# taz.de -- Kinderheiraten in Nepal: Zu jung für Buddha
       
       > Ehen von unter 18-jährigen sind ein globales Problem. Ein Besuch bei
       > jungen Frauen in Nepal – und einer Aktivistin, die mit der Tradition
       > kämpft.
       
 (IMG) Bild: Migma Diki Sherpa, 21, heiratete als Teenager. Sie lebt mit ihrem Sohn Milan, 5, in einem Zimmer im Viertel Tihari Tole, Kathmandu
       
       Migma ist wieder bei der Schamanin gewesen. Sie hat der Frau Geld gegeben
       und ein Foto von Buddha, ihrem Mann. „Ich schaue, was ich tun kann“, sagte
       die Schamanin. Migma hofft so sehr, dass ihre Mantras und Rituale endlich
       wirken. Dass Buddha zurückkehrt. „Ich liebe ihn immer noch“, sagt Migma.
       „Ich würde ihm verzeihen.“
       
       In einem Monat hat Migma Diki Sherpa ihren 21. Geburtstag. Ihr Sohn Milan
       wird fünf. Sie leben in Kathmandu, in einem Hinterhaus an einer
       Ausfallstraße Richtung Osten. Schwere Lastwagen lassen den Boden erzittern,
       Mopeds sirren, Fußgänger halten die Hand vor die Nase, um sich vor dem
       Staub zu schützen. Nach Sonnenuntergang leuchten nur die Scheinwerfer der
       Fahrzeuge. Es ist so finster, dass man ohne Handylampe den Weg zu dem
       schmalen Durchgang zwischen den Häusern bis zu Migmas Zimmer nicht fände.
       
       Der Raum wird fast vom Bett ausgefüllt. Die Matratze ist aus dünnem
       Schaumstoff, wie ihn Klempner zum Isolieren von Rohren verwenden. In den
       Ecken wachsen Stockflecken. Milan liegt auf der Matratze und schaut auf
       Migmas Smartphone Youtube-Videos. Im Nachbarzimmer, wo eine Familie wohnt,
       hustet jemand.
       
       Es gibt ein Foto eines jungen Mannes an der Wand. Ein glattes Gesicht,
       Undercut-Frisur, betont cooler Blick. Milan deutet darauf, sagt: „Babba!“
       Er kennt seinen Vater nur von diesem einen Foto.
       
       Es gibt auch das Selfie eines Mädchens mit glattem Gesicht und Schulbüchern
       unterm Arm. Ihr Gesicht scheint zu sagen: „Hallo Welt, was bringst du mir?“
       Das Foto ist nur sechs Jahre alt, aber man erkennt Migma kaum darauf. Heute
       ist es, als ob ein Schatten auf ihrem Gesicht liegt. Sie lacht nie während
       des Gesprächs, berichtet nüchtern und tonlos von ihrer frühen Ehe: Als sie
       15 war, bekam sie einen Anruf. Zuerst sagte der Anrufer: „Oh, falsche
       Nummer!“ Aber dann begann er ein Gespräch.
       
       Der Anrufer gestand, dass er sie auf dem Markt gesehen und ihre Nummer
       herausgefunden habe. Er heiße Buddha, sei 18, komme aus dem Nachbarort. Er
       fragte, was sie gegessen habe, wie es in der Schule war, er nannte sie
       „Kanchi“, das heißt „Jüngere“. Jeden Tag rief er an. Er erzählte, dass er
       tagsüber auf dem Feld war. Seine Familie habe einen Ziziphus-Baum, auf den
       er klettere, um die runden Samen zu ernten, die auf eine Schnur gefädelt
       als Gebetsketten verkauft werden. So käme etwas Bargeld ins Haus. Sie
       sprachen heimlich. Nichts fürchten Eltern in der traditionellen Kultur
       Nepals mehr, als dass die Teenage-Tochter einen Schwarm hat. Sie fürchten
       den vorehelichen Sex der Töchter, schon Gerüchte darüber reichen, damit die
       Gesellschaft die Ehre einer Familie als beschmutzt ansieht, was für die
       Betroffenen vielleicht deshalb so angsterregend ist, weil sie kaum etwas
       anderes besitzen als diese angebliche Ehre. Migma war verliebt. Dabei hatte
       sie Buddha noch nicht gesehen, nicht einmal ein Bild von ihm. Auf ihrem
       alten Telefon konnte sie keine Fotos empfangen.
       
