# taz.de -- Leiter von Hilfsorganisation über Gaza: „Gesundheitssystem vor dem Kollaps“
       
       > Die humanitäre Lage im Gazastreifen ist katastrophal, sagt Tsafrir Cohen
       > von Medico International. Was erwartet er von der internationalen
       > Gemeinschaft?
       
 (IMG) Bild: „Es muss der Kreislauf der Gewalt durchbrochen werden: zerstörte Gebäude in Gaza am 18. Oktober
       
       taz: Herr Cohen, am Dienstag gab es eine Explosion an [1][einem Krankenhaus
       in Gaza], dabei sollen hunderte Menschen gestorben sein. Welche Folgen wird
       das haben? 
       
       Tsafrir Cohen: Das steigert die Zahl der Toten in Gaza noch weiter, seit
       Kriegsbeginn sind dort schon über 3.000 Menschen gestorben. Und es
       verschärft die humanitäre Lage, denn das Gesundheitssystem steht vor dem
       Kollaps. Auch wenn noch unklar ist, wer dafür verantwortlich ist, sollten
       die Waffen jetzt sofort schweigen. Die Leute im Globalen Süden schauen sehr
       genau darauf, wie sich der Westen in diesem Konflikt verhält. Für sie ist
       das der Lackmustest, ob sich der Westen an seine eigenen Werte hält – oder
       ob er Menschenrechte nur dann ins Feld führt, wenn er seine
       Vormachtstellung und seine imperiale Lebensweise rechtfertigen will. Wenn
       wir da durchfallen, wird die Entfremdung zwischen dem Globalen Süden und
       dem Westen weiter zunehmen, die sich übrigens auch auf deutschen Straßen
       niederschlägt. Wir müssen eine Sprache und eine Praxis entwickeln, anhand
       derer wir das Menschenrecht von überall, zu jeder Zeit auf gleiche Weise
       durchbuchstabieren können, hier wie dort. Das ist das Gebot der Stunde.
       
       Wie geht es Ihren Partnern in Israel und im Gazastreifen? Wie erleben sie
       die Situation? 
       
       Wir haben eine Reihe von Partnern, mit denen wir teilweise seit 30 Jahren
       zusammenarbeiten. Die israelische Organisation „Ärzte für Menschenrechte“
       zum Beispiel hat sofort Menschen geholfen, die nach den Angriffen der Hamas
       aus der Region evakuiert worden sind. Viele von ihnen sind in Hotels am
       Toten Meer untergebracht worden. Gastarbeiter aus Thailand, die in der
       Landwirtschaft arbeiten, wurden dagegen in größeren Hangars untergebracht.
       An beiden Orten gibt es keine ausreichende Gesundheitsversorgung. Ein
       anderer Medico-Partner ist die „Palestinian Medical Relief Society“, die
       seit vielen Jahren im Gazastreifen arbeitet. Im Moment betreiben sie
       Pop-up-Kliniken, um im Kriegsgeschehen ein Mindestmaß an Basisgesundheit
       aufrechtzuerhalten. Die meisten Menschen sind auf der Flucht, und es gibt
       kaum noch Wasser und Strom. Vor allem der Stopp der Wasserzufuhr führt zu
       der Gefahr, dass Menschen kontaminiertes Wasser trinken. Schlimm ist, dass
       seit dem 7. Oktober der solidarische Zusammenhalt zwischen progressiven
       Israelis und Palästinensern über alle Grenzen hinweg zerrieben wird. Die
       gemeinsame Vision und auch Praxis zu erneuern, wird eine Mammutaufgabe.
       
       Die EU hat nun angekündigt, die humanitären Hilfsgelder für den
       Gazastreifen zu verdreifachen. Vor einer Woche wollte sie noch alle
       Hilfsgelder stoppen. Auch Deutschland wollte seine Hilfsgelder auf den
       Prüfstand stellen. Was würde ein Stopp bedeuten? 
       
