# taz.de -- Merz-Gillamoos-Debatte: Kreuzberg tut auch Bayern gut
       
       > Kreuzberg ist nicht Deutschland? Friedrich Merz weiß offenbar nicht,
       > wovon er spricht. Es gibt vieles, was Deutschland von Kreuzberg gelernt
       > hat.
       
 (IMG) Bild: Ein Bayer steht Schlange für eine Kreuzberger Currywurst von „Curry36“ (hier auf der Grünen Woche)
       
       „Nicht Kreuzberg ist Deutschland, Gillamoos ist Deutschland.“ Ein Satz als
       Selbstvergewisserung und Feindbestimmung, von engstirniger und
       ausgrenzender Piefigkeit, ausgesprochen von CDU-Chef Friedrich Merz,
       [1][macht seit Montag die ganz große Runde]. 
       
       Es ist ein Satz, gedacht für jene, die Angst haben vor Berlin. Vor dem
       prallen Leben, mit all seinen Widersprüchen und seiner Veränderung.
       Solcherlei Ängste artikulieren sich oft in der Verächtlichmachung. Berlin
       wird zur Negativfolie für das eigene dröge Leben: die Pleitestadt der
       Faulenzer und Drückeberger, in der nichts funktioniert. So fantasielos oder
       falsch die Klischees auch sind: Berlin-Bashing ist Volkssport. 
       
       Wenn sich dieser Blick auf die Stadt dann noch mit rassistischen
       Ressentiments vor zu vielen Ausländern vermischt und mit einem
       Abgrenzungsbedürfnis gegen alles Linke und Grüne einhergeht, schrumpft
       Berlin auf die Hälfte seines kleinsten Bezirks zusammen: Kreuzberg. Ein
       Ortsteil als Chiffre für alles, was man ablehnt: die Diversität der
       Herkünfte und Lebensformen, die hier zu findende Bereitschaft, Auto und
       Wurst als Kulturgüter zu hinterfragen, der unangepasste Widerstandsgeist.
       Dann doch lieber der enge Horizont vom Gillamoos. 
       
       [2][Das bayerische Volksfest ist ganz sicher Deutschland]: Hier saufen und
       grölen die Massen schon am Montagvormittag (muss denn in Bayern niemand
       arbeiten?), es kommt zu sexuellen Übergriffen, Schlägereien und
       Hitlergrüßen. Hier lässt sich der Hubsi feiern, weil er den Vorwurf des
       Antisemitismus zum Anlass nimmt für einen Gegenschlag. Das alles ist
       Deutschland. Kein Ort für Linke/Grüne, die man sich früher noch nach
       „drüben“ wünschte – und heute wohl nach Kreuzberg –, und keiner für
       Ausländer, die man sich schon immer ins Ausland wünschte. 
       
       Was aber soll Kreuzberg sein, wenn nicht auch Deutschland? Friedrich Merz
       und seinesgleichen haben darauf keine Antwort, denn ihnen geht es nur um
       die Überhöhung ihrer selbst. Dabei kann ein neugieriger Blick helfen:
       Kreuzberg ist ein Ort, von dem der Rest in Deutschland lernen kann, wie’s
       besser läuft. 
       
       ## Solidarisch statt egoistisch
       
       Vom katholischen Bayern aus schaut man wieder einmal auf das „gottlose“
       Berlin, diesen babylonischen Sündenpfuhl ohne jede Moral. Nur: Den wahren
       christlichen Glauben haben nicht Söder oder Merz gepachtet. Stattdessen
       kann man auch hier von Kreuzberg lernen. Vor genau 40 Jahren wurde hier
       eine besondere Form der praktischen Nächstenliebe erfunden: das
       Kirchenasyl. Die Heilig-Kreuz-Kirche an der Zossener Straße gab einer von
       Abschiebung bedrohten Gruppe palästinensischer Geflüchteter aus dem Libanon
       und Jordanien das erste Asyl in ihren Räumen – eine bundesweite,
       erfolgreiche Bewegung folgte, die es bis heute gibt.
       
