# taz.de -- Folgen des britischen Kolonialismus: Die Erben der Sklaverei
       
       > Großbritannien bewertet seine Rolle in der Sklaverei neu. Familie
       > Trevelyan arbeitet dabei ihre schändliche Geschichte im Karibikstaat
       > Grenada auf.
       
       ST. GEORGE’S/LONDON taz | Grenada, 9 Uhr morgens. 30 Grad, 74 Prozent
       Luftfeuchtigkeit. Entlang der schmalen Straße zur Hauptstadt St. George’s
       verläuft ein hoher Zaun. Zwei Straßenverkäufer stehen hinter ihren Ständen.
       Hin und wieder steigen ein paar Leute aus Kleinbussen aus und verschwinden
       zu Fuß auf kleinen Wegen zur Arbeit. Hinter dem Zaun befindet sich ein
       chinesisch-grenadisches Agrarprojekt. Auf der anderen Straßenseite steht
       hinter einem Zaun ein verlassenes zweistöckiges graues Gebäude mit
       verblassten Fensterläden. Aus dem Inneren wachsen Pflanzen, der Putz
       bröckelt, manche Fenster und Türen fehlen, das Holz erscheint morsch. Auf
       zwei sonnengebleichten Balken liest man „La Sagesse Natural Works
       Restaurant & Bar“. Dahinter erkennt man eine mit Gras und Sträuchern
       überwucherte Ruine.
       
       Das Gelände ist menschenleer. Ein paar Ziegen laufen neugierig herum.
       Hinter dem Antriebsrad einer alten Wassermühle verläuft ein kleiner Fluss.
       Vor knapp 200 Jahren wurde hier Zuckerrohr zerkleinert, es war eine
       Rumbrennerei. Auf einer Anzeigetafel neben der Straße steht: La Sagesse –
       eine Zuckerplantage. Auf nahezu 300 Hektar schufteten hier vor
       Jahrhunderten Afrikaner:innen in der tropischen Hitze, von
       Europäer:innen hierher verschleppt und versklavt. Insgesamt gab es
       einst auf der Karibikinsel Grenada 300 bis 370 solcher Plantagen. Ein paar
       vernachlässigte Ruinen sind die einzig sichtbaren Überreste. Der Großteil
       wurde seit Abschaffung der Sklaverei überbaut.
       
       Zuckeranbau fand vor allem in den flacheren Teilen der Plantage statt, wo
       sich jetzt ein Sportfeld erstreckt. Auf drei Seiten umranden Hügel das
       Gelände, manche wild bewachsen, hier und da stehen Wohnhäuser mit
       Terrassen. Neben dem Sportfeld zieht sich ein Feldweg zwischen Sträuchern
       und kleinen Äckern südlich bis zum karibischen Meeresstrand hinunter. Zu
       Tausenden flüchten Krabben beim Vorbeigehen in ihre Höhlen. Auch dieser
       Teil gehörte einst zur Plantage, ein Sumpfgebiet. In den 1960er Jahren
       baute sich hier ein britischer Aristokrat ein schickes Haus, heute ist es
       ein kleines exklusives Hotel in Pink. Der Tourismus soll die Gegend in
       Zukunft voranbringen.
       
       Grenada erlaubt Investoren entlang der gesamten Bucht den Bau
       ausschweifender Hotelkomplexe. Durch eine Mindestbeteiligung kann man sogar
       die Staatsbürgerschaft kaufen. Angeblich sind die Anteile für La Sagesse
       schon ausverkauft. Naturschützer:innen protestieren, aber große Teile
       des Mangrovenwaldes wurden schon gerodet.
       
       Ausländische Investor:innen bereichern – das ist seit Jahrhunderten das
       Schicksal dieser Inseln in der Karibik. Im Jahr 1498 sichtete [1][Christoph
       Kolumbus] als erster Europäer die Insel, die er zuerst „La Concepción“
       nannte und später Granada. Die Bewohner:innen hatten einen anderen
       Namen für ihre Heimat: Camerhogne. Sie wehrten sich mit Vehemenz. 1649
       gründeten Eroberer aus Frankreich, auf die auch das „e“ in Grenada
       zurückzuführen ist, die heutige Hauptstadt St. George’s.
       
