# taz.de -- Vor der Landratswahl in Sonneberg: „Grundgesetz ist neutralisierbar“
       
       > Demokratie lässt sich untergraben, sagt Jurist Maximilian Steinbeis. Sein
       > „Projekt Thüringen“ soll zeigen: Die deutsche Verfassung ist schwächer,
       > als viele denken.
       
 (IMG) Bild: Wo sind die Lücken in der Verfassung? Wahlgang am Sonntag im Sonneberger Rathaus
       
       taz: Herr Steinbeis, Sie sind Geschäftsführer des Verfassungsblogs und
       haben eine [1][Crowdfunding-Kampagne für das „Projekt Thüringen“]
       gestartet. Damit wollen Sie erforschen, was passiert, wenn
       autoritär-populistische Parteien staatliche Machtmittel in die Hand
       bekommen. Wie schafft man denn eine Demokratie konkret ab?
       
       Maximilian Steinbeis: Genau das wollen wir herausfinden. Es ist eine Frage,
       die man sich auch in Deutschland dringend stellen sollte, wenn man sich
       ringsum in Europa und der Welt umschaut, wo allenthalben autoritäre Regime
       errichtet werden, die allesamt voneinander lernen. Die Situation der
       Demokratie ist weltweit dramatisch. Da droht ein riesiger Eisberg zu
       kippen.
       
       [2][Im thüringischen Sonneberg könnte am Sonntagabend erstmals ein Mann von
       der AfD als Landrat gewählt werden.] Eine CDU-AfD-Mehrheit findet sich auch
       schon manchmal auf Landesebene, etwa wenn es gegen geschlechtergerechte
       Sprache geht. 
       
       Wir wollen mit dem Projekt Thüringen nicht bestimmte Politiken als
       gefährlich brandmarken, sondern in den Technikraum heruntersteigen und
       nachgucken, an welchen Stellen die Demokratie verwundbar ist und wie man
       sie robuster macht.
       
       Vielen gilt der ungarische Präsident Viktor Orbán als Lehrstück für
       Autokraten. In seinem Land vernetzen sich auf großen „No-Woke“-Konferenzen
       autoritäre Kräfte aus aller Welt. Ist Orbán auch ein Vorbild für die AfD? 
       
       Das ungarische Fidesz-Regime mit seiner Zweidrittelmehrheit und der auf den
       eigenen Machterhalt hin optimierten ungarischen Verfassung ist ein Pionier
       der Methode, die Verfassung als Instrument einzusetzen, um die Demokratie
       aus den Angeln zu heben. Dort wurden ganz viele Techniken entwickelt. In
       Polen hat man sich viel von dieser mehr als zehnjährigen Erfahrung
       abgeschaut, aber auch sonst findet da ein reger Austausch statt. Die AfD
       kann man da auch einordnen, aber unser Projekt in Thüringen zielt gar nicht
       speziell auf die AfD ab, sondern ist generalisierbar: Es geht um die
       autoritäre Versuchung, die in demokratischer Wahl erlangten staatlichen
       Machtmittel zu nutzen, um die Wahrscheinlichkeit zu minimieren, dass man
       sie wieder hergeben muss.
       
       Wie hat Orbán es technisch gemacht und was wäre auch in Deutschland
       denkbar? 
       
       Was die Bundesebene betrifft, so scheint mir die Verfassungsgerichtsbarkeit
       besonders verwundbar zu sein. Sie ist es, die nach einer autoritären
       Machtübernahme meist als Erstes vor die Flinte kommt. Auch in Deutschland
       wäre der autoritäre Umbau leichter, als viele denken. Ich habe das mal in
       einem [3][Szenario unter dem Titel „Ein Volkskanzler“] untersucht: Die
       Entmachtung des Bundesverfassungsgerichts könnte sehr viel leichter,
       schneller und effektiver funktionieren, als gemeinhin bekannt. Es ist
       möglich, in nur einer Legislaturperiode mit einer einfachen Mehrheit im
       Bundestag das Grundgesetz zu neutralisieren, und zwar ohne offenen
       Verfassungsbruch. Ganz legal.
       
       Bräuchte man dafür nicht eine Verfassungsänderung mit Zweidrittelmehrheit? 
       
       Sollte man denken. Aber tatsächlich ist es nicht so, weil ganz viele
       technische Details zum Bundesverfassungsgericht in einem einfachen
       Bundesgesetz geregelt sind, das man mit einfacher Mehrheit ändern kann. Zum
       Beispiel lässt sich die Zweidrittelmehrheit, die im Moment für die Wahl von
       Verfassungsrichter*innen in Bundestag und Bundesrat nötig ist, mit
       einer einfachen Mehrheit im Bundestag abschaffen. Und ebenso kann man einen
       zusätzlichen 3. Senat in Karlsruhe einrichten und die
       Zuständigkeitsbereiche im Verfassungsgericht so ändern, dass die politisch
       heißen Sachen im 3. Senat landen. Wenn man diesen dann zur Hälfte mit den
       loyalen Gefolgsleuten besetzt, hat man vom Bundesverfassungsgericht kaum
       mehr etwas zu befürchten.
       
