# taz.de -- Zwangsverheiratung: „Gegenwehr braucht viel Kraft“
       
       > In den Sommerferien steigt für junge Frauen aus streng patriarchalischen
       > Verhältnissen die Gefahr der Zwangshochzeit. Dazu eine Expertin im
       > Gespräch.
       
 (IMG) Bild: Zwangsverheiratung ist in Deutschland seit 2011 verboten, trotzdem gibt es sie
       
       taz: Frau Koch-Knöbel, in einer Woche beginnen die Sommerferien. Als
       Leiterin des Berliner Arbeitskreises gegen Zwangsverheiratung haben Sie an
       alle Schulen und Freizeiteinrichtungen in der Hauptstadt Schreiben
       verschickt. Was ist der Inhalt? 
       
       Petra Koch-Knöbel: Die Befürchtung ist, dass junge Frauen in den
       Sommerferien in das Heimatland ihrer Eltern verbracht und dort
       zwangsverheiratet werden. Das passiert immer wieder. Die Schulen können bei
       uns Informationsmaterial und Handlungsempfehlungen abrufen. Wir, also der
       Arbeitskreis, machen diese Kampagne gegen Zwangsverheiratung schon seit
       vielen Jahren. In den Schulen wird die Gefahr, zwangsverheiratet zu werden,
       am ehesten deutlich, weil die Schüler*innen dort oftmals gezielt Hilfe
       und Beratung suchen. Keine Lehrkraft oder Schulsozialarbeiter*in
       wird damit allein gelassen, wir unterstützen auch persönlich.
       
       Warum sind gerade die Sommerferien so gefährlich? 
       
       Sechs Wochen Schulferien sind eine lange Zeit. Viele Familien nutzen sie
       dazu, in ihr Heimatland zu fahren. Als Folge der Coronazeit wird das jetzt
       möglicherweise noch verstärkter sein. Und wenn die von Zwangsheirat
       betroffene Schülerin erst mal in das Heimatland verbracht ist, haben wir
       ganz große Schwierigkeiten, sie zurückzuholen. Wir sprechen hier
       wohlgemerkt von Familien, die sehr starke patriarchale Strukturen haben.
       
       Wie viele junge Frauen betrifft das in Berlin ungefähr? 
       
       Das wissen wir natürlich nicht. Ähnlich wie bei häuslicher Gewalt ist von
       einer hohen Dunkelziffer auszugehen. Wir werten im Moment gerade eine
       berlinweite Befragung von 2022 zum Ausmaß von Zwangsverheiratungen aus, das
       Ergebnis liegt aber noch nicht vor.
       
       Es ist nicht die erste Befragung dieser Art. 
       
       [1][Wir führen zu diesem Thema seit 2005 in Kooperation mit der
       Frauensenatsverwaltung in größeren Abständen Befragungen durch]. Die letzte
       fand 2017 statt. Da hatten wir 570 bekannt gewordene Fälle von
       Zwangsverheiratung und damit eine Steigerung um 24 Prozent im Vergleich zu
       2013 – da waren es 460 Fälle. Bei bekannt gewordenen Fällen von
       Zwangsverheiratungen unterscheiden wir zwischen angedrohten, konkret
       geplanten und vollzogenen Zwangsverheiratungen.
       
       Wie erklären Sie sich die Steigerung? 
       
       Ich vermute, dass liegt daran, dass das Hilfesystem in Berlin mittlerweile
       gut aufgestellt ist. Zwangsverheiratung ist kein Tabuthema mehr, weil die
       Beratungsangebote öffentlich gemacht werden. Immer mehr junge Menschen,
       [2][auch männliche Jugendliche und Queers, suchen gezielt Unterstützung].
       Das ändert aber nichts daran, dass Zwangsverheiratung in sehr traditionell
       geprägten Familien immer noch ein Thema ist. Daran wird sich wahrscheinlich
       auch nichts Wesentliches ändern. Wir sind froh, wenn wir die Betroffenen
       über die Schulen und Freizeiteinrichtungen erreichen. Wobei Mädchen aus
       sehr stark patriarchalisch geprägten Verhältnissen wenig in
       Freizeiteinrichtungen vertreten sind.
       
       Welche Herkunftsländer betrifft das am meisten? 
       