       Fünf Jahre später stürzten sich die letzten Indigenen, so heißt es, über
       die Klippen in den Tod. Die Insel diente nun Plantagenbesitzern zum Anbau
       von Zucker. Hierzu holten die Europäer:innen Menschen aus Afrika. Ihnen
       wurde der Status Mensch abgesprochen, sie wurden wie Tiere behandelt und
       mussten unentgeltlich arbeiteten. 1763 wurde Grenada britisch, woraufhin
       die lukrativen Zuckerplantagen weiter ausgebaut wurden.
       
       Die Plantage La Sagesse gehörte den Simonds, einer Geschäftsfamilie in
       England. 1757 ging der Besitz der Simonds durch die Ehe von Louisa Simond
       mit John Trevelyan an die altenglische aristokratische Trevelyan-Familie
       über. Die Briten verboten 1807 den Sklavenhandel, aber die Sklavenhaltung
       auf den Plantagen ging vorerst weiter – bis zur Abschaffung im Jahr 1834.
       Den Eigentümern zahlte der britische Staat damals 20 Millionen Pfund (heute
       umgerechnet 18 Milliarden Euro) Entschädigung für den Verlust ihrer
       Sklaven. Die Trevelyans erhielten für ihre 1.004 Versklavten in Grenada
       34.000 Pfund, auf heute umgerechnet 3,5 Millionen Euro. Die Opfer der
       Sklaverei gingen leer aus. Die Plantage La Sagesse ging später durch viele
       Hände und wurde aufgeteilt. Nichts verweist dort heute auf die düstere
       Geschichte.
       
       ## A Very British Family
       
       In Wallington im Norden Englands, 50 Kilometer von der schottischen Grenze,
       dem ehemaligen Landsitz der Trevelyan-Familie, lässt sich auf den ersten
       Blick ebenfalls nichts erkennen. Mit seinen Gärten, künstlich angelegten
       Seen und ehemaligen Jagdhainen ist Wallington heute ein Touristenort. Man
       zahlt Eintritt.
       
       Im Hauptgebäude prangen hinter Vitrinen wertvolle Teeservice mit
       Blumenmustern aus dem deutschen Meißen und aus China. In den Tassen wurde
       einst der feine Tee mit dem Zucker aus der Karibik serviert. Imposante
       Porträts ehemaliger Bewohner:innen blicken darauf herab. Eine
       „Kuriositätenkammer“ im zweiten Stock enthält eine verzierte Kalebasse aus
       Guyana. Irgendwo soll auch eine Münze der Antisklavereibewegung liegen, mit
       einem um Erbarmen bittenden Afrikaner und den Worten: „Bin ich nicht ein
       Mensch?“
       
       Die ehemalige US-Korrespondentin der BBC, Laura Trevelyan, begann sich vor
       zwanzig Jahren mit ihrer Familiengeschichte zu befassen. In ihrem 2006
       erschienenen Buch „A Very British Family“ schrieb sie auf, wie ihre
       Vorfahren im 19. Jahrhundert auf der richtigen Seite der Geschichte
       gestanden hätten, der Seite der Abschaffung der Sklaverei. Erst im Jahr
       2013 entdeckte Laura Trevelyan, wie sehr ihre angeblich glorreiche Familie
       selbst in eines der größten Menschheitsverbrechen der letzten 500 Jahre
       verstrickt war.
       
       ## Eine unglaubliche Scheinheiligkeit
       
       „Ich glaube, mein Cousin Humphrey Trevelyan kam mir zuvor“, erzählt John
       Dower in der offenen Küche seines Hauses im Londoner Stadtteil Brixton, im
       Herzen des Schwarzen Englands. In der Nähe wohnt Reggaepoet Linton Kwesi
       Johnson, 1981 tobten hier die Aufstände der Schwarzen Jugend gegen die
       Londoner Polizei, an einem Fenster des Hauses steht groß in Gelb und Rot
       „Black Lives Matter“. Der 61-jährige Dower erzählt: „Es war ein
       Zeitungsbericht des britischen Historikers David Olusoga, der Leute dazu
       ermutigte, ihren Namen in eine Datenbank einzugeben. Ich gab meinen Namen
       und den meiner Mutter ein, und dann Trevelyan, und ich erfuhr, dass meiner
       Familie 1.004 Sklaven gehört hatten.“
       
       Dower war am Boden zerstört, nicht zuletzt, weil seine Frau einen teils
       kamerunischen Familienhintergrund hat. Außerdem passte es nicht in sein
       Selbstverständnis als Jugendlicher: Punk und Reggae, Solidarität mit den
       Bergarbeitern gegen Margaret Thatcher, Rock against Racism. Sein Vater
       Michael war ein radikaler Naturschützer, sein Großvater mütterlicherseits,
       Sir Charles Philips Trevelyan, war von 1929 bis 1931 Bildungsminister der
       ersten britischen Labour-Regierung und überschrieb 1942, mitten im Zweiten
       Weltkrieg, als guter Sozialist das Landgut Wallington dem britische Volk.
       Seitdem wird es vom National Trust verwaltet, der öffentlichen Stiftung für
       Denkmalpflege.
       
