# taz.de -- Erinnerungspolitik im fränkischen Land: Schönes Dorf, dunkle Kapitel
       
       > Unser Autor kehrt in seine Heimat in Franken zurück: schön, gesittet,
       > kaum Stimmen für die AfD. Auch die Opfer der Shoah scheinen längst
       > vergessen.
       
 (IMG) Bild: Historische Altstadt von Sommerhausen heute; fast wie in der Toskana
       
       SOMMERHAUSEN taz | Sommerhausen! Das ist ein glückliches Dorf. Mit
       strahlender Sonne und einer Weinrebe im Wappen. Romantisch am Main gelegen,
       von einer Wehrmauer geschützt. Schön ist das Dorf. Wohlhabend. Voller Wein,
       Kunst und Kultur. Hier ist nicht Bayern, sondern Franken. Hier wird nicht
       gejodelt, sondern gereimt und gedichtet. Nirgendwo in Deutschland gibt es
       seit Jahrzehnten auf die Einwohner berechnet so viele Bühnen und Galerien,
       nirgendwo so viele Künstler und Schriftsteller.
       
       Wer an einem warmen Spätsommerabend durch die verwinkelten Gassen
       schlendert, vorbei an beeindruckenden Bürgerhäusern, jahrhundertealten
       Weingütern, dem Rathaus und dem Schloss aus der Renaissance, der fühlt sich
       ein wenig in die Toskana versetzt.
       
       „Ich bin Bürgermeister im Paradies!“ Mit diesen Worten begrüßt mich
       Wilfried Saak im Hof des Restaurants Sonnenhöfle. Bei einem Glas
       goldglänzenden fränkischen Weißweins überzeugt mich der Dorfvorsteher: Wer
       hier lebt, der hat das große Los gezogen. Hier ist alles
       überdurchschnittlich – das Einkommen, die Wohnfläche pro Person, die
       Steuereinnahmen. Und hier funktioniert auch alles: der öffentliche
       Nahverkehr, die ärztliche Versorgung, das Zusammenleben.
       Unterdurchschnittlich ist hier nur die Zahl der Arbeitslosen, ganze 20 sind
       es im Schnitt im Jahr, und die Zahl der Sozialhilfeempfänger geht gegen
       null.
       
       Bei der letzten Landtagswahl 2018 in Bayern haben landesweit 10,2 Prozent
       für die AfD votiert, Von den 1.552 wahlberechtigten Sommerhäusern gerade
       mal 4,9 Prozent. Auch Aiwangers Partei blieb hier weit hinter dem
       Bayernschnitt zurück. Stattdessen erreichte die gesittete Bürgerlichkeit
       fast eine Zweidrittelmehrheit mit 43,5 Prozent für die CSU und knapp 20
       Prozent für die Grünen. Die Sozialdemokraten landeten abgeschlagen bei 11,9
       Prozent.
       
       ## Anständig, aber keine Erinnerung an die Shoah
       
       Am Tag, als ich mit Bürgermeister Saak im Sonnenhöfle sitze, hat die
       Süddeutsche Zeitung die Berichterstattung zum [1][Aiwanger-Flugblatt]
       gestartet. Und damit eine Debatte zu der Frage eröffnet: Wie steht es in
       Bayern um die Erinnerungspolitik? Ich bin in meinen Geburtsort
       zurückgekehrt, um einem Paradox nachzuspüren. Wie kommt es, dass in diesem
       anständigen Dorf, in dem die AfD so wenig Stimmen erzielt, wie sonst kaum
       irgendwo in Bayern, bis heute so gut wie nichts an die Sommerhäuser Opfer
       der Shoah erinnert? Was sind die Quellen des Vergessens und des langen
       Schweigens?
       
       Eine mögliche Antwort findet sich im Vereinshaus der Gräflichen
       Schützengesellschaft Sommerhausen. Mit vierzehn Jahren war ich hier
       Mitglied. 1970 erschoss ich mir das bronzene, dann das silberne
       Schützenabzeichen. Und an manchen Abenden schoss ich mir stundenlang die
       Langeweile des Dorfes aus dem Leib. Dann kam das Kiffen und der Rock ’n’
       Roll, dann der Abschied von dieser ehrenwerten Gesellschaft, dann die
       Kriegsdienstverweigerung und die Flucht nach Berlin.
       
       Ich stehe vor verschlossenen Türen. Das letzte Mal besuchte ich das
       Schützenhaus 2014. Damals herrschte ausgelassene, fröhliche Stimmung. Unter
       einer übergroßen Schützenscheibe, gestiftet 1952 von Schützenmeister Georg
       Schmitt, wird an diesem Kirchweih-Abend viel geschunkelt, getrunken und
       geschwitzt.
       
