# taz.de -- Baden in jeder niederländischen Provinz: Mit allen Wassern gewaschen
       
       > Kann man in den Niederlanden an einem Tag in allen zwölf Provinzen
       > schwimmen gehen? Unser Autor hat es probiert. Ein nasskalter Roadtrip.
       
       Die Sonne kommt von der falschen Seite. Ich selber merke das nicht, denn
       ich tauche gerade zum ersten Mal in die Duivendrechtsevaart ein, einen nur
       wenige hundert Meter langen Seitenkanal der Amstel im Süden von Amsterdam.
       Annabel aber, die hier in der Nähe [1][auf einem Hausboot wohnt] und die
       vaart ihr Biotop nennt, ist irritiert. Normalerweise fallen die
       Sonnenstrahlen von Westen ein, wenn sie hier schwimmt. Jetzt aber kommen
       sie von Osten. Denn es ist nicht einmal 9 Uhr an einem Sonntag Anfang
       September.
       
       Es fühlt sich unwirklich an, dass wir jetzt schon im Wasser sind. Wie oft
       haben wir gelacht über all die wackeren Calvinisten in diesem Land, die in
       der „Open Water Swimming“-Facebookgruppe von ihren frühmorgendlichen
       aquatischen Erlebnissen berichten. Ihre euphorisierten Sonnenaufgangsfotos
       qualifizieren wir routinemäßig als Fake News ab. Wir schwimmen spät – außer
       heute.
       
       Denn dass wir jetzt, um kurz nach 9, im Auto sitzen, hat einen Grund: Wir
       wollen in jeder der zwölf Provinzen der Niederlande schwimmen, und das an
       einem Tag. Lässt sich das machen? Die meisten Menschen um uns herum waren
       sich einig: auf keinen Fall. Ein paar lachten uns aus.
       
       Selbst in einem kleinen Land hilft es, ein solches Vorhaben zu planen.
       Genau das aber wollten wir nicht, jedenfalls nicht weiter als die ersten
       Schritte. Von Amsterdam in Noord-Holland, wo wir beide wohnen, fahren wir
       also los, überqueren irgendwann die erste Provinzgrenze nach Utrecht und
       parken um 9.30 Uhr am Deich in Botshol. Die Seenplatte dieses pittoresken
       Naturgebiets ist sehr beliebt bei der schwimmenden Bevölkerung der Region.
       
       ## Umweg oder Hautausschlag in Kauf nehmen?
       
       Im Wasser, das hier um einiges klarer ist als in der Stadt, treiben um
       diese Zeit schon einige bunte Schwimmbojen. In diesen aufblasbaren
       Behältern, die mit einem Band um die Hüfte befestigt werden, lassen sich
       Telefon, Schlüssel oder Handtuch mitnehmen, und sie erhöhen die eigene
       Sichtbarkeit. Sie sind das Erkennungssymbol all jener, die sich zur
       wachsenden Zunft der Open-Water-Schwimmer zählen. Der Name ist leicht
       prätentiös, denn eigentlich bedeutet er nichts anderes, als außerhalb von
       Schwimmbecken zu baden.
       
       In Ermangelung anderer sportlicher Betätigung wurde das in der
       Coronapandemie in den Niederlanden zum Hype, und der Erwerb einer solchen
       Schwimmboje ist so etwas wie die Initiation. Fortan verwendet man sie,
       selbst wenn man nur ein paar Meter im hüfttiefen Uferbereich zurücklegt.
       Auch auf der Wiese in Botshol liegen einige Bojen. Wer wieder an Land ist,
       macht sich im Gras lang. Wer noch zehn Provinzen vor sich hat, schenkt sich
       das.
       
       Unterwegs nach Zuid-Holland sitze ich mit Mütze und Kapuzenpullover im
       Auto, die Sonne ist noch nicht auf Trab, und ich kühle im Wasser immer
       schnell aus. Wir schwimmen beide das ganze Jahr über draußen, ohne
       Neoprenanzug, aber Annabel kann wesentlich mehr Kälte ab als ich. Nun aber
       befinden wir uns am Ende des heißesten Sommers der Aufzeichnungen, und die
       Hindernisse auf unserem Weg sind dementsprechend.
       
       Das Braassemermeer, nördlich von Leiden gelegen, fluoresziert in einem
       prächtigen Grellgrün. Dass wir irgendwo auf dieser Tour [2][mit Blaualgen]
       zu tun bekämen, hätten wir uns denken können. Je länger und wärmer der
       Sommer, desto sicherer treten sie auf. Abwägen: Gegebenenfalls
       Magenprobleme und Hautausschlag in Kauf nehmen oder eine andere
       Wasserstelle in Zuid-Holland suchen?
       
