# taz.de -- Merz über Gillamoos und Kreuzberg: Deutschland ist alles
       
       > Friedrich Merz’ Versuch, sich im Bierzelt anzubiedern, wird scheitern.
       > Hart trinkende Menschen wehren sich dagegen, unsere Biernation zu
       > spalten.
       
 (IMG) Bild: Junge Leute an der Flasche: Deutschland kann so einfach sein, hier im Kreuzberger Görlitzer Park
       
       „Nicht Kreuzberg ist Deutschland, Gillamoos ist Deutschland“, verkündete
       der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz [1][auf dem Gillamoos, einem 700 Jahre
       alten Volksfest im niederbayerischen Abensberg.] Am letzten Festtag finden
       hier, ähnlich dem politischen Aschermittwoch, an verschiedenen Orten
       Kundgebungen der Parteien statt: So wird im „Weißbierstadl“ Hubsi Aiwanger
       frenetisch bejubelt wie ein Volkstribun, doch [2][um den ewigen Lausbub]
       soll es an dieser Stelle ausnahmsweise nur am Rande gehen.
       
       Befassen wir uns stattdessen lieber mit der Aussage des Merz: Warum soll
       Gillamoos Deutschland sein und Kreuzberg nicht? Und wer, wo und was ist
       überhaupt Deutschland?
       
       Womöglich liegt eine Antwort in der Form der Freizeitgestaltung. Während im
       U-Bahnhof Hallesches Tor Menschen diverser Herkunft Folie rauchen, herrscht
       im Festzelt zu Gilgamesch, äh, Gillamoos die Monokultur des weißen
       Trachtenjanker- und Dirndlmenschen. Schon am Vormittag ruhen neben vollen
       Maßkrügen vernebelte Vierkantschädel auf dem harten Holz der Biertische,
       die blutunterlaufenen Augen höchstens noch hie und da wie im Todeskampf
       zuckend unter dem Gebrüll der Weißbierparteitagsreden.
       
       Offenbar ist für Friedrich Merz und Konsorten dieser Anblick der schönere,
       dieser Ort der bessere, dieser Kontext der erwünschtere, dieses Land das
       reinere und dessen Drogenkonsum der traditionellere. Denn auch gegen die
       Cannabisfreigabe wird im Hofbräuzelt gewettert, während davor prachtvolle
       Autochthone in den Graben reihern.
       
       ## So viele Gemeinsamkeiten
       
       Doch Kreuzberg muss deshalb nicht beleidigt sein. Denn laut der wie üblich
       notwendig gewordenen Interpretation von Merz’ Worten, [3][hier durch den
       CDU-Politiker Helge Braun], gehe es dem Vorsitzenden bei Kreuzberg
       eigentlich eher um eine symbolische Metapher für den urbanen Raum
       allgemein, den die Regierungspolitik gegenüber dem ländlichen bevorzuge.
       
       Ein wenig scheint auch die Kenntnis zu fehlen, was Berlin überhaupt ist und
       wo es herkommt. Von kleinen Reservaten der Freiheit wie Kreuzberg oder
       Schöneberg abgesehen war das Westberlin der Nachkriegszeit nämlich eine
       überraschend piefige und provinzielle Angelegenheit, in der eine korrupte
       Law-and-Order-Kaste sich im geschlossenen Kreislauf einer Amigowirtschaft à
       la Bayern (!) mit den großzügigen Zuwendungen des Bundes selbst versorgte.
       
       Der Ostteil der Stadt wiederum schlummerte im Dornröschenschlaf einer
       unüberwindlichen Einparteienherrschaft, analog zur CSU in Bayern, und
       allenfalls gedeckt durch das Feigenblatt der gleichgesinnten Blockflöten
       (hier die Ost-CDU und dort die Freien Wähler). Es gibt so viele
       Gemeinsamkeiten.
       
       Wie nach der Wiedervereinigung aus diesen beiden Teilen eine einigermaßen
       weltoffene Metropole entstehen konnte, grenzt angesichts der Umstände an
       ein Wunder, doch das nur am Rande. Kreuzberg und Gillamoos sind, wie oben
       aufgezeigt, einander weit ähnlicher, als sowohl Merz und Aiwanger wie auch
       deren Gegner vielleicht wahrhaben wollen.
       
       Denn hier wie dort ballern sich die Leute zu, um entweder ihr Elend, ihre
       Langweile oder ihr Glück zu vergessen. Und bestimmt gibt es auch irgendwo
       am Rand von Abensberg ein buntes Kreuzberghaus, in dem ein Mädchen, ein
       Äffchen und ein Pferd zusammen anarchische Gedanken schmieden, während
       wiederum von Kreuzberg bis Neukölln CDU-Politiker wie Kai Wegener und Falko
       Liecke [4][das Rad der Zeit zurückzudrehen versuchen.]
       
       Was Deutschland ist und was es nicht ist, ist also nicht so einfach.
       Deutschland kann jederzeit hier wie dort zugleich sein, und das ist neben
       dem Versöhnlichen auch das Erschreckende, je nachdem wer gerade die
       Oberhand zu gewinnen droht.
       
       5 Sep 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Aiwanger-beim-Gillamoos/!5955192
 (DIR) [2] /Der-Fall-Aiwanger/!5955089
 (DIR) [3] https://www.deutschlandfunk.de/interview-helge-braun-cdu-vors-haushaltsausschuss-zur-haushaltsdebatte-dlf-35d6409b-100.html
 (DIR) [4] https://www.fr.de/politik/berlin-wahl-silvester-krawalle-cdu-rechts-aussen-neukoelln-stadtrat-liecke-92020227.html
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Uli Hannemann
       
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