       Eine autoritäre Mehrheit im Bund ist derzeit schwer vorstellbar. Konkreter
       ist das Szenario aber auf Länderebene: In Umfragen ist die AfD im Osten die
       stärkste Kraft, Brandmauern bröckeln zusehends. Wie könnte eine autoritäre
       Partei dort die Demokratie untergraben? 
       
       Auf der Landesebene ist die Gefahr durch die Existenz der Bundesebene
       begrenzt. Gesetzgebung und letztinstanzliche Justiz ist ganz überwiegend
       Bundessache. Aber was genau die Möglichkeiten des Bundes sind, im Fall
       eines autoritären Abgleitens eines Bundeslandes zu intervenieren, erscheint
       uns total untererforscht.
       
       Was sind denn Ihre drängendsten Fragen? 
       
       Wir wollen uns den Umgang mit der Justiz anschauen. Da hat auch die
       Landesebene bei der Ernennung von Richtern und der Organisation der
       Gerichte viel Einfluss. Eine weitere Frage, der öffentliche Dienst. Wie
       könnte eine solche Regierung versuchen, ihre eigenen Leute an Schaltstellen
       im Staatsaufbau unterzubringen? Ebenso gibt es viele Fragen zum
       Landeswahlrecht und zur Medienaufsicht und zum Rundfunk sowie zum Einfluss
       auf Kultur, Bildung, Schulen und Universitäten.
       
       Sie wollen vor der Thüringenwahl 2024 fertig sein. Haben Sie dann am Ende
       eine fertige Bedienungsanleitung für Autokraten? 
       
       Ich glaube nicht, dass es besser wird, wenn man diesen Fragen aus dem Weg
       geht und das Thema einfach beschweigt. Nichts, was wir finden, könnte eine
       entschlossene autoritäre Regierung mithilfe von ein paar guten
       Jurist*innen nicht genauso gut finden. Das sind ja oft sehr technische
       Stellschrauben und Rädchen, deren Wirkungen man oft erst viel später spürt,
       und dann ist es zur Gegenwehr längst zu spät. Deswegen ist es wichtig, dass
       man nicht überrumpelt wird und sich schon im Voraus Klarheit verschafft, wo
       man aufpassen muss.
       
       Gibt es für ein solches autoritäres Überrumpeln konkrete Beispiele? 
       
       Nehmen Sie Polen und die Unterwerfung der polnischen Justiz. Wenn an der
       Ernennung von irgendwelchen Richter*innen herumgeschraubt wird, dann
       interessiert das da draußen erst mal keinen Menschen. In Polen hat ein
       großer Teil der Öffentlichkeit sich um die Unterwerfung der Justiz, den
       Umbau nicht groß gekümmert, weil man halt dachte: Ach, das hat doch mit
       meinem Leben nichts zu tun. Wenn aber die Justiz erst mal auf Linie
       gebracht ist, dann ist es enorm schwer und riskant, auch gegen weitere
       Schritte des autoritären Staatsumbaus noch etwas Effektives zu unternehmen.
       
       2024 wird auch in Sachsen gewählt, wo die AfD ebenfalls in Umfragen
       stärkste Kraft ist. Warum schauen Sie auf Thüringen? 
       
       Jedenfalls nicht, weil wir Ossi-Bashing betreiben wollen. Natürlich ist die
       Situation im Osten besonders. Aber es ist immer auch ein Easy-Way-Out für
       ein westdeutsches Publikum, zu behaupten, dass es nur ein ostdeutsches
       Problem sei. Das glauben wir nicht. Aber wir mussten uns halt für ein
       Bundesland entscheiden, weil jedes Land im Detail anders ist. Wir haben uns
       für Thüringen entschieden vor dem Hintergrund der letzten Regierungsbildung
       …
       
       … [4][wo sich der nach rechts blinkende FDP-Politiker Thomas Kemmerich mit
       AfD-Stimmen zum Kurzzeit-Ministerpräsidenten wählen ließ] und damit eine
       bis heute andauernde Regierungskrise verursachte … 
       
       … ja, die Situation ist hier besonders dringlich. Aber man sollte sich auch
       mit anderen Bundesländern beschäftigen. Schwachstellen, an denen eine
       autoritär-populistische Regierung ansetzen könnte, gibt es vermutlich in
       jedem Bundesland, genauso wie im Bund.
       
       Sie haben eine [5][Crowdfunding-Kampagne gestartet], mit dem Ziel von knapp
       70.000 Euro. Kurz nach dem Start sind schon über 10.000 Euro
       zusammengekommen. Wofür wird das Geld ausgegeben und warum sollte es eine
       Crowdfunding-Kampagne sein? 
       
       Um das Thema gründlich zu bearbeiten, brauchen wir zwei wissenschaftliche
       Mitarbeiter*innen, die bis zum Frühsommer 2024 Ergebnisse zusammentragen,
       und eine studentische Hilfskraft sowie einen Reiseetat. Ein solches Projekt
       können wir unmöglich aus dem Bestand stemmen, dazu sind wir viel zu klein.
       Eine Crowdfunding-Kampagne machen wir, weil wir das selbst relativ schnell
       und unkompliziert auf die Schiene setzen konnten. Antragsverfahren für
       Fördergelder brauchen Zeit, und die haben wir nicht. Außerdem macht es auch
       inhaltlich Sinn, so ein Projekt auf eine breite gesellschaftliche
       Spendenbasis zu stellen.
       
       25 Jun 2023
       
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