       Dann, auf dem Jahrmarkt, zwischen Essständen und Schaukeln, sprach ein
       Junge Migma an: „Ich bin Buddha.“ Er sah gut aus. Anständig. „Nicht wie
       einer, der Drogen nimmt oder Alkohol trinkt“, sagt Migma. Sie war
       schüchtern. Nervös. Es kribbelte. Buddha sagte: „Komm mit zu meinen
       Eltern.“ Das Mädchen zierte sich, aber dann setzte sie sich auf sein Moped.
       Obwohl sie wusste, was das hieß. „Wenn die Eltern ihnen erlauben, das Haus
       zu betreten, bedeutet das, dass sie vor den Augen des Dorfes verheiratet
       sind“, sagt Choying Sangmo, die Übersetzerin. Sie übersetzt nicht nur die
       Sprache, sondern auch die Kultur. Choying Sangmo trägt einen bordeauxroten
       Rock, eine Jacke in der gleichen Farbe, die Haare sind raspelkurz. Die Frau
       Anfang 30 ist buddhistische Nonne – eine der wenigen allgemein akzeptierten
       Lebensentwürfe für eine Frau abseits einer Ehe.
       
       Mit dem Schritt über die Schwelle bei Buddhas Eltern wurde Migma eine von
       jährlich zwölf Millionen Mädchen, die laut Unicef vor ihrem 18. Geburtstag
       formelle oder informelle Ehen eingehen. Um die schiere Zahl zu begreifen,
       muss man sie umrechnen: Pro Minute sind das 23 Mädchen. Laut den
       „Sustainable Development Goals“ der UNO sollen diese Kinder- oder
       Frühheiraten bis zum Jahr 2030 eliminiert sein. Ein kaum zu erreichendes
       Ziel, wenn man bedenkt, dass laut Unicef weltweit jede fünfte Frau bei
       ihrer Heirat noch keine 18 ist und die Gesetze ignoriert werden. Eigentlich
       sind Kinderheiraten in Nepal schon seit 60 Jahren verboten. Im Jahr 2017
       wurde das Gesetz sogar verschärft. Seither dürfen junge Leute offiziell
       erst ab dem 20. Geburtstag heiraten. Aber die Paragrafen sind das Papier
       nicht wert, auf dem sie geschrieben stehen, wenn die Traditionen stärker
       sind und Polizei und Behörden, selbst von althergebrachten Vorstellungen
       durchdrungen, sie nicht durchsetzen.
       
       Viele Teenager verbinden sich wie Migma auf informelle Weise oder mit
       religiösen Zeremonien, die in den Augen der lokalen Gemeinschaften die
       gleiche Bedeutung haben wie eine Heiratsurkunde. Laut der Unicef-Statistik
       heiraten in Nepal so ein Drittel der Mädchen vor ihrem 18. Geburtstag. Acht
       Prozent der Mädchen sind beim Eingehen einer Lebenspartnerschaft sogar
       jünger als 15 Jahre. Manche Paare lassen die Ehe noch auf dem Standesamt
       legalisieren, wenn beide Partner 20 sind. Manche geben auch ein falsches
       Alter an, um eine Heirat eintragen zu lassen. Weil die Sitte derart
       verbreitet ist, schauen die Vertreter der Behörden geflissentlich weg.
       
       Im westlichen Klischee stellt man sich unter Kinderheiraten ältere Männer
       vor, die mit Teenagern Ehen eingehen. In der Wirklichkeit ist auch der
       Bräutigam oft sehr jung. Und die Paare heiraten aus Liebe – oder der
       Sehnsucht danach. „Mein Vater hat mich immer wieder geschlagen“, sagt
       Migma. Nach der achten Klasse hätte er sie gezwungen, die Schule
       abzubrechen. „Viele Mädchen erleiden häusliche Gewalt“, sagt Choying
       Sangmo, die Übersetzerin. „Sie sind gerne bereit, ihr altes Leben
       aufzugeben.“ Ein Junge, der um sie wirbt, erscheint vielen Mädchen als
       Ausweg.
       