       Die Antwort ist klar, und so landen wir im Vlietland, einem ausgedehnten
       Naturgebiet, strategisch dicht an der Autobahn gelegen. Auch hier gibt es
       einige grüne Teppiche im Wasser und die meisten Sonntagsgäste liegen im
       Strand auf dem Trockenen. Doch inzwischen geht es auf 12 Uhr zu, die
       verfluchten Algen haben uns schon genug Zeit gekostet. Wir suchen uns eine
       Stelle, die noch weitgehend klar erscheint – von den kleinen Partikeln im
       Wasser abgesehen, denen man beinahe dabei zusehen kann, wie sie sich zu
       Cyanobakterien entwickeln –, halten den Besuch kurz und beim Kraulen die
       Lippen ziemlich fest geschlossen.
       
       Und dann steht Zeeland an. Die südwestlichste Provinz des Landes wird eine
       Herausforderung: Wasser gibt es reichlich, aber wir wollen nicht über all
       die Brücken und Dämme bis an die Küste. Ein Binnensee muss her, so nördlich
       und östlich wie es nur geht. Er findet sich bei den Krammerschleusen im
       Grevelingenmeer, umgeben von einem wahren Archipel aus Brücken und Dämmen –
       Befestigungsanlagen, die hier nach der verheerenden Flutkatastrophe von
       1953 errichtet wurden. Der bewohnte Teil des Landes verschwand vor einer
       Weile im Rückspiegel, um uns herum ist nichts als Bollwerk gegen das
       Hochwasser.
       
       ## Zu Verbotsschildern pflegen wir ein laxes Verhältnis
       
       Direkt am Philipsdam befindet sich ein abgetrenntes 500 Meter langes
       Bassin, eingerahmt von Windrädern und einem schmalen Sandstreifen
       unbestimmter Farbe ohne jede weitere Infrastruktur. Zweifellos ein
       Schmuddelkind unter den Stränden Zeelands, das nun karg und bewegungslos in
       der inzwischen drückenden Hitze des Mittags vor uns liegt. Das Wasser ist
       salzig, und Quallen gibt es auch. Mehrmals drücke ich eine mit der Hand zur
       Seite, Annabel, hinter mir schwimmend, hofft, dass ich die Geschöpfe für
       sie abräume, was nicht aufgeht.
       
       Gegen 14 Uhr textet Onno, ein anderer Schwimmfreund, dem wir aus jeder
       Provinz ein Foto schicken: „Macht es noch Spaß, oder fängt es an schwer zu
       werden?“ Nein, schwer ist es nicht, aber eine Trägheit sitzt mit uns im
       Auto auf dem Weg nach Osten. Es fühlt sich nach Siesta an, eigentlich. „Ich
       rieche Groningen“, sage ich ein paar Mal ironisch, denn wir haben nicht
       einmal die Hälfte geschafft und die nordöstlichste Provinz erscheint in
       diesem Moment wie ein unerreichbarer Ort. Wir fahren abwechselnd, schaufeln
       uns Tomaten, Nüsse und Datteln in den Mund, planen, irgendwo Kaffee zu
       trinken.
       
       Die Kilometer, die wir zurücklegen, scheinen der Zeit hinterherzuhinken.
       Nach vier ist es schon, als wir aus dem eher unauffälligen Engelermeer in
       Noord-Brabant kommen. Halb sechs, als wir in Limburg in den Mookerplas
       eintauchen. Die meisten Sonntagsgäste haben den Strand verlassen. Auch hier
       schwimmen Partikel im Wasser herum, die nicht nur dem harten Einfall der
       Abendsonne geschuldet sein können.
       
       Spätestens jetzt ist klar, dass wir das Ganze zumindest nicht mehr bei
       Licht über die Bühne bringen. „Wann wird es eigentlich dunkel?“, fragt
       Annabel. Um 19 Uhr jedenfalls noch nicht. Wir stehen im Sand des Lentse
       Plas bei Nijmegen, Provinz Gelderland. Wir wählen die Orte jetzt strikt
       nach geografischer Lage aus, wobei dieser See am Rand eines Neubauviertels
       mit der Andeutung einer Düne überraschend pittoresk ist. Anderthalb Stunden
       bis zum Sonnenuntergang. Im Visier haben wir noch die achte Provinz:
       Overijssel. Danach, davon gehe ich aus, rollen wir wohl nach Hause. Zwei
       Drittel, das ist schon auch nicht schlecht!
       
       Im Moment, in dem wir die Stadsgracht von Zwolle tief unter uns sehen,
       ändert sich diese Perspektive. Denn Annabel und ich teilen eine Vorliebe
       für eine Subströmung der Open-Water-Szene, für etwas, das wir guerilla
       swimming nennen und das sich durch ein eher laxes Verhältnis zu
       Verbotsschildern auszeichnet. Hier steht zwar keines, eine ausgewiesene
       Schwimmstelle ist der Hafenbereich aber auch nicht, und genau das beflügelt
       uns. Über Sprossen in der Wand geht es herunter, das Wasser ist frischer
       als befürchtet, und wir sprinten eine Runde durchs Hafenbecken.
       
