# taz.de -- Deutsche Firmen in China ernüchtert: Wandel des Handels
       
       > Lange profitierten ausländische Firmen in China von niedrigen Löhnen und
       > einem robusten Wachstum. Doch die Euphorie ist verflogen.
       
 (IMG) Bild: In Taicang haben sich 500 deutsche Firmen angesiedelt. Es gibt ein Fachwerk-Viertel und Sauerteigbrot
       
       TAICANG taz | Als sich der Automobilzulieferer Kern-Liebers eine Autostunde
       nördlich von Schanghai niederließ, starteten die Baden-Württemberger mit
       gerade einmal sechs Mitarbeitern. Rund 30 Jahre später empfängt Simon Veit,
       ein hemdsärmeliger Managertyp mit festem Handschlag, vor einem hochmodernen
       Produktionswerk, in dem rund 800 Angestellte auf einer Fläche von über fünf
       Fußballfeldern arbeiten. „Bis etwa 2018 etwa ging alles mit chinesischer
       Geschwindigkeit voran“, sagt Regionalleiter Veit, während er mit großen
       Schritten durch die hell beleuchteten Korridore des Fabrikgeländes führt.
       Mit „chinesischer Geschwindigkeit“ meint Veit vor allem eins: schnell.
       Bauprojekte wurden realisiert, die in Europa ein Vielfaches an Zeit kosten
       würden.
       
       In den letzten Jahren jedoch, sagt Veit, habe das rasante Tempo deutlich
       nachgelassen. Der Grund: neue Steuerregelungen, [1][die Coronapandemie] und
       schließlich ein [2][weltweiter Chipmangel]. „Seither ist der Krisenmodus
       zum neuen Normalzustand geworden“, sagt der gebürtige Schramberger.
       
       Wann immer sich [3][die politischen Beziehungen verschlechtern], lässt
       China die entsprechenden Länder dies auch wirtschaftlich spüren: Als
       Australien beispielsweise 2020 eine Untersuchung zu chinesischen Fehlern am
       Beginn der Pandemie forderte, verhängte Peking – ohne es jemals offiziell
       zu machen – einen Importboykott von australischer Kohle und weiteren
       Produkten. Wenn die Bundesregierung in Berlin eine kritische Chinastrategie
       veröffentlichen oder ihren Kurs verschärfen sollte, fürchten deutsche
       Firmen also um ihr Chinageschäft.
       
       Kern-Liebers hat sich 1993 als erster Mittelständler in der damals neu
       gegründeten Industriezone angesiedelt – und damit unverhofft den
       Startschuss zu einer einzigartigen Erfolgsgeschichte abgegeben:
       Mittlerweile gibt es in der ostchinesischen Satellitenstadt knapp 500
       deutsche Firmen, darunter viele „Hidden Champions“.
       
       Als „verborgene Champions“ bezeichnet man die deutschen Mittelständler, die
       teilweise weltweit Marktführer sind, aber nur in einer kleinen
       spezialisierten Sparte und daher für die Öffentlichkeit weitgehend
       unbekannt bleiben. Kern-Liebers ist so ein klassisches Beispiel: Kaum
       jemand hat von ihnen schon mal gehört, aber in der Produktion von
       Bandfedern, die zum Beispiel in der Automobilindustrie zur Anwendung
       kommen, sind sie weltweiter Marktführer. Auch der
       Werkzeugmaschinenhersteller Trumpf oder der Automobilzulieferer Schaeffler
       sind in ihrer Sparte jeweils führend.
       
       Der Standortvorteil von Taicang liegt auf der Hand: Die Arbeitslöhne sind
       günstiger als in den großen Ostküstenmetropolen, doch gleichzeitig befindet
       sich die internationale Finanzstadt Schanghai nur 50 Kilometer entfernt.
       
       Dass sich Taicang stolz als „Heimat für deutsche Unternehmen“ bezeichnet,
       spiegelt sich im Stadtbild wider: An der Rothenburg-Uferpromenade haben die
       Behörden eine Altstadtimitation inklusive Fachwerkhäusern und Springbrunnen
       errichtet. Beim angrenzenden Wirtshaus Schindlers Tankstelle wird Eisbein
       und Sauerkraut serviert, Brezeln und Bauernbrot gibt es bei der
       benachbarten Bäckerei Brotecke. Und jedes Jahr veranstaltet das German
       Center Taicang, die Interessenvertretung der deutschen Mittelständler, ein
       Oktoberfest mit Weißbier und Brathendl.
       
       Auch der Fußball-Bundesligist FC Bayern München hat in einer örtlichen
       Schule mittlerweile ein Trainingszentrum eröffnet, um den Nachwuchs zu
       fördern. Die Lokalregierung von Taicang bezahlt den FC Bayern, dass sie die
       Nachwuchsmannschaft trainiert. Eine Win-win-Situation: Die Bayern hoffen
       auf junge Talente, die Stadt setzt auf einen Imagegewinn.
       