       Bei der Untersuchung 2017 konnten wir vor allem arabische Länder, vor allem
       aus Syrien, aus den kurdischen Gebieten der Türkei sowie den Balkanstaaten
       verzeichnen. Das betrifft schon Kinder ab zehn beziehungsweise zwölf
       Jahren. Bei dieser Altersgruppe handelt es sich eher um Roma-Familien, wo
       Kinder zum Teil schon sehr früh verheiratet werden. Der größte Anteil der
       jungen Frauen, die von Zwangsverheiratungen betroffen waren, war im Alter
       von 16 bis 21 Jahren. Bei jungen Männern waren es überwiegend 16- bis
       17-Jährige.
       
       Was raten Sie den Betroffenen? 
       
       Wir sagen klipp und klar, wenn ihr euch dagegen wehrt, kann das unter
       Umständen eine klare Trennung, den Bruch mit der Familie bedeuten. Das ist
       für die Betroffenen extrem problematisch. Sie wachsen sehr stark im
       Familienkontext auf, die Familie hat eine besondere Bedeutung. Es braucht
       viel Kraft, sich dagegen zu wehren; sich wirklich von der Familie zu
       trennen. Junge Frauen, die das tun, unterstützen wir auf allen Ebenen mit
       unseren Hilfsangeboten. Wir haben sehr viele Möglichkeiten und können sie
       auch [3][bei starken Gefährdungssituationen] in Westdeutschland geschützt
       unterbringen. Wir haben auch schon Paare untergebracht, die von den
       Familien bedroht wurden.
       
       Wie oft geschieht das? 
       
       Wir haben solche Fälle vielleicht sieben, acht Mal im Jahr, wo junge Frauen
       direkt bei uns in der Beratungsstelle stehen und wir ad hoc tätig werden.
       Das Ganze läuft so ab, dass in der Regel zu Hause zuvor darüber gesprochen
       wird. Häufig werden die jungen Frauen mit wesentlich älteren Männern
       verheiratet, mit Cousins oder anderen Verwandten. Sie erfahren dann schon,
       dass die Hochzeit im Heimatland der Eltern geplant ist.
       
       Zwangsverheiratung ist ein Straftatbestand, auf den bis zu fünf Jahre Haft
       stehen. 
       
       Wir versuchen auch immer wieder, mit den Eltern ins Gespräch zu kommen,
       erklären, dass Zwangsverheiratung ein Straftatbestand ist. Auch die Polizei
       kann in solchen Fällen eine Gefährderansprache machen. Das ändert aber
       nichts daran, dass die Mädchen innerhalb der Familie trotzdem gefährdet
       sind.
       
       Wie helfen Sie Mädchen, die es nicht wagen, es zum offenen Bruch kommen zu
       lassen? 
       
       Wir raten ihnen dazu, eine Krankheit vorzutäuschen, um die Reise zu
       verhindern. Wir versuchen, sie auch mit einer anwaltlichen Vollmacht
       abzusichern. Das Mädchen erklärt in einer eidesstattlichen Versicherung,
       dass sie befürchtet, während der Ferien gegen ihren Willen verheiratet zu
       werden und ihr die Rückreise nach Deutschland unmöglich gemacht wird. Das
       ist sehr wichtig, sonst können wir wenig machen. Oftmals werden den
       Betroffenen Pass, Bargeld und Handy abgenommen.
       
       Was ist die Schwierigkeit? 
       
       Projekte wie Papatya, die auch zum Arbeitskreis gegen Zwangsverheiratung
       gehören, arbeiten hervorragend zum Thema Verschleppung. Wir haben in
       verschiedenen Ländern mittlerweile Netzwerke. In manchen Fällen fahren wir
       auch hin und versuchen, die Mädchen zurückzuholen. Aber das gestaltet sich
       ausgesprochen schwierig. Manchmal wissen wir nicht, wo sie sich aufhalten,
       weil ihnen das Handy weggenommen wurde und sie nicht kommunizieren können.
       Darum ist es sehr wichtig, dass die Abreise in das Herkunftsland der Eltern
       verhindert wird. Wir haben jungen Frauen auch schon geraten, ein
       Tränengasspray in die Handtasche zu stecken.
       
       Wozu das? 
       
       Bei der Gepäckkontrolle am Flughafen wird das Tränengas festgestellt. In
       dieser Situation können sie sich an das Sicherheitspersonal vor Ort wenden
       und um Hilfe bitten.
       
       Ist das schon vorgekommen? 
       
