# taz.de -- Sommerserie „Wie riecht Berlin?“ (4): Der Geruch von Zuhause
       
       > Berlin riecht nach Falafel und Apfeltasche, Drogeriemärkten und Kaffee.
       > Für Masoomeh Rezaei sind Gerüche besonders intensiv. Denn sie ist blind.
       
 (IMG) Bild: Auch ein Gewürzstand kann eine Duftreise in die Heimat sein
       
       BERLIN taz | Manchmal riecht der Eingang von Masoomeh Rezaeis Wohnheim in
       Dahlem nach ihrer Heimatstadt [1][Schiras]. Vor dem Haus muss es eine Blume
       geben, die im Frühling aufgeblüht ist. Ob es die gleiche ist wie früher in
       Schiras, weiß die Iranerin nicht. Sie ist blind.
       
       Seit zwei Jahren lebt die 33-Jährige in Steglitz und studiert an der Freien
       Universität (FU) ihren zweiten Master „Interdisciplinary Studies of the
       Middle East“. Wegen des Studiums und der besseren Berufschancen sei sie
       nach Berlin gekommen, erzählt sie. In Iran habe sie zuvor persische
       Literatur studiert.
       
       Der Start in Berlin war schwer. Rezaeis kam während Pandemiezeiten hier an,
       fühlte sich einsam und von allem weit weg. Die ersten sechs Monate hat sie
       ihre Studierendenwohnung immer nur in Begleitung mit ihrem Mann verlassen –
       der arbeitsbedingt jedoch oft verreisen muss. So musste sie schnell lernen,
       allein zurechtzukommen.
       
       Von zu Hause bis zum Campus der FU läuft Rezaei 20 Minuten. Anfangs hatte
       sie eine Assistentin für den Weg, mittlerweile kann sie ohne Begleitung
       gehen. „Aber manchmal verlaufe ich mich trotzdem“, erzählt sie, während sie
       ihr Gesicht in die Sonne streckt und den Blindenstock zusammenklappt.
       
       200 Schritte sind es auf dem letzten Stück ihres Wegs bis zur Rost- und
       Silberlaube, dem Hauptgebäude der FU, aber es ist schon vorgekommen, dass
       sie an der Ampel falsch abgebogen ist und dann nicht mehr weiterwusste. Was
       ihr dann immer helfe: der Geruch der Mensa. „Wenn ich den undefinierbaren
       Geruch der Mensa rieche, weiß ich wieder, in welche Richtung ich laufen
       muss“, erzählt sie lachend.
       
       ## Berlin riecht überall nach Essen
       
       Auch sonst riecht Berlin für sie nach Essen. Als Rezaei noch in Schiras
       wohnte, war sie sich sicher, dass ihre Heimatstadt sehr viele Restaurants
       habe, aber: „Ich habe mich geirrt, hier in Berlin gibt es viel mehr.
       Falafel, Kebaps, indisch – überall riecht es nach Essen, ich kriege die
       ganze Zeit Hunger.“ Am liebsten läuft sie mit ihrem Mann über den
       Nollendorfplatz, der Geruch von Essen ist dabei ein steter Begleiter.
       
       Denkt Masoomeh Rezaei über Berlin nach, kommt ihr auch die Vielfalt der
       Supermärkte in den Sinn: Regelmäßig besucht sie iranische, türkische und
       arabische Läden. Dort kann sie alle Zutaten kaufen, die sie für ihre
       iranischen Gerichte benötigt. Dabei hört sie auch oft andere
       Iraner:innen sprechen. So hat sie sich auch Kontakte zu ihrer Community
       aufgebaut – denn an der FU Anschluss zu finden fällt ihr bis heute schwer.
       
       Auch Kochen ist eine wichtige Verbindung zu ihrer Heimat. Die meisten
       iranischen Gerichte müssen mehrere Stunden köcheln, sie seien ein Prozess,
       erklärt Rezaei. In ihrem Wohnheimkomplex in Steglitz lebe noch eine andere
       Iranerin, sie könnten beide sofort erschnuppern, wenn die andere kocht und
       sich der Duft von Zimt, schwarzem Pfeffer und anderen Gewürzen in der Luft
       verteilt. „Dann schreiben wir uns gegenseitig, ob wir vorbeikommen und
       einen Happen mitessen können“, erzählt sie.
       
