# taz.de -- Diebstahl als Gerechtigkeit: Warum ich gerne klaue
       
       > Klauen gilt als unmoralisch. Dabei ist es ein Schlag gegen ein System,
       > das Waren mehr respektiert als Menschen. Eine Ode an den
       > Fünf-Finger-Rabatt.
       
 (IMG) Bild: Winona Ryder wurde 2001 bei der Vergesellschaftung von Luxusgütern erwischt. Hier 2002 vor Gericht
       
       Vor ein paar Wochen gab es in Norwegen Aufregung, die hierzulande nicht
       mehr als eine lustige Randnotiz war. Bjørnar Moxnes, der Vorsitzende der
       norwegischen sozialistischen Partei Rødt, ist von seinem Amt
       zurückgetreten, weil er dabei erwischt wurde, wie er am Flughafen eine
       Sonnenbrille von Hugo Boss geklaut hat. Hat er es überhaupt nötig zu
       klauen, fragten viele. Ich frage mich viel eher: Warum am Flughafen? Das
       ist wahrlich nicht der beste Ort für Diebstahl.
       
       Und damit kenne ich mich aus. Ich bin Mitte 30, arbeite Teilzeit in einer
       Behörde und lebe in einer Altbauwohnung mit einem sogenannten alten
       Mietvertrag. Trotzdem geht fast die Hälfte meines Gehalts für Miete drauf.
       Auch ich habe es nicht unbedingt nötig, aber ich klaue gerne. Nicht weil
       ich etwa Kleptomanie habe, sondern weil es mir ein Gefühl von Ausgleich
       gibt. Es ist aufregend, es beruhigt mich und vor allem finde ich es
       gerecht. Denn eine Praxis, die wir normalerweise Jugendlichen in ihren
       rebellischen Antiphasen oder in einer Notlage zuschreiben, kann auch
       kapitalismuskritische Praxis sein.
       
       Neun Euro für Olivenöl, 8 für Kaffee, ein Granatapfel kostet 3 Euro und
       eine Mango manchmal 4 Euro[1][. Gesund ernähren ist für
       Gutverdiener:innen]. Nicht umsonst gibt es inzwischen [2][ein
       Twitter-Genre, in dem Leute ihren Einkauf auf dem Warenband zeigen] und man
       schätzen soll, was dafür bezahlt werden musste. Natürlich erscheint einem
       das Ergebnis jedes Mal als [3][unglaubliche Frechheit].
       
       Doch diese Limitation, die man im Laden spürt und die in allen Facetten auf
       gesellschaftlicher Ungerechtigkeit basiert, kann ich nicht akzeptieren. In
       diesem Land soll es der Wirtschaft gut gehen und nicht den Menschen,
       deshalb wird Reichtum geschützt und Sozialpolitik gegen arme Menschen
       gemacht. Ich brauche nicht jeden Monat neue Kleidung, aber wenn ich neue
       Kleidung brauche, dann möchte ich dafür nicht am Essen sparen müssen. Das
       Problem lässt sich nicht von heute auf morgen lösen, deshalb muss ich mich
       als Individuum in diesem kapitalistischen System zurechtfinden.
       
       Im Juni dieses Jahres gab das EHI Retail Institut, ein Forschungs- und
       Bildungsinstitut für den deutschen Handel, [4][eine Studie heraus], die
       einen Anstieg der Verluste durch Ladendiebstahl feststellte. Gemessen wird
       das durch die Inventurdifferenzen, die auf Diebstahl durch Kundschaft,
       Beschäftigte, Servicekräfte und Liefernde zurückzuführen sind. Der Anteil
       des Verlusts, der sich für den gesamten deutschen Handel aus Diebstahl
       ergibt, ist von 12 auf 15 Prozent gestiegen. Das bedeutet, im Jahr 2022
       wurden Waren im Wert von 3,73 Milliarden Euro gestohlen. Also gut 30 Euro
       pro Bürger:in jährlich.
       
       Die Zahlen sind damit wieder auf einem ähnlichen Niveau wie vor der
       Coronapandemie. Der Autor der Studie, Frank Horst, kommt trotzdem zu dem
       Schluss, „dass wieder vermehrt Langfinger ihr Unwesen in den
       Einkaufsstraßen treiben“, und „dass der Anstieg der Ladendiebstähle nach
       wie vor eine große Gefahr darstellt“.
       
       Das Bild des notorisch kriminellen „Langfingers“ wird genutzt, um eine
       Gefahr darzustellen. Doch wer ist denn eigentlich die Gefahr in diesem
       Land? Diebstahl wird kriminalisiert, aber würden wir stattdessen [5][Löhne
       kriminalisieren, die nicht zum Leben ausreichen], gäbe es vielleicht gar
       nicht so viele „Langfinger“. Doch die Ausbeutung der Menschen wird
       hierzulande niemals kriminalisiert werden, schließlich steht hier das
       Wohlergehen der Wirtschaft immer über dem Wohlergehen der Menschen. Ich
       halte Reichtum für gefährlicher als Diebstahl. Und vor allem für moralisch
       fragwürdiger.
       
