Sichuan zu bleiben, um gegen die
       Kommunistische Armee zu kämpfen. Als Mao und die KP die Macht im Land
       übernommen hatten, kam mein Vater als „Kriegsgefangener“ ins
       Gefangenenlager, wo er 1971 starb. Die meisten Taiwaner sind jedoch vor
       über 300 Jahren während der Qing-Dynastie auf die Insel gekommen. Die
       Taiwaner heute haben also ihre eigene Identität, aber eben nur teilweise.
       In der Schule zum Beispiel lernten wir nur die chinesische Geschichte und
       Geografie.
       
       Und heute? 
       
       Heute ist das anders, die Schulbildung bezieht Taiwan mehr ein. Sie haben
       vorhin nach Nationalismus gefragt, ich würde es unter dem Punkt des
       Identitätsproblems sehen: Als was identifiziert sich ein in Taiwan lebender
       Mensch? Peking weiß sehr gut, wie es die Nationalismuskarte spielen muss.
       Es heißt dann: Wir sollten stolz darauf sein, Chinesen zu sein, Bürger
       eines großen und starken Landes. Andererseits beobachte ich auch, [3][dass
       durch die Bedrohung durch China viele Leute sich stärker auf ihre Identität
       als Taiwaner besinnen.]
       
       Sie haben sich viel mit dem Laogai-System in China beschäftigt. Während der
       Regentschaft Tschiang Kai-scheks gab es auch in Taiwan solche
       Umerziehungslager. Ist diese Geschichte in Taiwan aufgearbeitet worden? 
       
       Der weiße Terror war viele Jahre ein Tabuthema in Taiwan. Taiwanische
       Politiker und Oppositionelle sind auf der „Grünen Insel“ gefangen gehalten
       worden. Das ist praktisch unser Archipel Gulag. Doch der Nachfolger
       Tschiang Kai-scheks, sein Sohn Tsching-kuo, hat kurz vor seinem Tod 1988
       Taiwan freigegeben. Er hat den Ausnahmezustand aufgehoben, die
       Pressefreiheit eingeführt, andere Parteien zugelassen etc. Seit Ende der
       80er Jahre ist Taiwan langsam aus dem Schatten der Diktatur herausgetreten.
       Ab den 90er Jahren wurde unter der neuen Regierung begonnen, die Geschichte
       aufzuarbeiten. Es wurde viel getan, um die Familien der Verfolgten und
       Ermordeten zu entschädigen. Ich denke, die jüngere taiwanische Geschichte
       könnte ein Vorbild für China sein. Die chinesischen Kommunisten haben
       unzählige Verbrechen begangen. Bis heute darf man nicht darüber sprechen.
       Taiwan ist ein Beispiel dafür, dass es möglich ist, von einer Diktatur
       friedlich in eine Demokratie überzutreten. Das muss man international doch
       anerkennen, das darf nicht verloren gehen.
       
       16 Jun 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Konflikt-um-Taiwan/!5869998
 (DIR) [2] /Exotismus/!5029025
 (DIR) [3] /Literatur-aus-Taiwan/!5807369
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Julia Hubernagel
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Taiwan
 (DIR) China
 (DIR) Demokratie
 (DIR) Diktatur
 (DIR) Autoren:innenverband  PEN
 (DIR) Taiwan
 (DIR) Goethe-Institut
 (DIR)  Tsai Ing-wen
 (DIR) Buch
 (DIR) Taiwan
 (DIR) Taiwan
 (DIR) Spielfilm
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Kunst in Taiwan: Postkolonial heißt hier konservativ
       
       Die jüngere Generation in Taiwan kennt nur das Leben in der Demokratie. Die
       Kunst zeigt sich von der Bedrohung angenehm unbeeindruckt.
       
 (DIR) Taiwanesischer Dramaturg über China: „Hongkong ist Taiwans Spiegel“
       
       Der taiwanische Dramaturg Yi-Wei Keng warnt vor der Bedrohung durch Peking.
       Damit der Inselstaat nicht gespalten werde, sei die Kultur nun umso
       wichtiger.
       
 (DIR) 78. Jahrestag des Kriegsendes in Asien: Gespaltene Erinnerung
       
       In Taiwan kämpfen Opfer der Kolonialherrschaft gegen das Vergessen. Doch
       die Regierung ist Japan gegenüber sehr vorsichtig.
       
 (DIR) Essayband von Schriftsteller Teju Cole: Persönlich, aber nicht privat
       
       In seinen Essays entdeckt Cole in der westlichen Tradition heilende Kräfte.
       Sie sollen auch wirken, wo koloniale Machtverhältnisse noch fortbestehen.
       
 (DIR) Konflikt um Taiwan: Bedrohtes Eiland
       
       Seit dem Taiwan-Besuch von Nancy Pelosi ist Peking auf Eskalationskurs.
       Warum? Und was könnte das für die Welt bedeuten? Ein Überblick.
       
 (DIR) Literatur aus Taiwan: Unerhörtes aus Taiwan
       
       In der jungen Generation in Taiwan wächst die Sorge vor dem aggressiven
       Festland-China, die Politik hält Einzug in Gedichte. Lesung in Berlin.
       
 (DIR) Taiwanesischer Film „A Sun“ auf Netflix: Der Fluch, den Tag zu nutzen
       
       Die taiwanische Familientragödie „A Sun“ von Chung Mong-hong ist ein
       unberechenbar erzählter Film. Netflix hat ihn in seinem Angebot etwas
       versteckt.