       Im Haus der Schwiegereltern wurde Migma sofort schwanger, mit 16 war sie
       Mutter und erlebte neues Leid. Sie habe nur wenig zu essen bekommen. Die
       Schwiegermutter habe den Essenschrank abgesperrt. Wenn sie Essen bekam, war
       es versalzen. Sie sei mit einem Guss kalten Wassers geweckt worden. Die
       Schwiegereltern hätten sie geschlagen. „Sie waren böse, weil ich Buddha
       vorgeschlagen hatte, in ein eigenes Haus zu ziehen und von den Eltern ein
       Reisfeld zu fordern.“ Buddha sei passiv geblieben, habe sich nicht für sie
       eingesetzt. „Ich denke, er ist ein schwacher Mensch.“
       
       Eines Tages, das Baby war ungefähr sechs Monate alt, war Buddha
       verschwunden, ohne jede Erklärung. Die Schwiegereltern sagten ihr nicht, wo
       er war. Sie hörte im Dorf, er wollte als Arbeiter nach Dubai: „Wenn ich ein
       Flugzeug am Himmel sah, fragte ich mich, ob Buddha drinsitzt und an mich
       denkt.“
       
       Doch sie hörte nichts mehr von ihm. Auch über Social Media finde sie ihn
       bis heute nicht. Im Haus der Schwiegereltern wurde es nach Buddhas
       Verschwinden noch schlimmer. „Zeitweise musste ich wochenlang draußen in
       der Küchenhütte schlafen, mit Milan, bis die Dorfbewohner die
       Schwiegereltern überzeugten, mich wieder ins Haus zu lassen.“
       
       Vor 13 Monaten hielt sie es nicht mehr aus, sie brachte Milan zu ihrer
       Mutter und floh nach Kathmandu. Seither arbeitet sie sieben Tage die Woche
       als Hausbedienstete bei einer Familie, die eine Hühnerfarm hat. Als der
       Kindergarten der „Nuns Welfare Foundation of Nepal“ ihr einen Platz
       zusagte, holte sie Milan nach. Dieses Hilfswerk wird von buddhistischen
       Nonnen geführt und will besonders benachteiligten Kindern und Frauen
       helfen. Ein Bus bringt Milan nach Kindergartenschluss zu Migmas
       Arbeitsstelle, dort verbringt der Junge mit ihr die letzten Arbeitsstunden,
       bevor sie in ihr Zimmer zurückkehren.
       
       Die Details in Migmas Biografie lassen sich nicht überprüfen. Sie stammt
       aus Surke im Distrikt Bojpur, zwei Tage Busfahrt von Kathmandu entfernt.
       Die letzten Stunden muss man zu Fuß die Hänge hinauf, es gibt keine Straße
       in das Dorf. Übersetzerin Ani Choying Sangmo hält Migmas Bericht für
       plausibel.
       
       Milans Rucksack für den Kindergarten hängt an einem Nagel. Er ist mit
       Disney-Figuren bedruckt. Schneewittchen und Cinderella. Auf ihrem Telefon
       hat Migma ein Foto von Milan in einem gelben Kleid. „Er zieht sich gerne
       als Mädchen an“, sagt Migma. Manchmal wünscht er sich lange Haare. Dann
       bindet sie ihm künstliche Zöpfchen an seinen kurzen Schopf.
       
       Einen Monatslohn hat Migma in ihr gebrauchtes Smartphone investiert. „Ich
       möchte erreichbar sein, wenn Buddha sich meldet“, sagt sie. „Ein halbes
       Jahr warte ich noch.“ Sie sehne sich nach jemandem, der sie versteht und
       achtet und mit ihr leben will. „Wenn ich in drei Jahren immer noch allein
       bin, gehe ich ins Ausland.“ Nach Dubai, nach Zypern, wo ein Onkel sei, egal
       wo, egal welche Arbeit es dort gäbe. Aber sie könnte nur reisen, wenn ihre
       Mutter sich um Milan kümmert. Vielleicht könnte die Mutter heimlich nach
       Kathmandu fliehen, um dem gewalttätigen Ehemann zu entkommen?
       
