# taz.de -- Bildungsgesetz in Ungarn: Kein Unterricht für Orbán
       
       > In Ungarn stellt das Bildungsgesetz Lehrkräfte vor die Wahl:
       > Einflussnahme der Regierung hinnehmen oder den Beruf wechseln. Manche
       > gehen segeln.
       
 (IMG) Bild: Seit den Sommerferien arbeitet Veronika Molnár statt in der Schule als Segellehrerin auf dem Balaton
       
       VESZPRÉM taz | Am Ende halfen auch die Proteste nichts. Anderthalb Jahre
       lang sind Zehntausende Lehrer, Schüler und Eltern in vielen Teilen Ungarns
       auf die Straße gegangen. Gegen die miserablen Bedingungen im Schulsystem,
       gegen die zunehmende politische Kontrolle. Doch es half nichts: Im Juli
       beschloss die Fidesz-Regierung mit ihrer Zweidrittelmehrheit im Parlament
       [1][ein neues Bildungsgesetz], das die Arbeitsbedingungen deutlich
       verschlechtert und die Freiräume von Lehrern beschneidet.
       
       Ab 2024, wenn das Gesetz in Kraft tritt, liegt die erlaubte Arbeitszeit bei
       48 statt wie bisher bei 32 Wochenstunden. Lehrer und Klassenzimmer dürfen
       dann überwacht werden. Kündigungen und Versetzungen werden einfacher – es
       reicht die Teilnahme an einer Demo.
       
       Vor dem Start des neuen Schuljahrs kommende Woche herrscht entsprechend
       viel Missmut. Als „Rachegesetz“ sehen es die, die monatelang gegen die
       Bildungspolitik von Ministerpräsident [2][Viktor Orbán] auf die Straße
       gingen. Sie sprechen von einem Rückschritt, der die bestehenden Probleme –
       allen voran den eklatanten Lehrermangel – weiter verschärfen werden.
       
       Als „brutales, repressives Werkzeug, um Widerstand zu unterdrücken und die
       Lehrer unter Kontrolle zu halten, das Schüler ihrer Ausbildung und ihrer
       Zukunft beraubt“, bezeichnete es die liberale Europaabgeordnete Katalin
       Cseh. [3][Nach den Medien], der Justiz [4][und den Universitäten] bringt
       Orbán jetzt auch die Lehrer:innen noch stärker unter seine Kontrolle.
       
       ## Vor die Wahl gestellt
       
       Entworfen hatte das Gesetz das Innenministerium, ein Bildungsministerium
       gibt es in Ungarn seit 2010 nicht mehr. Am 4. Juli dieses Jahres, kurz nach
       Ferienbeginn, verabschiedete das Parlament mit 136 zu 58 Stimmen das neue
       Gesetzespaket. Doch welche Ziele die Regierung damit verfolgt und wie ernst
       sie die Kritik nimmt, bleibt unklar. Die Anfragen der taz an das
       Innenministerium und die Pressestelle der Regierung blieben unbeantwortet.
       
       „Die meisten Lehrer haben sich mit den schon seit Jahren schlechten
       Bedingungen abgefunden – oder längst gekündigt“, sagt Veronika Molnár. Die
       44-jährige Englischlehrerin entschied sich nach ihrem zweiten Burnout für
       Letzteres. Die taz trifft sie in Veszprém, gerade Kulturhauptstadt Europas.
       
       Die meisten Touristen kommen aber wegen des nahen Balaton und seiner
       Badestrände. Der große ungarische Binnensee fasziniert Molnár seit ihrer
       Kindheit. Und so machte sie ihre zwei größten Leidenschaften – das Segeln
       und das Lehren – zu ihrem neuen Beruf. Seit Kurzem ist sie Segellehrerin
       für Wettkampfteams.
       
       ## Lehrkräfte sind überlastet
       
       Seitdem sie ihren alten Beruf aufgegeben hat, ist sie aufgeblüht, sagt sie.
       Es wird aber noch dauern, bis es ihr wieder durch und durch gut geht. Im
       Frühjahr sei ihr alles zu viel geworden, erzählt sie. Der jahrelang
       aufgebaute Stress, die zunehmende Politisierung der Bildung. Molnár hatte
       einen Zusammenbruch. Sie kündigte. Das Schuljahr hat sie aber noch zu Ende
       gebracht, das war ihr wichtig.
       
       Dabei ist das Lovassy-Laszló-Gymnasium im Stadtzentrum von Veszprém, an dem
       Molnár bis vor kurzem Englisch und Informatik unterrichtete, eine der
       besten Schulen außerhalb Budapests, wie jährliche Schulrankings belegen. Es
       ist eine öffentliche Schule, die vor allem Kinder aus bessergestellten
       Familien besuchen.
       
       Ein großes Problem im ungarischen Schulsystem ist die Überalterung des
       Lehrpersonals. Davon kann auch die Geschichtslehrerin Elizabet Varga
       berichten. Sie unterrichtet an einer Mittelschule im Westen Ungarns. Da sie
       noch im Berufsleben steht, hat sie die taz um Anonymität gebeten. Weil auch
       Varga die Pläne der Regierung kritisch sieht, fürchtet sie Konsequenzen,
       sollte ihr richtiger Name in der Zeitung stehen.
       