       Seit Generationen hängt die Scheibe im Schankraum. Zeugnis eines radikal
       rechten Geschichtsverständnisses. Um das Porträt des kahlköpfigen, gut
       genährten Stifters, Schützenmeister Georg Schmitt, sind acht kreisrunde
       Bilder drapiert, die Stationen der Jahre 1938 bis 1951 zeigen. Das erste
       ist den Jahren 1938 bis 1944 gewidmet. Es zeigt Deutschland in den Grenzen
       von 1938 – inklusive Österreich und Tschechien. Das Bild für das Jahr 1945
       zeigt ein von hohem Stacheldraht umzäuntes Barackenlager mit Wachturm. Der
       Kommentar dazu lautet „Ein Volk geht ins Lager“. Das Bild zum Jahre 1946
       zeigt eine Papierrolle mit dem Aufdruck Fragebogen. Der Kommentar lautet:
       „Deutsche richten über Deutsche.“
       
       ## Täter-Opfer-Umkehr beim Feuerwehrfest 1954
       
       Vor mir liegt ein altes Foto, aus dem Nachlass von Schützenbruder Hermann
       F. Aufgenommen anlässlich eines Feuerwehrfestes im Jahr 1954. Es zeigt
       sieben Herren mit Maßkrügen vor sich. Es sind die Dorfhonoratioren, die das
       Geschäft der Täter-Opfer-Umkehr betrieben. Sie bestimmen, was und wie im
       Dorf erinnert wird. Als das „Ehrenmal“ für die Gefallenen der Kriege
       1870/1871, des ersten und des zweiten Weltkriegs im November 1961
       eingeweiht wird, hält Schützenbruder Karl H. eine geschichtsvergessene
       Festrede. Auf den Bronzetafeln fehlen die Namen der zwei jüdischen
       Sommerhäuser, die 1918 gefallen sind – Karl Strauss und David Stahl. Die
       Brüder von David, Karl und Lazarus Stahl, hochdekorierte Teilnehmer des
       ersten Weltkriegs, wurden 1944 in Auschwitz ermordet.
       
       Der Geschichtsrevisionismus geht Hand in Hand mit einem rigiden
       Erziehungssystem. Bis Ende der sechziger Jahre sind die Kinder
       Sommerhausens der verrohten Dorfelite ausgeliefert. Ihre Gefühlskälte und
       ihr Menschenbild geben sie mit Gewalt an die nächste Generation weiter.
       Pfarrer und Lehrer verprügeln ihre Schüler. Die Kindergärtnerin fixiert
       Kinder mit Riemen an Stühle, sperrt Fünfjährige in Kohlenkeller und lässt
       diese glauben, dass dort der Teufel wohnt und der Eingang zur Hölle ist.
       Das ist normal. So normal wie der angesehene Bauer, ein ehemaliger SS-Mann,
       der seine pubertierende Tochter in der Küche ankettet, damit sie dort
       arbeiten, aber nicht zum Spielen auf die Straße kann, während die Eltern
       auf dem Feld arbeiten.
       
       In dieser Dorfgemeinschaft ist kein Platz für Mitgefühl. Schon gar nicht
       für die Opfer der Shoah. Wer in diesen Jahren in Sommerhausen aufgewachsen
       ist, hat nichts über die 400-jährige Geschichte der Sommerhäuser Juden
       erfahren. Dafür viel Gutes über Adolf Hitler. Fragten Heranwachsenden dann
       doch einmal die Großeltern, wo denn die Juden abgeblieben seien, die zu
       einer Synagoge gehörten, wurde ihnen mit den Worten geantwortet: „Die? Die
       sind fort.“
       
       In der 1970 erschienen 418-seitigen Chronik „Sommerhausen in Wort und
       Bild“, die Bibel der Dorferinnerung, wird diese Geschichte auf zwei
       dürftigen Seiten abgehandelt. Kein Wort über die jüdischen Weinhändler, die
       Handwerker, die Rabbis, die Lehrer der jüdischen Schule, die Mikwa. Bis zu
       zehn Prozent der 1.200 Dorfbewohner waren im 19. Jahrhundert Juden. In
       welche Häusern sie lebte, wie sie hießen, was sie dachten? Ihre Spuren sind
       verwischt.
       
       ## Erstmal seit 200 Jahren ein Zugezogener als Bürgermeister
       
       Erinnerungspolitik, das bedeutet in Sommerhausen etwas anderes. Gedacht
       wird vor allem Franz Daniel Pastorius. 1651 hier geboren, gründete er 1683
       die erste deutsche Siedlung in Amerika. 1688 ist er für die erste von einem
       Weißen verfasste Protestnote gegen die Sklaverei verantwortlich. Auszüge
       daraus schmücken heute die Probierstube des Weinguts Artur Steinmann, die
       von der Gleichheit aller Menschen künden.
       
       Das Dorf hat sich verändert. Aus 1.400 Einwohnern meiner Kindheit wurden
       2.000. Die neuen Sommerhäuser, das sind Besserverdienende, häufig
       Akademiker. 2020 kommt es zu einer kleinen Revolution. Erstmals seit 1818
       wird mit Wilfried Saak ein Bürgermeister gewählt, der nicht aus einer
       alteingesessenen Winzerfamilie stammt oder Ur-Sommerhäuser ist.
       