       Das seien die Gedanken, die ihr in den Nächten durch den Kopf kreisen.
       „Heute Nacht habe ich nur drei Stunden geschlafen“, sagt sie. „Früher war
       meine Haut makellos. Vielleicht habe ich so viele Pickel, weil ich so wenig
       schlafe?“ Um sich abzulenken, schaut sie Videos. Tanzshows mit Kindern in
       festlichen Kostümen und Reality-Dokumentationen von einheimischen
       Youtubern. „Sie gehen in die Familien und interviewen die Menschen“,
       erklärt Migma. Oft geht es darum, wie Mädchen und Frauen unter den
       Traditionen leiden. „Die Videos tun mir gut, sie geben mir das Gefühl, dass
       ich nicht die Einzige bin.“
       
       Salita Kumari Sada kämpft gegen die Traditionen. Sie lebt sieben
       Autostunden von Migma und Milan entfernt in der südöstlichen Provinz
       Madhesh, im Tiefland, wo Nepal an Indien grenzt. Männer reiten auf
       Wasserbüffeln, Frauen in leuchtenden Saris gehen barfuß über Staubpisten,
       oft tragen sie ein Kind auf der Hüfte. Salita trägt Sweat-Shirt, Jeans,
       Lederschuhe. „Auch wenn du dich wie ein Mann anziehst, unter den Hosen
       wirst du immer eine Frau sein“, sagen sie ihr im Dorf. Sie weiß, dass sie
       sich das Maul zerreißen, über Sex mutmaßen, wenn Kollegen von der „Janaki
       Women Awareness Society“ (JWAS) sie im Auto abholen. „Eine Frau mit 27, die
       nicht verheiratet ist, das ist nicht zu begreifen“, sagt Salita. JWAS setzt
       sich für die Stärkung der Mädchen ein und gegen schädliche Traditionen.
       Manche Mädchen brechen nach der Grundschule ab, weil die weiterführende
       Schule einen Fußmarsch von einer oder zwei Stunden entfernt liegt. Diesen
       Mädchen stellt JWAS Fahrräder zur Verfügung. Salita coacht in ihrer
       Heimatgemeinde Khadak jüngere Kolleginnen, wie sie Mädchen aus armen
       Familien unterrichten können, die die Schule abgebrochen haben: „Wir
       versuchen den Musahar-Mädchen Life Skills zu vermitteln, wie sie trotz
       ihrer schlechten Ausgangslage ihr Leben meistern können.“
       
       Salita ist selbst Musahar, wörtlich übersetzt bedeutet das Wort
       „Ratten-Esser“. Früher lebten viele Musahar davon, die Nager zu fangen. Die
       Gemeinschaft ist ganz unten in der Hierarchie der Kasten. Heute gibt es
       offiziell kein Kastenwesen mehr. „Aber viele Menschen denken, wir seien
       weniger wert. Wir werden ausgegrenzt“, sagt Salita. Die meisten Musahar
       sind arm und ohne Bildung. Viele Eltern sehen die Schule für Mädchen als
       unwichtig an: „Sie heiraten sowieso, wichtig ist nur, dass sie unberührt
       heiraten.“
       
       Wäre es nach dem Willen der Eltern gegangen, trüge auch Salita Saris und
       schon lange Kinder auf dem Arm. Das erste Heiratsangebot kam nach ihrem 16.
       Geburtstag. Ihr Vater wollte darauf eingehen. Doch dann forderte die
       Familie des Bräutigams eine große Mitgift. „Ihr Status war besser als
       unserer. Sie hatten ein Haus aus Stein in der Nähe des Marktplatzes. Wir
       haben nur ein Lehmhaus an der Fernstraße“, sagt Salita. „Deshalb verlangten
       sie 700.000 Rupien“ – damals 6.300 Euro –, „ein Moped und 100 Gramm
       Goldschmuck.“
       