       Wie wichtig ihr Geruchssinn ist, hat Rezaei jedoch erst gemerkt, als sie –
       noch in Iran – an Corona erkrankte. Für sie als blinde Person ist das Gehör
       der wichtigste Sinn, das gilt auch für ihr jetziges Leben in Berlin. Doch
       als sie damals [2][einen Monat kaum riechen] konnte, sei ihr erst bewusst
       geworden, wie wichtig ihr Riechvermögen für sie sei, berichtet sie. Sie
       habe damals immer jemanden aus der Familie fragen müssen, welches Gewürz
       sie in der Hand hielt, in welches Obst sie gleich beißen würde. „Seitdem
       schätze ich meinen Geruchssinn viel mehr“, bemerkt die 33-Jährige.
       
       ## U-Bahnen riechen besonders intensiv
       
       So schnuppert sich Rezaei nun durch Berlin. Für sie riecht die Stadt nach
       Kaffee und Bäckereien, die Fusion dieser Gerüche signalisieren ihr oft den
       Eingang einer U-Bahn-Station. Trotzdem benutzt sie die U-Bahn nicht allzu
       gern, denn dort bemerkt sie oft beißende Gerüche: „Manche Menschen riechen
       unangenehm, das kommt mir in der U-Bahn sehr intensiv vor. Aber weil ich
       nicht genau weiß, woher die Gerüche kommen, kann ich mich nicht umsetzen.“
       Den Berliner Nahverkehr möchte sie trotzdem nicht missen, betont sie – er
       schenkt ihr Freiheit.
       
       Berlin riecht manchmal auch nach Zigarettenrauch, der zeigt ihr, wie nah
       eine Person an ihr vorbei läuft. Manchmal tragen Berliner:innen Parfüm,
       das gefällt Rezaei. Denn auch hieran kann sie erkennen, wie nah ihr jemand
       kommt. In einigen Fällen erkennt sie einzelne Personen auch an ihrem
       Parfüm. „Was ich an Berlin auch genieße, ist der Duft von DM und Douglas.
       Überhaupt mag ich es, in Drogerien zu gehen“, schwärmt sie. Die kann sie
       beim Vorbeigehen erschnüffeln, sie signalisieren ihr, in was für einer
       Straße sie sich gerade befinden könnte. Sie selbst trägt auch gern Parfüm,
       heute riecht sie nach Rosen.
       
       Auch der Gang in deutsche Supermärkte sei ein intensives Geruchserlebnis,
       versichert die Iranerin. Zwar kann sie als blinde Person nicht alleine
       einkaufen gehen, dafür sind die Produkte zu unterschiedlich angeordnet in
       den einzelnen Märkten. In einigen können blinde Personen zwar nach einer
       [3][Assistenz] bitten, doch das funktioniere nicht immer. Deswegen dient
       auch hier der Geruch als Orientierung für Rezaei.
       
       Die Hygieneabteilung findet sie schnell, auch die Obstabteilung hinterlässt
       Duftspuren. Bananen riechen süß, ein wenig klebrig, die kann sie gut
       ertasten. Doch am meisten genießt sie deutsche Läden aus einem anderen
       Grund: „Ein Halt beim Einkaufen ist für mich immer ist das Backwarenregal.
       Ich hole mir dann eine Apfeltasche, die kann ich am Geruch erkennen, und
       die liebe ich einfach.“
       
       ## Der Sommer riecht hier anders als Zuhause
       
       In Dahlem fühlt sich Masoomeh Rezaei sicher und frei, sie kann abends nach
       Hause gehen, wann sie will. Sie liebt die – wie sie findet – ebenen, nahezu
       perfekten Bürgersteige. Sie mag den Geruch des Wetters, gerade jetzt im
       Sommer kann sie die Feuchtigkeit fast riechen, während die Luft in Schiras
       zu dieser Jahreszeit trocken riecht. Auch wenn sie das wechselhafte Wetter
       Berlins im Sommer manchmal anstrengend findet.
       
       Bald wird Rezaei wieder umziehen müssen, ihr Mann hat einen neuen Job in
       den USA gefunden. Sie, die den Master fast fertig hat, wird ihm folgen, und
       versuchen, dort einen Job zu bekommen, während sie sich an eine neue Stadt
       gewöhnen muss. Doch auch wenn sie geht, wird Berlin bleiben: Durch
       Erinnerungen an Gerüche, mit denen sie jetzt nicht nur Schiras verbindet,
       sondern auch Berlin.
       
       15 Aug 2023
       
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