       2020 werden am Volkstrauertag erstmals die Namen der acht Sommerhäuser
       verlesen, die 1933 noch im Ort lebten und in der Shoah ermordet wurden.
       Eine Liste, die das Johanna-Stahl-Zentrum erstellt hat, eine Initiative aus
       Würzburg, die die Geschichte der unterfränkischen Landjuden erforscht. Der
       Vater der Namensgeberin, die 1943 in Auschwitz ermordet wurde, entstammt
       einer alten Sommerhäuser Familie.
       
       Laut Yad Vashem in Jerusalem sind 35 Jüdinnen und Juden, die in
       Sommerhausen geboren wurden oder einen Teil ihres Lebens hier verbrachten,
       der Vernichtungspolitik zum Opfer gefallen. Ein Mahnmal für die Namen der
       Ermordeten gibt es nicht. Und das in einem Dorf, das den Toten der drei
       Kriege seit 1871 drei Denkmale errichtet hat. Das letzte und größte 1961
       zur Ehre und zum Ruhme der gefallenen Teilnehmer am Vernichtungskrieg der
       Jahre 1939 bis 1945.
       
       ## Eine 83-Jährige recherchiert im Privaten
       
       Hausbesuch bei Inge Eilers. Seit 2020 recherchiert die 83-Jährige, die seit
       1967 in Sommerhausen lebt, zur jüdischen Geschichte. Weil sie nicht
       abschätzen kann, wie die Dorfbewohner auf ihre Forschungen reagieren,
       [2][ermittelt sie zunächst verhalten], ohne dies öffentlich zu machen. Bis
       sie zwei Sommerhäuser kennenlernt, die ebenfalls im Stillen Material
       zusammentragen. Das 75 Jahre lange Schweigen bekommt nun Risse. Ein Winzer
       hat in den letzten Jahren vor seinem Tod einen Dorfplan erstellt, in dem er
       die Häuser einzeichnete, welche in den zurückliegenden 200 Jahren in
       jüdischem Besitz waren. Inge Eilers hat inzwischen die Besitzverhältnisse
       zu diesen Namen recherchiert. Material, das der Veröffentlichung harrt.
       
       Und die Ausnahme von der Regel? Die Eigentümerin des Hauses gegenüber der
       ehemaligen Synagoge hat eine Messingplatte an der Fassade angebracht, sie
       erinnert an die einstige jüdische Besitzerin, Hannchen Dorn, die 1936 nach
       New York emigrierte.
       
       Zurück in Berlin schreibe ich dem Vorstand des gräflichen Schützenvereins
       und frage, ob die Schützenscheibe von Georg Schmitt immer noch am alten
       Platz hängt. Die telefonische Antwort: „Wir haben den Schankraum vor vier
       Jahren ein wenig umgestaltet, die Scheibe hängt nun im Büro des Vorstands.“
       
       3 Oct 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Antisemitismus-Vorwurf-gegen-Aiwanger/!5953031
 (DIR) [2] /Juedisches-Leben-in-Deutschland/!5914363
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Eberhard Seidel
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Landtagswahl Bayern
 (DIR) Franken
 (DIR) Erinnerungspolitik
 (DIR) Entnazifizierung
 (DIR) Shoa
 (DIR) Juden
 (DIR) GNS
 (DIR) Erinnerungspolitik
 (DIR) Statistisches Bundesamt
 (DIR) Hubert Aiwanger
 (DIR) Antisemitismus
 (DIR) Judentum
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Gedenkstätten-Leiterin über Claudia Roth: „Man muss behutsam vorgehen“
       
       Elke Gryglewski, Leiterin einer KZ-Gedenkstätte, kritisiert Claudia Roths
       Ideen zur Erinnerungspolitik. Deren Paradigmenwechsel sei kontraproduktiv.
       
 (DIR) Bürgermeister über die kleinste Gemeinde: „Unser Hof liegt in der Sackgasse“
       
       Keine Kriminalität, keine Arbeitslosigkeit, keine Hundesteuer: ein Anruf
       beim Bürgermeister von Dierfeld, dessen Gemeinde aus nur neun Personen
       besteht.
       
 (DIR) Jüdische Stimmen zum Fall Aiwanger: „Ein Alarmsignal“
       
       Bayerns Ministerpräsident Söder solle sich von seinem Vize Aiwanger
       trennen, fordert Hanna Veiler von der Jüdischen Studierendenunion. Auch
       andere üben Kritik.
       
 (DIR) Der Fall Aiwanger: Was neuerdings wieder sagbar ist
       
       Der öffentliche Diskurs verschiebt sich nach rechts. Gedenkstätten
       kritisieren einen „erinnerungspolitischen Scherbenhaufen“.
       
 (DIR) Jüdisches Leben in Deutschland: „Es gibt kein Buch über Synagogen“
       
       Alex Jacobowitz ist Musiker – und reist durch Deutschland, um Synagogen zu
       fotografieren. Warum er selbst oft staunt und was ihm Mut macht.