       Der Vater war verzweifelt. Er kam betrunken nach Hause. Wie sollte er seine
       anderen Töchter verheiraten, wenn schon die Heirat von Salita sein Vermögen
       auffraß? Schließlich entschied er sich, für ihre Heirat sein Feld zu
       verkaufen. Ihre kleine Schwester berichtete Salita davon. „Erst dadurch
       erfuhr ich von den Heiratsplänen für mich.“
       
       Sie habe nicht daran gedacht, sich der Heirat zu widersetzen. „Aber ich
       dachte: Es ist ungerecht, dass mein Vater sein Land für mich verkaufen
       muss.“ Sie fand die Telefonnummer der Familie des Bräutigams heraus. Seine
       Mutter ging ran, als Salita anrief. Sie sagte: „Wenn mein Vater euch so
       viel geben soll, dann komme ich nicht zu euch. Dann muss euer Sohn zu mir
       kommen, damit er sich um meine Eltern kümmern kann.“ Ein unerhörter
       Vorschlag: „Gibt es die Möglichkeit, dass der Bräutigam ins Haus der Braut
       zieht?“, fragte die Mutter des Jungen und gab die Antwort selbst: „Nein,
       die gibt es nicht.“
       
       Der Vater war wütend, als er von dem Anruf erfuhr. „Wenn ihr nur einen
       Bruchteil der Mitgift für meine Bildung ausgebt, werde ich viel
       erreichen!“, sagte Salita. „Ich werde nichts Dummes tun, euch keine Schande
       machen!“ Langsam wurde der Vater weich. Er war zwölf Jahre in Saudi-Arabien
       gewesen. Nur deshalb konnte er das Reisfeld kaufen. „Im Ausland sah er, wie
       wichtig Bildung ist“, sagt Salita. „Ich durfte immer zur Schule gehen.
       Vielleicht hatte ich auch deshalb die Stärke, mich zu widersetzen.“
       
       Aus der Heirat wurde nichts, weitere Anträge folgten, aber jedes Mal lehnte
       Salita ab. Nach der 12. Klasse begann sie für JWAS zu arbeiten. Jetzt macht
       sie nebenher einen Bachelor in Pädagogik und engagiert sich in der Partei
       CPN. „Wir wollen den Sozialismus für Nepal“, sagt Salita. „Wir setzen uns
       für Arme, Tagelöhner und marginalisierte Gemeinschaften ein. Ich hoffe,
       dass ich irgendwann Parlamentsabgeordnete werde.“ Unter den Abgeordneten in
       Kathmandu gab es noch nie einen oder eine Musahar.
       
       Früher habe sie manchmal tagelang nichts essen können, weil ihr die
       sexuellen Gerüchte über sie zu Ohren kamen. „Aber das ist vorbei“, sagt
       sie. „Die Leute reden eh.“ Und die Vorurteile, die ihr als unverheiratete
       und selbstbestimmte Frau entgegengebracht würden, würden teils schwächer.
       „Es gibt Eltern und Mädchen, die mich als Vorbild sehen.“ Sie habe viele
       Mädchen dazu bewegen können mit der Schule weiterzumachen.
       
       „Die Schule schützt vor frühen Ehen. Solange Mädchen in die Schule gehen,
       können die Eltern dem gesellschaftlichen Druck standhalten und
       Heiratsangebote ablehnen“, erklärt JWAS-Programmdirektor Nub Raj Bhandari,
       der über die soziale Stellung der Frauen in Nepal wissenschaftliche
       Aufsätze publiziert. Eltern würden die frühe Verheiratung einer Tochter als
       Möglichkeit sehen, ihr soziales Prestige zu steigern. „Religiöse Texte
       werden falsch interpretiert oder einzelne Stellen überbewertet“, sagt er.
       So vermittle das „Gesetzbuch des Manu“ – eine wichtige Schrift im
       Hinduismus – den Eindruck, dass Frauen nicht unabhängig sein könnten.
       