       „Die Scheinheiligkeit ist unglaublich“, fasst John Dower seine Entdeckung
       der Sklaverei in seiner Familie zusammen. Nicht einmal dem Historiker und
       Vorfahren G. M. Trevelyan (1876–1962), seine Geschichtsbücher waren lange
       Zeit in Großbritannien Pflichtlektüre, war dies bekannt. Dower weiter: „Ich
       hielt mich bisher für eine Person, die Rassismus bekämpft hat. Aber im
       Grund hat er mich ziemlich privilegiert. Ich glaube heute, dass vielleicht
       andere – Jüngere, Frauen, People of Colour – die Geschichte besser erzählen
       können als ich.“
       
       Laura Trevelyan beschloss schließlich, die Entdeckungen als Journalistin
       anzugehen und einen Dokumentarfilm zu drehen. Sie kontaktierte dafür in
       Grenada die Historikerin Nicole Phillip-Dowe, stellvertretende Vorsitzende
       des Reparationskomitees von Grenada und Vizedirektorin des Grenada-Ablegers
       der University of the West Indies.
       
       Phillip-Dowe sitzt in Grenada in ihrem geräumigen Büro im
       Universitätsgebäude, einer pastellgrünen Villa. „Nachdem im März 2022 das
       Reparationskomitee gegründet wurde, versuchte ich etwas Großes auf die
       Beine zu stellen“, erinnert sie sich. „Genau dann erhielt ich eine E-Mail
       von Laura Trevelyan. Meine Antwort an sie war: Ich lese Ihre E-Mail mit
       einem breitem Grinsen.“
       
       Die Diskussionen zwischen ihr und Laura Trevelyan beschreibt sie als
       emotional. „Wir zeigten ihr, als sie hier war, Folterinstrumente. Am
       letzten Tag flossen Tränen. Das stellte für mich den ersten Schritt ihres
       Verstehensprozesses dar. Und es war genau der Punkt, an dem sie erwähnte,
       dass sie über Wiedergutmachung nachdenkt.“ Noch während der Aufnahmen für
       ihren Film fragte Laura Trevelyan eine grenadische Schulklasse, ob sie
       Reparationen ihrer Familie an Menschen in Grenada für richtig hielten. Die
       Antwort lautete: Ja!
       
       Reparationen für Sklaverei? International war das lange Zeit undenkbar,
       auch in Großbritannien. Im Jahr 2007 entschuldigte sich
       Labour-Premierminister [2][Tony Blair] für die Sklaverei allgemein –
       folgenlos. 2011 bezeichnete der konservative Premierminister David Cameron
       auf Jamaika die Sklaverei als „schrecklich“ und betonte, Großbritannien sei
       stolz, Wegbereiter der Abschaffung gewesen zu sein. Als 2015 bekannt wurde,
       dass auch seine Familie einst Versklavte gehalten und dafür bei der
       Abschaffung der Sklaverei Entschädigung erhalten hatte, erklärte er, es sei
       Zeit, die Geschichte hinter sich zu lassen. 2021 sprach der heutige
       [3][König Charles] von der „fürchterlichen Gräueltat der Sklaverei“.
       Vorsichtig gewählte Worte, ohne Verbindlichkeit.
       
       Im April ersuchte die schwarze Labour-Abgeordnete Bell Ribeiro-Addy im
       Parlament Premierminister Rishi Sunak, den ersten britischen Premier mit
       einem unmittelbar kolonial geprägten Familienhintergrund, sich für die
       Sklaverei zu entschuldigen. „Nein, die britische Geschichte neu
       aufzumachen, ist nicht der richtige Weg“, lautete seine Antwort.
       