       „Im Jugendalter von 14 Jahren spielen die Chinesen bereits auf europäischem
       Niveau“ im Jugendbereich, sagt Matthias Brosamer, Sportchef für den
       Bundesligisten in der Volksrepublik. Das langfristige Ziel des gebürtigen
       Freiburgers ist es, bei der Jugendarbeit in Taicang einen chinesischen
       Spieler für den Vereinskader in München aufzubauen. „Ob das auch klappt,
       ist eine andere Frage“, sagt Brosamer. Der Leistungsdruck in der Schule ist
       für chinesische Jugendliche hoch, viele springen später ab, weil sie es
       nicht schaffen, sich parallel noch auf den Leistungssport zu konzentrieren.
       
       Der Nachwuchs für die deutschen Unternehmen wird derweil nur einen
       Steinwurf entfernt, im Suzhou Chien-Shiung Institute of Technology,
       ausgebildet. In der schnörkellosen Berufsschule wird das deutsche Modell
       einer dualen Ausbildung angewandt – höchst erfolgreich, wie man hier
       versichert. An den Wänden des Funktionsbaus hängen Schilder mit den
       stereotypen „deutschen Tugenden“, ins Chinesische übersetzt: Ehrlichkeit,
       Fleiß und Verantwortung.
       
       Der 22-jährige Gao Hao befindet sich mittlerweile im dritten Jahr seiner
       Schlosserlehre. Mit seiner runden Nickelbrille, der Topfschnittfrisur und
       seinem schüchternen Lächeln würde der Chinese durchaus noch als Teenager
       durchgehen. Doch in seinen Antworten wirkt Gao überaus erwachsen: „Mein
       Traum ist es, später einmal in den Nordwesten Chinas zu ziehen, um dort
       beim Aufbau des Landes zu helfen“, sagt er. Wenig überraschend ist der
       Lehrling bereits vollwertiges Mitglied der Kommunistischen Partei, sein
       idealistischer Eifer wirkt keineswegs gespielt.
       
       Doch für deutsche Ohren wirkt das durchaus befremdlich: Schließlich
       verfolgt die Partei ausgerechnet im Nordwesten des Landes, in den Regionen
       Tibet und Xinjiang, eine Politik, die sich als eine Mischung aus kolonialer
       Zwangsmodernisierung und kultureller Unterdrückung beschreiben lässt:
       Während in Tibet ein Großteil der Schülerinnen und Schüler auf Druck der
       Behörden von ihren Eltern getrennt in Internaten untergebracht werden, hat
       der Sicherheitsapparat in Xinjiang Dutzende Umerziehungslager errichtet, in
       denen Hunderttausende Angehörige der muslimischen Minderheit der Uiguren
       interniert wurden.
       
       Die [4][geopolitischen Spannungen zwischen dem Westen und China] versucht
       man in Taicang vor allem zu ignorieren. Der Austausch mit Deutschland
       stammt schließlich noch aus unschuldigeren Zeiten, die vor allem von
       ökonomischem Pragmatismus geprägt waren. Und er fußte auf einem simplen
       Tauschhandel: Während der chinesische Markt den deutschen Unternehmen satte
       Gewinne versprach, brachten die Investoren aus dem fernen Europa Wohlstand
       in das einst verschlafene Fischerdorf.
       
       Fuhr die Lokalbevölkerung noch in den 90ern ausschließlich Fahrrad, werden
       die schachbrettartigen Straßen mittlerweile von importierten Pkws gesäumt.
       Von alten Mietskasernen zogen die Leute in den letzten Jahren in moderne
       Hochhaussiedlungen. Die Freizeit wird inzwischen in großzügigen Parkanlagen
       und neonbeleuchteten Einkaufszentren verbracht. Taicang und Deutschland,
       das schien lange Zeit eine nicht endende Erfolgsgeschichte.
       
       Doch mittlerweile ist von der Euphorie vergangener Tage im chinesischen
       „Klein-Schwaben“ nicht mehr viel zu spüren. Die drakonische
       Null-Covid-Politik hat dazu geführt, dass von den einst 3.000 Deutschen
       seit Beginn der Pandemie nur mehr ein Drittel übrig geblieben sind. Bei den
       meisten Expats handelt es sich zudem um Pendler, die zwar in Taicang
       arbeiten, doch in Schanghai wohnen. Die „deutsche Heimat in China“, wie
       sich die Stadt gern selbst bezeichnet, existiert vor allem auf dem Papier:
       Nicht nur im öffentlichen Stadtbild findet man kaum noch Deutsche, sondern
       auch in den Büros und Industrieparks. Viele der „Hidden Champions“ kommen
       zudem längst ohne entsandte Manager aus der Firmenzentrale in Deutschland
       aus.
       