       „Dies wird unterstrichen durch Aussagen wie: Ein Vater beschützt sie in der
       Kindheit, ein Ehemann beschützt sie in jungen Jahren und ihr Sohn beschützt
       sie im Alter.“ Dieser Blick sei so verfestigt, „dass selbst Eltern ihre
       Tochter nach der Heirat vor allem in ihrer Rolle als Frau des
       Schwiegersohns wahrnehmen.“
       
       Eine verheiratete Frau müsse immer eine Doppelrolle ausfüllen: Als Ehefrau
       und als Schwiegertochter würden ihr Pflichten auferlegt. „Die
       Verinnerlichung geschlechtsspezifischer Einstellungen ist bei verheirateten
       Frauen, die dann dieselben Einstellungen und Verhaltensweisen gegenüber
       anderen, jüngeren Frauen an den Tag legen, keine Seltenheit“, schreibt der
       Wissenschaftler. „Auf diese Weise schließt sich der Kreislauf.“ Auch die
       Frauen wirkten am Fortbestand der patriarchalen Gesellschaft mit.
       
       Nur Bildung und Aufklärung können diesen Kreislauf durchbrechen. „Die
       Kommunalverwaltungen könnten von Tür zu Tür gehen und Kampagnen in den
       sozialen Medien durchführen“, fordert die Kathmandu Post in einem
       Leitartikel. Auch Stipendien und wirtschaftliche Anreize für Mädchen
       könnten sie von Frühheiraten abhalten. So gab die Gemeindeverwaltung im
       Bezirk Banke in Lumbini bekannt, dass junge Frauen, die erst nach ihrem 20.
       Geburtstag heiraten, einen Gasherd mit Gasflasche geschenkt bekommen.
       
       Für Anjali aus Salitas Nachbarfamilie kamen diese Ideen zu spät. Vor einem
       Jahr verliebte sie sich. Im Geheimen schrieb die 15-Jährige auf ihrem Handy
       mit Binod, einem Jungen aus dem Dorf. Als das herauskam, war die Aufregung
       groß. Zwar sagte Anjali ihren Eltern: „Es ist nichts passiert.“ Aber die
       waren sich einig: Die Tochter müsse heiraten.
       
       Salita ging zu der Nachbarsfamilie. Sie sprach mit Anjali und ihrer Mutter
       Sushila über die Konsequenzen von frühen Ehen: „Die Mädchen bekommen bald
       Kinder, die Armut wird weitervererbt.“ Doch die Mutter sagte: „Das geht
       dich nichts an!“ Danach sprachen sie drei Monate lang nicht mehr
       miteinander und Anjali heiratete Binod. Er ist nach Kathmandu gegangen, um
       dort als Bauhelfer Geld zu verdienen für seine kleine Familie. Vor Binods
       Abreise wurde Anjali schwanger. Sie ist im dritten Monat.
       
       Salita und Anjalis Mutter Sushila haben sich ausgesöhnt, sie besuchen sich
       wieder. Sushila ist Mitte dreißig, bald ist sie Großmutter. „Anjali wollte
       nicht mehr zur Schule“, erklärt Sushila. „Sie brach sie nach der 6. Klasse
       ab.“ Anjali hätte gesagt, sie wolle Binod haben. „Sie wären möglicherweise
       durchgebrannt! Das war unsere große Sorge“, erklärt Sushila.
       
       Es ist eine verbreitete Sitte: Teenager, denen eine Beziehung verwehrt
       wird, nehmen den Bus und verschwinden in die nächste Stadt, schaffen so
       Tatsachen. Dadurch wäre die Familie geächtet, müsste eine Buße an die
       Gemeinschaft zahlen. Das Geld würde dann für ein Festmahl ausgegeben.
       Anjali wäre verstoßen worden und hätte noch nicht einmal mehr zu Besuch
       kommen dürfen. „Wir hatten keine andere Wahl als die Heirat“, sagt Sushila.
       „Aber ich ahne: Ihr Leben wird so hart wie mein eigenes. Ich bin voller
       Kummer.“
       
       Anjali hat eine kleine Schwester. Aarti ist zehn, sie geht jeden Tag zur
       Schule, nicht wie Anjali, die oft schwänzte. Sie ist eine der Besten in der
       Klasse.
       
       Was sie werden will?
       
       „Polizistin. Ingenieurin. Oder Ärztin“, sagt Aarti. „Ich werde auf keinen
       Fall früh heiraten.“
       
       13 Jan 2024
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Bernd Hauser
       
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