       Für Ribeiro-Addy ist die Frage der Reparationen aber wichtig, sagt sie der
       taz. Man müsse anerkennen, dass die Sklaverei zu Ende ging, weil Aufstände
       sie unprofitabel machten, nicht weil weiße Moralprediger die Barbarei
       verurteilten. „Wenn weiterhin vom guten Willen des Westens gesprochen wird,
       wird es auch künftig so aussehen, als sollten wir dankbar sein, dass etwa
       die Briten die Sklaverei beendeten. Es waren wirtschaftliche Argumente, die
       das beendeten, und die Sklavenhalter wurden dafür auch noch entschädigt
       bezahlt.“
       
       Viele altehrwürdige britische Institutionen haben sich inzwischen für ihre
       Mitwirkung an der Sklaverei entschuldigt: die anglikanische Kirche, die
       Universität Oxford, die Zentralbank, die Stadt Edinburgh, die Zeitung
       Guardian. König Charles veranlasste eine Untersuchung zur Verbindung der
       Königsfamilie mit der Sklaverei. Auf die Ergebnisse darf man gespannt sein.
       
       ## Immerhin Tropfen auf dem heißen Stein
       
       In diesem Klima also beschlossen die Trevelyans, sich im Namen ihrer
       Familie zu entschuldigen. An einem Familientreffen über Zoom beteiligte
       sich auch der aus Barbados stammende Historiker Sir Hilary Beckles,
       Vorsitzender der Reparationskommission der Vereinigung karibischer Staaten
       (Caricom) und Vizerektor der University of the West Indies. Beckles’ 2013
       erschienenes Buch „Britain’s Black Debt“ fordert Reparationen für die
       Versklavung, den Kolonialismus und die Langzeitschäden.
       
       Der Karibikstaatenbund Caricom hat 2014 diese Forderungen in einem
       Zehnpunktekatalog konkretisiert: Entschuldigung, Repatriierungsmöglichkeit,
       Entwicklungsprogramme für karibisch-indigene Menschengruppen, Investitionen
       in kulturelle Einrichtungen und Gesundheit, Bekämpfung des Analphabetismus,
       Bildungsförderung zu afrikanischer Geschichte, psychologische
       Hilfsprogramme, Technologietransfer und letztlich die Tilgung von Schulden.
       
       Schließlich einigte sich die Trevelyan-Familie auf den Text einer
       Entschuldigung. Auf Intervention von Beckles wurde die Anerkennung der
       Sklaverei als Menschheitsverbrechen eingefügt. Am 27. Februar 2023
       unterschrieben die Entschuldigung vor laufender Kamera 104
       Familienmitglieder, von denen mehrere eigens nach Grenada gereist waren,
       auf einer Feier im Beisein von Grenadas Premierminister und anderen
       Persönlichkeiten. Zusätzlich hatte Laura Trevelyan eine Überraschung parat:
       100.000 Pfund (umgerechnet 117.000 Euro) aus ihrem eigenen Geld als
       Reparation.
       
       Als die taz Laura Trevelyan darauf anspricht, redet sie es klein. „Ich
       hatte eine gute Karriere mit allem, was man sich wünschen könnte.“ Das Geld
       werde von der University of the West Indies gemanagt und soll nun ein
       Auslandsstipendium pro Jahr finanzieren. Nicole Phillip-Dowe hält das für
       wichtig, „weil mit jeder Unterstützung auch jeweils die Familien der
       Studierenden aufsteigen“. Andere Familienmitglieder wollen weitere
       Programme in Grenada unterstützen. Im Verhältnis zum vergangenen Unrecht
       sind es Tropfen auf dem heißen Stein, aber immerhin.
       
       Kurz vor der feierlichen Unterzeichnung ließ Arley Gill, Vorsitzender des
       grenadischen Reparationskomitees, den Schulleiter Nigel de Gale ein Gedicht
       vortragen. De Gale leitet in St. George’s die anglikanische Grundschule.
       Sein Gedicht fordert mehr als eine Entschuldigung, nämlich eine
       Veränderung. Er wolle die nächsten 400 Jahre Weiße versklaven, heißt es in
       dem Gedicht.
       
       „Das Gedicht war nicht gegen die Trevelyans gerichtet“, versichert de Gale
       im Gespräch mit der taz in seinem Büro neben dem Schuleingang. Kinder
       laufen lärmend vorbei, man hört eine Schulklasse Sätze rhythmisch
       nachsprechen. De Gale zeigt auf die Porträts vergangener Schulleiter an der
       Wand: Er selbst am Ende, am Anfang lauter weiße Männer.
       