       Auch andere Formen der Solidarität strahlen von Kreuzberg aus in den Rest
       der Republik. Tausend Menschen, von der Oma im Nachbarhaus bis zum
       Autonomen, versuchten 2013 die [3][Zwangsräumung des Malermeisters Ali
       Gülbol] und seiner Familie aus der Lausitzer Straße zu verhindern. Die
       Familie hatte sich – erfolglos – gegen eine Mieterhöhung gewehrt, nachdem
       der neue Hausbesitzer sich über zuvor getroffene Vereinbarungen
       hinweggesetzt hatte. Für die Nachbarschaft kein Individualproblem, sondern
       Anlass, als Gemeinschaft zusammenzustehen. Ausdruck dieser Haltung ist das
       Kreuzberger Bündnis Zwangsräumungen verhindern. Für andere einstehen – das
       ist das, was Kreuzberg zusammenhält. Und mehr Zusammenhalt hätte auch
       Deutschland nötig.
       
       ## Bunt statt grau
       
       Wenn der Gillamoos-Besucher über Integration redet, denkt er wahrscheinlich
       an Folgendes: Migrant:innen sind dann besonders gut integriert, wenn sie
       perfekt Deutsch sprechen, im lokalen Fußballverein spielen und eine Maß
       Bier in unter 10 Sekunden exen können. Alles andere ist gefährliche
       Parallelgesellschaft.
       
       Den schablonenhaften Integrationsdebatten, die alle Jahre wieder in
       deutschen Talkshows geführt werden, war Kreuzberg schon immer weit voraus.
       Wenn Kids aus Familien, bei denen zu Hause Arabisch, Türkisch, Deutsch und
       Serbisch gesprochen wird, sich untereinander selbstverständlich in bestem
       Kreuzberger Kiezdeutsch unterhalten, wenn sie zusammen um die Häuser
       ziehen, ist das kein Beispiel gescheiterter Integration, sondern
       postmigrantische Realität. Die Frage nach Identität ist in Kreuzberg für
       viele keine einfache – aber eben auch keine bedrohliche.
       
       Ihre rechtmäßige Teilhabe mussten sich viele migrantische Communities hart
       erarbeiten und erkämpfen – wie die Aktivist:innen der Antifa Gençlik,
       die sich Anfang der 90er militant gegen rassistische Gewalt gewehrt haben
       und die Nazis aus ihren Kiezen vertreiben konnten.
       
       Nazifreie Kieze: Davon profitieren alle, die irgendwie anders sind. Auch
       all die zugewanderten (vor den engen Verhältnissen geflohenen) queeren
       Menschen aus der bayrischen Provinz. Kein Wunder, dass sich die queere
       Szene in Kreuzberg (klar, aber auch in Schöneberg und anderswo im ach so
       großen Berlin) angesiedelt hat. Lange vor dem Berghain waren die
       „Kreuzberger Nächte lang“ (es gibt da seit 1978 diesen unsäglichen
       Gassenhauer). Die queere Infrastruktur war und ist groß, innovativ,
       vielfältig und bunt.
       
       Nur mal ein Beispiel: Im Club SO36 in der Oranienstraße gibt es seit 1997
       Gayhane, eine queere Partyreihe, die sich an Menschen mit muslimischen
       Wurzeln und ihre Freunde richtet – das war seinerzeit weltweit einzigartig.
       Da müsste Friedrich Merz mal hingehen (man ist hier eh heterofreundlich).
       Auf dem queeren Oriental Dancefloor wird türkischer, arabischer und auch
       griechischer oder hebräischer Pop gespielt. Das ist, auch wenn’s pathetisch
       klingt, gelebte Vielfalt. Eben bunt statt blau oder grau. Ganz Kreuzberg
       ist ein Safe Place. Kreuzberg ist Deutschland.
       
       Das ließe sich vor Ort am besten erleben.
       
       ## Bottom-up statt Top-down
       
       Bröckelnde Fassaden, eingestürzte Dächer, Schwamm in den Balken. Als die
       Mauer fiel, waren die meisten Innenstädte in Ostdeutschland in einem
       erbärmlichen Zustand. Vielerorts wie in der Görlitzer Nikolaivorstadt oder
       im Holländischen Viertel in Potsdam kam mit der politischen Wende auch eine
       städtebauliche. Kein Abriss, sondern Erhalt und Sanierung hatten zuvor
       schon Bürgerinitiativen wie Argus in Potsdam gefordert. Aber wie geht das?
       
