# taz.de -- Sommerserie „Wie riecht Berlin“ (2): Im Über-50-Seen-Land
       
       > In Berlin gibt es viele Gelegenheiten, in sauberes Wasser einzutauchen.
       > Die Seen sind gut fürs Klima in der Stadt und tragen zum Geruch der Stadt
       > bei.
       
 (IMG) Bild: Erfrischend stadtnah: ein Bad im Schlachtensee
       
       Am Ufer ist er noch nicht wahrzunehmen. Auch noch nicht, als die Füße schon
       im Wasser stehen und die leichten Wellen gegen die Schienbeine plätschern.
       Erst als der Kopf eintaucht und wieder durch die Oberfläche stößt, ist er
       da: jener leicht moderige Geruch, der anzeigt, dass es bald mit dem Baden
       vorbei sein könnte. Der entweder darauf hindeutet, dass schlicht zu viele
       Menschen mit zu viel Sonnenmilch an zu vielen Tagen im Wasser waren. Oder
       dafür steht, dass einfach das Ende der Saison naht, der See irgendwie
       erschöpft wirkt von all der Nutzung und es bald sowieso schon wieder zu
       kühl zum Baden oder Schwimmen sein wird.
       
       Es ist ein Geruch, den man erwartet, befürchtet, verdrängt, zur Seite
       schiebt. Denn er würde bedeuten: Das war’s erst mal oder ganz für einen
       Sommer. Vorbei sind die Tage mit herrlichem klarem Wasser. Im muffigen See
       zu schwimmen muss ja nicht sein. Gut, mit Nasenklemme ginge es – aber so
       ein Geruch kann ja auch bedeuten, dass es insgesamt nicht so schlau ist, im
       entsprechenden See zu baden. Die offizielle Einschätzung zur Wasserqualität
       findet sich in der „[1][Liste der Badestellen“] auf der Internetseite des
       Landesamts für Gesundheit und Soziales.
       
       Ein solcher Geruch ist deshalb ein typisch berlinerischer, weil es ihn in
       den meisten anderen deutschen Großstädten gar nicht oder zumindest kaum
       gibt: Sie haben nämlich keine Seen, in denen es sich so sauber, offiziell,
       ausgiebig, unterschiedlich, oft ungestört und idyllisch schwimmen lässt wie
       in Berlins Seen. Die Seen sind quasi die Freibad-Eintrittskarte zum
       Nulltarif, stadtweit von Wannsee im Westen bis zum Müggelsee im Osten der
       Stadt mit der BVG und regulärer 49-Euro-Monatskarte oder
       9-Euro-Sozialticket als Zubringer.
       
       Millionenstadt und laut Regierungschef Kai Wegner (CDU) Deutschlands
       einzige internationale Metropole und zugleich das Über-50-Seen-Bundesland,
       wer kann das sonst bieten? Auch nicht München. Vielleicht haben sie dort
       auch deshalb mal wieder gegen den Länderfinanzausgleich gegeifert, von dem
       Berlin bekanntlich stark profitiert.
       
       Der Geruch des Sees, ob in der muffigen End-of-Season-Variante oder in der
       weit weniger wahrnehmbaren „Hauch von Freiheit und Abenteuer“-Note – er
       lässt sich allein und morgens am intensivsten wahrnehmen. Keine oder kaum
       andere Menschen, die das Auge ablenken, kein Geschrei, kein Musikgedröhn,
       die das Ohr beschallen – die Nase kann in diesem Moment Vorrang vor anderen
       Sinnen haben. Dazu das Glitzern auf dem See, maximal Entenschnattern,
       eintauchen, rausgleiten, auf dem Rücken treiben lassen – und sich
       vielleicht auch noch einen Hauch von Ostsee in diesen Seegeruch reindenken.
       
       „Warum wegfahren? Rausschwimmen!“, hatte das Land Brandenburg vor einiger
       Zeit auf große Plakate schreiben lassen, vor dem Hintergrund eines
       sonnenglitzernden Sees. Wie wahr, und dazu ist noch nicht mal der
       Regionalexpress ins Brandenburgische nötig: Die Berliner Seen sind nur ein
       paar Bus- oder U- oder S-Bahn-Stationen entfernt statt viele hundert
       klimabelastende Flugkilometer weg.
       
       An schönen Tagen mag sich diese Idylle in Berlin zwar nur frühmorgens so
       genießen lassen, anders als an so manchem Brandenburger See, selbst bei nah
       gelegenem Bahnhof. Aber kaum ist es etwas bedeckter als derzeit, sieht das
       auch da schon anders aus. Dann kann es sein, dass zumindest unter der Woche
       der sonst so gut besuchte Teufelssee am Ende der gleichnamigen Chaussee im
       Grunewald auch zur Tagesmitte völlig leer ist.
       
       Wobei noch gar nicht davon die Rede war, wo dieser besagte Geruch herkommt,
       wenn es dann plötzlich im Wasser müffelt. Das sei „der Geruch von
       Faulgasen, die entstehen, wenn Pflanzen am Gewässergrund vermodern“, lässt
       sich beim [2][Jugendverband des Naturschutzbunds Deutschland] nachlesen.
       Was anderswo noch zu erfahren ist: Die von manchen Seebesuchern abgelehnten
       – weil Platz am Ufer nehmenden – Schilfpflanzungen können große Mengen
       Stickstoff- und Phosphatverbindungen sowie andere Nährstoffe aus dem Wasser
       filtern. Was wiederum wichtig sei, um das Wasser zu reinigen. Frühere
       Nutzer des heute so klaren Schlachtensees im Südwesten etwa erinnern sich
       an schilflosere Zeiten, als der See eine weit trübere Brühe gewesen sein
       soll.
       
       Es ist eben auch der Geruch der Seen, der Berlin so besonders macht. Man
       braucht dabei nicht so weit zu gehen wie jüngst der Regierende
       Bürgermeister, der in der größtmöglichen Form von Lokalpatriotismus davon
       sprach, Berlin sei [3][„die schönste Stadt der Welt“]. Da würden einem,
       nicht durch das Amt und die Hoffnung auf Wiederwahl zu solchen
       Ehrerbietungen genötigt, in puncto Schönheit schon noch ein paar andere
       Städte einfallen. Aber wo geht es sonst, gerade noch beim Regierungschef im
       Roten Rathaus oder auf einen Abschiedsbesuch im Pergamonmuseum
       vorbeigeschaut zu haben und bloß rund eine halbe Stunde später fast direkt
       am Seeufer aus der S-Bahn zu steigen?
       
       Der Geruch von alldem, von Fischen genau wie von Moder, von Ostsee oder
       auch des von der Band Die Ärzte besungenen Westerland: Es ist ein großer
       Teil jener Berliner Luft, die gar nicht immer so einen holden Duft haben
       muss wie in dem Paul-Lincke-Evergreen, der stets das Schlussstück beim
       traditionellen Saisonabschluss der Philharmoniker in der Waldbühne ist.
       
       2 Aug 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.berlin.de/lageso/gesundheit/gesundheitsschutz/badegewaesser/liste-der-badestellen/index.php/detail/84
 (DIR) [2] https://www.najuversum.de/wenns-am-see-mueffelt/
 (DIR) [3] /Hoffest-des-Regierenden-Buergermeisters/!5942025
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Stefan Alberti
       
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