       Doch auch nach den Pandemiejahren ist die Hoffnung auf ein business as
       usual nicht zurückgekehrt. Die wirtschaftliche Erholung verläuft
       schleppend. Laut dem staatlichen Einkaufsmanagerindex leidet das
       herstellende Gewerbe – das Rückgrat der chinesischen Wirtschaft – unter
       einer Stagnation, auch der Binnenkonsum ist schwach. Für viele deutsche
       Unternehmen wirkt sich jedoch allen voran die kriselnde
       Immobilienwirtschaft negativ auf die Umsätze aus. Die einstige
       Goldgräberstimmung des deutschen Mittelstands in China ist bereits seit
       einer Dekade vorbei – nun droht jedoch ein regelrechter Kater.
       
       Hinzu kommen politische Probleme, die China vom verheißungsvollen Markt zum
       Problemkandidaten werden ließen. Xi Jinping bremste mit unvorhersehbarem
       Regulierungswillen und einer Rückkehr zu ideologischer Kontrolle den
       Wachstumsmotor der Volksrepublik empfindlich ab. Und seine aggressiven
       Drohungen gegen den demokratischen Inselstaat Taiwan stellen für
       ausländische Unternehmen längst ein existenzielles Risiko dar: Was
       passiert, wenn die Volksbefreiungsarmee das Land überfällt?
       
       „Natürlich müssen wir uns die Frage stellen, wie wir im Notfall reagieren
       sollten“, sagt auch Simon Veit von Kern-Liebers. Gleichzeitig betont der
       Manager, dass man im Alltag wenig von den politischen Spannungen mitbekäme.
       Stattdessen sorgt man sich vielmehr um die Personalsituation: Es sei
       mittlerweile schwierig geworden, loyale und gut ausgebildete Fachkräfte zu
       bekommen und diese auch langfristig zu halten.
       
       Denn die Konkurrenz um Fachkräfte ist hoch: Viele gut Ausgebildete in
       Taicang wechseln nach kurzer Zeit zu einem konkurrierenden Unternehmen,
       wenn sich die Chance auf einen etwas besseren Lohn ergibt. Zwischen den
       deutschen Firmen in Taicang gibt es eine Art Gentlemen’s Agreement: Man
       zahlt dieselben Einstiegslöhne und verspricht, sich nicht gegenseitig
       Angestellte abzuwerben.
       
       Doch auch die internationale Politik drängt sich unweigerlich immer wieder
       und ganz offensichtlich in den Alltag. Erst vor wenigen Monaten reiste
       Hans-Jochem Steim, dessen Urgroßvater Kern-Liebers 1888 gründete, zum
       30-jährigen Jubiläum der deutsch-chinesischen Zusammenarbeit nach Taicang.
       Steim, der auch Ehrenbürger der Stadt ist, sollte dabei eine Festrede
       halten, die jedoch kurzerhand von der Regierung zensiert wurde. Eine
       scheinbar harmlose Passage, die sich möglicherweise als Anspielung auf Xi
       Jinpings Loyalität zu Wladimir Putin interpretieren ließ, musste der
       deutsche Unternehmer streichen: „Kriegerische Auseinandersetzungen helfen
       nicht, die Lebensverhältnisse zu verbessern. Nur im gegenseitigen Vertrauen
       wächst das Klima für den Erfolg, den wir alle haben wollen. Aggression darf
       kein Mittel der Politik sein.“ Deutlicher lässt sich die Paranoia innerhalb
       des chinesischen Politikapparats kaum vermitteln.
       
       Wer in dem imposanten Gebäude der Stadtregierung nach den neuen
       Verhältnissen fragt, erntet nur betretenes Schweigen. Im 21. Stock des
       Glasbaus, der einen atemberaubenden Blick über die Parkanlagen und
       Apartmentsiedlungen von Taicang freigibt, möchte man sich keinen kritischen
       Fragen stellen – weder zur neuen Chinapolitik der Bundesregierung noch zu
       den Spannungen mit den USA oder gar der Kritik an Xi Jinping. Stattdessen
       geben sich die Parteikader betont pragmatisch: „Es gibt eine sehr gute
       Betreuung für deutsche Unternehmen, die hier investieren“, sagt etwa Thomas
       Zhang, der bei der Stadtregierung für die Zusammenarbeit mit den
       mittelständischen Unternehmen zuständig ist.
       
       Das mag durchaus stimmen, schließlich wird die Lokalregierung auch von fast
       allen deutschen Expats als hilfreich und pragmatisch beschrieben. Doch
       ebenso offensichtlich ist, dass in China unter Xi Jinping längst ein
       rauerer Wind weht, der sich irgendwann auch gegen die bislang gern
       gesehenen Gäste aus Deutschland richten kann.
       
       Denn letztlich hat nicht die Regionalregierung in Taicang das Sagen,
       sondern Peking. Die größte wirtschaftliche Gefahr für deutsche Unternehmen
       wäre, wenn China tatsächlich Taiwan angreift – dass er sich militärische
       Mittel vorbehält, hat Xi Jinping sehr deutlich gemacht. Dann stünde das
       Chinageschäft deutscher Firmen de facto vor dem Aus.
       
       20 Jun 2023
       
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