       Viele Delegationen sind damals nach Berlin gefahren, um sich umzusehen,
       welche Erfahrungen es mit der behutsamen Stadterneuerung in Kreuzberg
       gegeben hatte. Auch dort stand in den 1970er Jahren die Forderung im Raum:
       Sanierung statt Abriss. Im Gesundbrunnen im Wedding hat der Senat
       vorgemacht, was er unter Sanierung versteht – Kahlschlag. Auch am
       Kottbusser Tor, heute für viele Provinzpolitiker wie Markus Söder oder
       Friedrich Merz der Inbegriff alles Bösen aus Kreuzberg, war bereits mit dem
       Abriss begonnen worden. Doch es gab Widerstand. Der Abriss wurde gestoppt.
       Bald schon wurde mit der Sanierung der maroden Häuser begonnen.
       
       Die Revolution in der deutschen Stadtentwicklungspolitik hat in Kreuzberg
       ihren Anfang genommen. Die Innenstädte waren nicht mehr nur autogerechte
       Geschäftsbezirke, sondern attraktive Wohnorte. Dass das möglich ist, hatte
       die Internationale Bauausstellung 1987 mit vielen Beispielen gezeigt. Die
       ganze Bundesrepublik richtete damals ihre Augen auf Kreuzberg.
       
       Die IBA hat aber auch gezeigt, dass behutsames Sanieren nicht ohne die
       Beteiligung der Menschen geht. Kein arrogantes Top-down war nun angesagt,
       sondern Bürgerbeteiligung. Auch die wurde in Kreuzberg erfunden. Kreuzberg
       ist nicht Deutschland? Wenn das wahr wäre, würden viele Gründerzeitviertel
       in Hamburg, München, Görlitz oder Köln heute gesprengt sein.
       
       ## Maul auf statt Mund halten
       
       Als Westberlin als Europas Kulturhauptstadt 1988 die Ausstellung „Mythos
       Berlin“ am Anhalter Bahnhof in Kreuzberg eröffnete, war auch die autonome
       Szene mit von der Partie. Mehrere hundert Menschen erzwangen sich den
       Zutritt zum Ausstellungsgelände und plünderten kurzerhand das Buffet. Es
       war ihre Antwort auf die Abriegelung Kreuzbergs zur 750-Jahr-Feier im Jahr
       davor. An diesem Tag im Juni 1987 war Kreuzberg tatsächlich nicht
       Deutschland gewesen, es war nicht einmal mehr Teil von Westberlin.
       
       Von „Anti-Berlinern“ hatte Berlins Regierender Bürgermeister Eberhard
       Diepgen (CDU) damals gesprochen, übrigens nicht in einem Bierzelt. Gemeint
       war der Riot vom 1. Mai 1987, der der Abriegelung vorangegangen war. Dem
       Kreuzberger Wunsch, sich selbst als irgendwie außen vor zu definieren,
       passte das politisch verordnete Othering durch den obersten Westberliner.
       Demgegenüber ist der Merz-Spruch geradezu weichgespült.
       
       Vielleicht könnte eine Ausstellung mit dem Titel Mythos Kreuzberg heute
       einmal Auskunft geben über die magische Anziehungskraft dieses rebellischen
       Quartiers für Westberlin während der deutschen Teilung. Während
       Zehntausende dem Geld hinterherzogen und nach Westdeutschland abwanderten,
       zog es die Unangepassten in die entgegengesetzte Richtung. Kreuzberg war
       Versprechen und Verheißung zugleich, es übte aber auch, auch das gehört zur
       Wahrheit, einen Sog aus, der manch einen orientierungslos zurückließ oder
       gar untergehen ließ.
       
       Rückblickend würde man heute vielleicht sagen: Der Mythos Kreuzberg war der
       Beginn des Berliner Stadtmarketings. Anders als der Mythos Prenzlauer Berg,
       der bald das deutsche (und britische und spanische) Bionade-Biedermeier
       anzog, lebt der Mythos des gallischen Dorfes zwischen Mehringhof und
       Schlesischem Tor allerdings bis heute fort und kippte auch, trotz Kotti und
       Görli, nie in eine nur negative Richtung wie etwa in Neukölln.
       
       Diepgens Nachfolger im Roten Rathaus hat das begriffen. „Ein bisschen
       Kreuzberg für alle wäre auch gut“, ließ sich Kai Wegner am Dienstag
       zitieren. Der Spandauer hat also schon etwas gelernt von Kreuzberg.
       
       5 Sep 2023
       
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