       ## Unattraktiver Beruf
       
       Mit Mitte 50 liegt sie im Altersschnitt an ihrer Schule. Nach 30
       Berufsjahren in ihrer Schule verdient sie umgerechnet etwa 1.000 Euro
       brutto. Mehr ist im Lehrberuf nicht möglich, wie sie sagt. Das
       Einstiegsgehalt liegt bei knapp über 500 Euro, deutlich unter dem
       ungarischen Median von etwa 1.200 Euro. Laut der Lehrergewerkschaft PDSZ
       fehlten 2022 16.000 Lehrer im Schulsystem, ungefähr ein Achtel der
       Gesamtzahl. Auch neue Lehramtsstudierende kommen kaum nach.
       
       Vargas Schüler fragen regelmäßig, warum sie sich diesen Job für dieses
       Gehalt antue. Dann weiß sie immer weniger, was sie sagen soll. „Nicht nur
       ist es miserabel bezahlt, auch bezahlt man selbst einen Preis dafür“, sagt
       Varga. Sie spricht von Stress, der im Lehrerberuf ganz besonders sei. Und
       nun soll sie noch mehr arbeiten, obwohl sie jetzt schon rund 50 Stunden die
       Woche arbeitet. Neben dem eigentlichen Unterrichten muss Varga Lehrstunden
       vorbereiten, Administratives abarbeiten und außerschulische Aktivitäten
       vorbereiten.
       
       An Molnárs früherer Schule in Veszprém sind die Bedingungen vergleichsweise
       gut. Die Kinder kommen vor allem aus gutbetuchten und „ambitionierten“
       Familien, aber auch hier gibt es systemische Zwänge. „Sie haben die
       Lehrpläne vollgepackt. Sie wollen die Gehirne der Schüler füllen wie einen
       Wassereimer“, sagt Molnár im Rückblick. Dabei sei es vielfach sinnloses
       Spezialwissen, das vermittelt werden soll, anstatt digitale Kompetenzen und
       moderne Fähigkeiten.
       
       ## Keine guten Absichten
       
       Auch die Zahl der auswählbaren Schulbücher wurde immer mehr reduziert,
       berichtet Molnár. In Fächern wie Mathematik, Chemie und Latein haben die
       Lehrer gar keine Wahlmöglichkeit mehr. „Es ist ihnen egal, an welcher
       Schule man unterrichtet und was die Schüler brauchen“, sagt sie.
       
       Stärker als früher gehe es um ungarische Kultur, Geschichte und Literatur.
       Die Französische Revolution hingegen sei gestrichen worden. Als sie vor
       etwa 20 Jahren zu unterrichten begann, gab es Philosophie und Ethik noch
       als eigene Fächer, heute nicht mehr. Auch politische Bildung ist kein
       eigenes Schulfach und wird allenfalls im Sprachunterricht gestreift.
       
       Nichts davon dürfte besser werden, wenn es nach den meisten Experten geht.
       Die drängendsten Anliegen der Lehrerschaft, unter anderem mehr Personal und
       eine bessere Bezahlung, hat die Regierung auch in dem neuen Bildungsgesetz
       nicht adressiert. „Ich kann beim besten Willen keine guten Absichten
       erkennen“, sagt Molnár. „Sie wollen das Bildungssystem führen wie einen
       großen Konzern. Aber das machen die Menschen nicht mit.“
       
       ## Viele Ungarn resignieren
       
       Ein Problem bei alldem sei auch die zunehmende Resignation vieler Ungarn.
       Die allermeisten Menschen seien nicht mehr politisch interessiert,
       beobachtet Varga. Vielmehr kümmerten sie sich um ihr direktes Umfeld, um
       das Essen, die Miete und darum, dass die Kinder außer Haus sind. „Was in
       der Schule mit ihnen passiert, ist vielen Eltern egal“, glaubt sie.
       
       Dazu kommt: In den regierungsnahen Medien wird ein Ungarn gezeichnet, in
       dem alles gut funktioniert: Gesundheitssystem, Sozialsystem, Schule. Auch
       viele Lehrer haben sich, so Varga, längst mit den Umständen abgefunden. In
       Zeiten hoher Arbeitslosigkeit bietet selbst der schlecht bezahlte
       Lehrerberuf eine gewisse Sicherheit.
       
       Von der Lehrergewerkschaft sind beide enttäuscht. Sie habe mehr eine große
       Show abgezogen als wirklich etwas bewegt, sagt Varga. Allerdings ist nur
       ein Bruchteil der ungarischen Lehrer auch Mitglied in einer Gewerkschaft.
       Molnár und Varga sind es nicht. Dennoch hat sich Molnár bis zuletzt an den
       Streiks beteiligt, vor allem an den großen in Budapest. Nichts werde sich
       ändern, wenn man nicht Kante zeigt, dachte sie da noch.
       
       Aber auch so hat sich leider nichts verbessert, sagt sie heute. „Keiner von
       der Regierung hat unserer Kritik zugehört.“ Dass sie nach 20 Berufsjahren
       in der Schule nun als Segelcoach arbeitet, bereut sie aber kein bisschen.
       Wobei ihr am letzten Schultag, beim Abschied von ihren Kollegen und
       Schülern, dann doch ein letztes Mal Zweifel gekommen sind. Kann sie die
       wirklich im Stich lassen? Als sie dann aber nach Hause kam, fühlte sie eine
       riesige Last von ihren Schultern fallen. „Da habe ich begriffen: Es war die
       richtige Entscheidung.“
       
       25 Aug 2023
       
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