       Mit breitem Grinsen kommen wir oben wieder an. Es scheint, als hätte jemand
       einen Knopf gedrückt, als beginne das ganze Projekt jetzt erst und alles
       vor Zwolle sei nur Prolog gewesen. Es dämmert, ich finde eine Packung
       Müsliriegel zum Abendessen, der Kaffee wird sich unterwegs finden, denn
       Annabel schlägt vor: „Das Blauwe Meer machen wir noch, oder?“ Meine Antwort
       ist ein noch breiteres Grinsen. Na klar machen wir das. „Wie weit ist es?“
       – „Knapp 50 Minuten.“
       
       ## Die Luft ist sacht, der Sand und der See auch
       
       Das Blauwe Meer ist eine Art Konsensbadestelle unter Draußenschwimmern
       dieses Landes. Egal ob man die Sache sportlich betreibt, aus
       Gesundheitsgründen, als Naturerlebnis oder zur esoterischen
       Selbstoptimierung, auf den meisten Listen der beliebtesten Wasserlöcher
       taucht diese tief in den Wäldern der Provinz Drenthe gelegene Schönheit
       auf. Als wir dort ankommen, ist es stockfinster. Unterwegs hat es geregnet,
       zum ersten Mal seit Wochen. Der Geruch feuchten Sommerbodens hängt schwer
       zwischen den Bäumen. Eine Schranke versperrt die Weiterfahrt, zu Fuß tasten
       wir uns per GPS durch den Wald. Die Luft ist sacht, der Sand und der See
       auch. Ein oranger Mond schiebt sich durch die Wolken und auf die glatte
       Wasserfläche.
       
       Und dann riechen wir wirklich Groningen. „50 Kilometer bis zum Paterswoldse
       Meer“, verkündet Annabel. Es ist, als habe jemand vorgespult. Oder Annabel
       und ich, erklärte Nachttiere, sind einfach nur in unserem Element
       angekommen.
       
       Ehe wir uns versehen, gibt das GPS 23 Minuten bis zum Ziel an. Weit wie
       eine Meeresbucht öffnet sich der See vor einem Strand mit alten Bäumen, von
       den Ufern blinken Lichter hinüber. Das Paterswoldse Meer kannte ich bei
       Licht. Jetzt aber bekommt die Szenerie etwas Traumhaftes, während die
       Tropfen eines neuen Schauers auf das Wasser fallen.
       
       Als wir wieder im Auto sitzen, geht es auf Mitternacht zu. „Zurück müssen
       wir sowieso. Also können wir auch in Friesland und Flevoland noch
       anhalten.“
       
       Damit spricht Annabel es erstmals aus: Wir werden die zwölf Provinzen
       vollmachen. Schließlich hatte niemand gesagt, das müsse im Hellen
       geschehen! Statt Trägheit haben wir jetzt Euphorie an Bord. Noch 45, 32, 21
       Minuten, sagt das GPS. Noch 8. Es läuft jetzt wie von selbst, nur: langsam
       beginne ich es frisch zu finden. Skipsleat, ein kleiner See bei Joure im
       Süden von Friesland, liegt am Rand einer Wohnsiedlung. Um Energie zu
       sparen, parken wir fast auf dem Strand. Wir fliegen durchs Wasser, aber als
       wir wieder herauskommen wünsche ich mir eine dicke Jacke. Es ist ein Uhr
       morgens.
       
       Wieder das GPS: 25 Minuten bis zur Wellerwaard in Flevoland. Die letzte
       Provinz. Im Café am Ufer wird gerade das Licht ausgemacht, als wir
       ankommen. Es scheint ein langer Sonntag gewesen zu sein. Auf dem Strand ist
       ein Piratenschiff aus Holz nachgebaut, mit Totenkopfflagge. Annabel und ich
       fragen uns, ob wir vielleicht nur fantasieren und das Schiff bei
       Sonnenaufgang verschwunden sein wird.
       
       Wir hingegen sind voll da. Zwölf Provinzen, zwölfmal ins Wasser und wieder
       raus, 17 Stunden unterwegs in einem einzigartigen, 900 Kilometer langen
       Tunnel. Am Schluss sitzen wir auf dem Asphalt des Parkplatzes, am Rand
       eines verlassenen Ausflugsziels, in der Hand das letzte Glas von Annabels
       selbst gebrautem Ingwerbier. Der Boden ist noch warm.
       
       12 Nov 2022
       
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