       „Ich will kein Geld!“, stellt er klar. „Wir müssen wissen, dass wir auch
       Rechte haben, dass wir gleichberechtigt mit anderen zusammensitzen können,
       um gemeinsam Probleme zu lösen.“ De Gale erwähnt Schwarze Vorbilder: Marcus
       Garvey, Malcolm X, Mohammed Ali. Die Kinder in seiner Schule müssten die
       Zuversicht entwickeln, dass die Zukunft ihnen gehört und schon immer hätte
       gehören sollen. „Wir hatten unsere eigene Geschichte und eigenen
       Erfindungen. Und nun sind wir an der Reihe.“
       
       „Ich will kein Geld“ – was hält Arley Gill davon, der Vorsitzende des
       Reparationskomitees? „Es geht nicht um Geldüberweisungen“, stellt er in
       seinem Büro über dem Hafen von St. George’s klar. „Es geht um einen
       Entwicklungsplan, nicht Entwicklungshilfe.“ Weder während der Sklaverei
       noch während der kolonialen Nachfolgeverwaltung sei ausreichend in die
       Insel investiert worden. „Reparationen sind eine Verpflichtung“ –
       Entwicklungshilfe sei nur ein freiwilliger Akt. Was die Trevelyans taten,
       sei ein Wendepunkt. Man erkenne es daran, dass andere Familien und
       Institutionen nun nachziehen.
       
       ## Den Schmerz der Vergangenheit abwenden
       
       Die anglikanische Kirche von Grenada hat für ein Gespräch keine Zeit. Der
       katholische Bischof Clyde Martin Harvey, 74 und geboren auf Trinidad,
       empfängt die taz neben seiner Kathedrale. Gut 40 Prozent der Menschen in
       Grenada sind katholisch. Als Schwarzer in der Karibik könne er nicht
       vergessen, dass seine Vorfahren versklavte Menschen waren, beginnt Harvey.
       „Es ist nicht leicht, sich vom Schmerz der Vergangenheit abzuwenden.“ Er
       spricht von seinem Stolz auf das heutige Grenada. „Wir sind wunderschön!“,
       ruft er.
       
       Er kommt auf Laura Trevelyans Initiative zu sprechen, ohne sie beim Namen
       zu nennen. „Ist dies ein Stipendium für ein paar Leute? Oder der Anstoß
       einer ganzen Bewegung?“ Reparationen seien nicht nur eine Frage der
       Sklaverei und der Kolonialzeit, sondern müssten sich auf die Weiterführung
       des Imperialismus beziehen. „Als katholischer Priester und Bischof sollte
       ich dem allen fernbleiben, denn ich trage die Kleider des imperialen Roms.
       Aber es macht mich hoffnungsvoll, dass einige innerhalb unserer Kirche
       darüber nachdenken und sprechen.“ Was die Trevelyans betreffe: Sie hätten
       es gut gemeint, aber er hätte auf das ganze Drumherum verzichten können.
       „Das Ego ist ein fundamentaler Feind jedes Versuches wahrhafter Befreiung.
       Wer mit Gesten kommt, sollte nicht erwarten, dass man ihm die Füße küsst.“
       
       Weder Katholiken noch Anglikaner spielten eine offizielle Rolle bei der
       Entschuldigungszeremonie der Trevelyans. Aber die Twelve Tribes of Israel,
       Grenadier:innen, die dem Rastafariglauben anhängen, durften ein paar
       Gebete sprechen. In St. Paul’s auf einem Hügel nicht weit von der Stadt hat
       sich eine Gruppe Rastafari im Hauptquartier der „Zwölf Stämme“ versammelt.
       Ihr Gelände hat einen gepflegten Rasen, eine Freilichtbühne, eine Halle mit
       Bar und Küche und vielen Bildern, darunter ein von dem äthiopischen Kaiser
       Haile Selassie, den die Rastas verehren.
       
       Der 67-jährige Leiter Rochel Charles trägt eine Khakiuniform mit
       rot-gelb-grünen Insignien, dazu eine rot-gelb-grüne Mütze. Nach
       Segenssprüchen eröffnet Charles den Abend mit einem langen Vortrag über die
       Geschichte der Versklavten. „Sie sind nicht tot, sondern leben in mir und
       anderen weiter“, sagt er. Der Einsatz für Reparationen sei in diesem
       Zusammenhang zu verstehen. Das sei, was die Vorfahren wollten. „Wir fordern
       als Rückzahlung Wohnung und genug Geld, um unser Leben zu erhalten. Wir
       wollen zurück gehen und Afrika aufbauen, wie es in der Bibel steht“, sagt
       Charles. Er bezeichnet Laura Trevelyan als tapfere Frau: „Wir sehen sie als
       Funke eines Feuers, das sich durch Europa brennen wird.“
       