       In zwei Fällen konnten wir so am Flughafen noch eingreifen. Es gibt
       mittlerweile viele Kolleg*innen bei der Polizei, die sehr sensibel
       darauf reagieren. Für die junge Frau ist das vielleicht die letzte
       Möglichkeit, aus diesem Zwangskontext zu entkommen. Ausgehend von der
       Erhebung von 2017 fanden 87 Prozent der Zwangsverheiratungen im Ausland
       statt. Es gibt da wirklich abenteuerliche Fälle.
       
       Haben Sie ein Beispiel? 
       
       Einmal gab es einen Vorlauf von drei Monaten. Die junge Frau wollte und
       durfte ihre Ausbildung noch zu Ende machen, bevor sie ins Ausland
       verheiratet werden sollte. Die ältere Schwester war schon gegen ihren
       Willen verheiratet worden. Sie hat dann in den drei Monaten immer mehr
       persönliche Sachen bei mir im Büro deponiert. Papiere und so weiter. Als
       sie ihr Zeugnis in der Hand hielt, habe ich sie sofort in ein Frauenhaus in
       Westdeutschland gebracht.
       
       Zwangsverheiratung ist in Deutschland seit 2011 verboten. [4][Das Gesetz
       gegen Kinderehen gibt es seit 2017]. Auch im Ausland geschlossene Ehen von
       Minderjährigen werden in Deutschland seither nicht anerkannt. Warum kam das
       alles so spät? 
       
       Früher gab es die Regelung, dass Minderjährige in Ausnahmefällen heiraten
       konnten, wenn beide das wollten und die Eltern und auch das Jugendamt
       einverstanden waren. Ob deutscher oder migrantischer Herkunft, spielte
       dabei keine Rolle. Das ist jetzt generell verboten. Das Mindestalter ist 18
       Jahre, ohne Ausnahme. Auch in der Flüchtlingskrise 2015 gab es viele Fälle,
       wo geflüchtete Mädchen oder junge Frauen vorher oder auch während des
       Aufenthaltes in Deutschland noch zwangsverheiratet worden waren. Da waren
       sich alle einig, dass man das ändern muss. Auch die sogenannten Imam- Ehen
       …
       
       … religiös geschlossene Ehen …
       
       … dürfen nicht mehr stattfinden. Ich kann mir gut vorstellen, dass das nach
       wie vor passiert. Religiöse Eheschließungen haben bei vielen Familien mit
       sehr traditioneller patriarchaler Migrationsgeschichte eine größere
       Bedeutung als die standesamtliche Eheschließung. Ich wage da keine Prognose
       abzugeben.
       
       Familien mit sehr starken patriarchalen Strukturen müssten in den Schulen
       eigentlich bekannt sein. 
       
       In der Regel ist das so. Es ist aber auch schon häufiger vorgekommen, dass
       Eltern aus den betroffenen Gruppen abgewartet haben, bis die Sommerferien
       anfangen, um ihre Töchter von der Schule abzumelden. Das ist dann höchste
       Alarmstufe für uns, tätig zu werden. Es gibt aber auch Mädchen, die diesem
       Druck, den die Familie ausübt, einfach nicht standhalten können.
       
       Wie meinen Sie das? 
       
       Sie beugen sich im Sinne: Das ist bei uns Tradition, auch bei meinen
       Schwestern war es so. Ich kann es nicht ändern, oder ich will es auch nicht
       ändern.
       
       Dann sind Sie machtlos? 
       
       Ja. Auch wenn wir das Schicksal kommen sehen, alle genau wissen, was
       passiert, können wir wenig tun. Sie kommen dann oftmals nicht aus den
       Ferien zurück. Wenn die Mädchen 15, 16 Jahre alt sind und möglicherweise
       auch schon einen Freund hier hatten, wird es wirklich schwierig. Nicht nur
       das Mädchen ist gefährdet, auch der Junge. Wir hatten gerade erst wieder so
       einen Fall.
       
       Wie ist das Ganze ausgegangen? 
       
       Wir haben beide Jugendliche, sie sind 17 und 18, über eine
       Jugendhilfemaßnahme in Westdeutschland gemeinsam geschützt untergebracht.
       Sie waren beide massiv von der Familie des Mädchens bedroht worden. In
       einem ähnlich gelagerten Fall war auch die Polizei involviert.
       
       6 Jul 2023
       
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