       Wenn ich klaue, gibt es aber Regeln. Ich klaue nicht von Menschen oder in
       kleinen inhabergeführten Läden, sondern von Konzernen. Ich will niemandem
       was wegnehmen, außer denen, die eindeutig zu viel haben und die es gar
       nicht merken. Im Einzelhandel sind Verluste mit einkalkuliert und zwar in
       den Preisen. Man kann daraus schlussfolgern, dass andere Kund:innen also
       für einen Diebstahl mitbezahlen, aber in dieser Logik muss man dann auch
       daran glauben, dass die Preise sinken, wenn weniger geklaut wird.
       
       Natürlich bin ich privilegierte Diebin. Ich bin nicht dazu gezwungen, zu
       klauen, und aufgrund meiner gesellschaftlichen Stellung brauche ich weniger
       Angst vor einer Bestrafung zu haben als eine Person, die aus der Not heraus
       klaut.
       
       Ich klaue beim täglichen Einkauf. Dabei packe ich alle Lebensmittel in
       meinen Jutebeutel und am Kassenband vergesse ich dabei, ein paar aufs Band
       zu legen. Sollte das jemandem auffallen – und das war noch nie der Fall –,
       kann ich einfach sagen, dass ich es verschusselt habe. Wer Lebensmittel in
       seine Jackentasche steckt, kommt damit nicht durch.
       
       Aufgeregt bin ich beim Klauen schon lange nicht mehr, und dahinter
       versteckt sich auch die Kunst, sich so zu verhalten, dass es dir niemand
       ansieht, dass du gerade etwas Verbotenes tust.
       
       Auf Sicherungen sollte man achten und sie entfernen, einfach im Gehen
       fallen lassen oder auf ein anderes Produkt kleben. Das fällt niemandem auf.
       Außer vielleicht dem Ladendetektiv, den man daran erkennt, dass er sehr
       gemütlich und mit viel Zeit durch die Gänge schlendert. Er hat nichts aus
       den (Tief-)Kühlschränken im Wagen und guckt viel zu lange auf Produkte.
       Bleiben da die Kameras, doch in der Regel haben Supermärkte nicht so viele
       personelle Ressourcen, um jemanden dafür zu bezahlen, tatsächlich die ganze
       Zeit auf die Bildschirme zu schauen.
       
       Ich klaue auch online. Ich bestelle mir Sachen, die in den meisten Fällen
       in den Hausflur gestellt werden. Das liegt natürlich wiederum an den
       fatalen Arbeitsbedingungen der Paketzusteller:innen, die einfach keine
       Zeit haben für die persönliche Zustellung mit Unterschrift. Aus dieser
       Ungerechtigkeit drehe ich meinen Vorteil. Ich hole mein Paket aus dem
       Hausflur, sage der Firma, dass nichts angekommen ist, und bekomme mein Geld
       zurück. Die Paketzusteller:innen haben dadurch keinen Nachteil, da
       das mit der Firma des Produkts geklärt wird und nicht der
       Versanddienstleister dafür aufkommen muss.
       
       Ich klaue auch Mobilität, das heißt, ich zahle kein Geld für öffentliche
       Verkehrsmittel. Ja, auch das 49-Euro-Ticket ist mir zu teuer. Stattdessen
       setze ich mich in Bussen und Bahnen immer in die Nähe der Tür, damit ich
       schneller rauskann, falls Kontrolleur:innen einsteigen. Die kann man
       immer gut erkennen, auch wenn sie zivil unterwegs sind. Es sind vier
       Erwachsene mit kleinen Umhängetaschen (da sind die Kontrollgeräte drin),
       die sich an der Haltestelle aufteilen, um durch jeweils eine andere Tür
       einzusteigen.
       
       Wenn man im Laden jemanden sieht, der oder die gerade klaut, stellt sich
       bei Menschen manchmal dieses Gefühl ein: Frechheit! Denn wir haben gelernt:
       Klauen gehört sich nicht. Aber genauso, wie man in der Bahn immer besonders
       lang zum Ticket-Raussuchen brauchen sollte, [6][damit Leute ohne Ticket
       wertvolle Zeit erhalten, um auszusteigen], kann man beim Beobachten von
       Dieben auch denken: Respekt, dass du diesen Weg findest in einem System, in
       dem Waren mehr wert sind als dein Wohlbefinden.
       
       15 Aug 2023
       
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