       ## Europäer haben kein Recht auf die Ländereien
       
       Was bedeutet das alles auf La Sagesse? Auf der ehemaligen Plantage stößt
       die taz auf den 82-jährigen Winston Mitchell. Er baut ein Gewächshaus auf.
       In Gummistiefeln und mit riesigem Strohhut rügt er gerade einen
       Angestellten. Mitchell verließ Grenada 1961 mit einem Stipendium, er wurde
       Arzt in den USA. 1986 kehrte er zurück. Er investierte sein Geld in den
       Kauf großer Teile des Geländes von La Sagesse bis hin zum Strand.
       „Landwirtschaft liegt mir im Blut“, sagt er. Der Wiederaufbau mit einer
       Fruchtsaftfabrik lief bestens, bis Hurrikan „Ivan“ 2004 fast alles
       zerstörte. Frustriert verkaufte er viel Land. Für sich selbst hat er vier
       Gewächshäuser behalten.
       
       „Die teuflische Sklaverei ist lange her“, sagt er. „Gespräche darüber
       werden Grenada nicht helfen. Auch eine Entschuldigung kann die Tatsachen
       nicht ändern!“ Mitchell hat eine andere Antwort: Harte Arbeit, gute
       Ausbildung. „Wenn dir etwas Ungerechtes zugestoßen ist, stehe auf und
       arbeite dich hoch!“, empfiehlt er. Eine offene Rechnung habe er trotzdem:
       Manche Familien aus Europa besäßen bis heute Land in der Karibik und
       wollten es nicht hergeben. „Sie haben keinerlei Recht auf diese Ländereien,
       weil sie meine Leute unterdrückten und es immer noch tun“, schimpft
       Mitchell. Er erzählt, dass er einmal beim Graben auf Skelette gestoßen ist:
       Dort, wo früher die Behausungen der Versklavten gestanden hatten.
       
       Mitchells ist auch die chinesische Plantage in La Sagesse ein Dorn im Auge.
       „Ich glaube nicht, dass die Chinesen umsonst helfen“, findet er. „Es mag
       fantastisch aussehen, aber die meisten Arbeiter und Materialien kommen aus
       China.“ Aber Mitchell hat das Land selbst verkauft, so auch die Bucht um La
       Sagesse an die Hotelinvestoren von Range Development. Naturschützer Andre
       Joseph-Witzig von der Gruppe Grenada Land Actors übt scharfe Kritik: „Wir
       sind, so heißt es, seit 1974 unabhängig. Aber was auf dem Gut geplant ist,
       erlaubt eine neue Form von Sklaverei und Kolonialisierung am selben Ort.“
       
       In den neuen Investitionsprojekten blieben Einheimischen höchstens Jobs als
       Dienstpersonal, fürchtet er. Bereits jetzt gebe es Streit um den Zugang zum
       Strand. Grenada Land Actors hat eine richterliche Prüfung verlangt, weil
       die Regierung die eigenen Gesetze und Regeln zum Umweltschutz nicht
       einhalte. Die Investoren feiern auf ihren Webseiten Ausbildungsprogramme,
       Investitionen in die Lebensmittelversorgung, Neupflanzungen,
       verantwortungsvollen Umgang mit Natur und Mensch. Wer recht hat, wird sich
       im Januar 2024 vor Gericht zeigen. Es sei alles scheinheilig, glaubt
       Joseph-Witzig. „Während die Regierung dies zulässt, fordert sie zur selben
       Zeit Klimareparationen.“ In La Sagesse seien nicht nur die Spuren der
       Sklaverei zu schützen, sondern auch Spuren der vorherigen indigenen
       Bevölkerung. Doch wenn es so weitergehe, bleibe nichts von der
       Vergangenheit.
       
       31 Aug 2023
       
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       In den Niederlanden ist die Sklaverei-Entschuldigung des Königs ein
       Meilenstein. Zugleich wirft sie Fragen auf, was den großen Worten nun
       folgen soll.
       
 (DIR) Koloniale Vergangenheit des Empire: Gegen den Wind
       
       Vor 75 Jahren kamen die ersten karibischen Migranten auf dem Schiff
       „Windrush“ nach England. Der Kampf um Aufarbeitung ist bis heute ein
       widerständiger.
       
 (DIR) Nach Rassismus-Vergleich: Labour schasst schwarze Abgeordnete
       
       Die britische Labourpartei hat die bekannte Parlamentsabgeordnete Abbott
       nach einem Rassismus-Vergleich bis auf Weiteres aus der Fraktion
       suspendiert.