       Das Gros unserer Projekte wird weltweit durch Spenden finanziert. Im
       Gazastreifen arbeiten wir aber auch mit staatlichen Geldern. Dort
       unterstützen wir Projekte zur Gesundheitsversorgung und progressive
       Organisationen, die etwa helfen, Frauen in einer patriarchalen und
       bitterarmen Gesellschaft zu ermächtigen. Oder die
       Menschenrechtsorganisation Al Mezan, die gleichermaßen
       Menschenrechtsverletzungen seitens der israelischen Armee, der Hamas sowie
       der Palästinensischen Autonomiebehörde bekämpft. Ihnen würde man das Geld
       streichen, nicht der Hamas.
       
       Welchen Spielraum gibt es dafür? 
       
       Seit die Hamas 2007 im Gazastreifen die Macht übernommen hat, sind die
       Spielräume dort immer kleiner geworden. Aber unsere Partner nutzen die
       Spielräume, die sie haben. Das kennen wir auch aus anderen Ländern wie
       Iran, Syrien oder Afghanistan. Wenn wir nur dort arbeiten könnten, wo eine
       wunderbare Demokratie herrscht, dann müssten wir unsere Arbeit ganz
       einstellen.
       
       Wie können Sie verhindern, dass Geld an die Hamas fließt? 
       
       Zunächst zum Kontext: Im Gazastreifen leben etwa 2,3 Millionen Menschen auf
       350 Quadratkilometern, das ist in etwa die Größe von Köln. Wir reden von
       einer Enklave, die abgeriegelt ist und dadurch abhängig von Hilfsgeldern
       aus dem Ausland ist. Die Bundesregierung hat sich, zusammen mit den USA und
       der EU, seit den Friedensverträgen von Oslo dazu verpflichtet, Gaza zu
       unterstützen, bis eine endgültige Lösung zwischen Israel und den
       Palästinensern erzielt wurde. Das ist umstritten, weil es Israel von seiner
       Verantwortung für die unter Besatzung lebenden Palästinenser entbindet, die
       es aufgrund des Völkerrechts eigentlich trägt. Die Gesundheitsversorgung
       etwa interessiert weder Israel noch die Hamas – da springen
       Hilfsorganisationen ein, darunter unsere Partner. Diese haben unser
       vollstes Vertrauen.
       
       Nun steht eine Bodenoffensive bevor. Was erwarten Sie? 
       
       Wir haben in den vergangenen Jahren mehrere Kämpfe innerhalb von Städten
       erlebt: Denken Sie an Grosny, an Aleppo, an Mariupol. Der aktuelle
       Schrecken wäre dann nur die Vorstufe zu einem noch größeren Grauen.
       
       Es heißt, die Hamas versteckt sich hinter Zivilisten und in Wohngebäuden.
       Was ist Ihre Erfahrung? 
       
       Die Situation der Zivilbevölkerung Gazas ist seit Jahrzehnten unhaltbar.
       Man hat den Eindruck, dass ihr Leben niemandem etwas bedeutet, sie von
       allen beteiligten Akteuren zum Spielball gemacht und ihre Menschenwürde
       systematisch missachtet wird. Sie leidet nicht nur im Krieg unter der Hamas
       und deren kaltblütiger militärischer Strategie. Auch Israel hat als
       Besatzungsmacht, die es immer noch ist, die Verantwortung, Zivilisten zu
       schützen.
       
       Bundeskanzler Olaf Scholz und Außenministerin Annalena Baerbock waren beide
       [2][in Israel und haben dem Land ihre volle Unterstützung zugesagt]. Was
       erwarten Sie von der Bundesregierung? 
       
       Deutschland ist der zweitwichtigste Alliierte Israels. Deshalb muss die
       Bundesregierung sehr verantwortungsvoll handeln. Es war richtig, direkt
       nach den Angriffen zu signalisieren, dass man fest an der Seite der Opfer
       und der betroffenen Menschen in Israel steht.
       
       Aber? 
       
       Doch es ist brandgefährlich, wenn aus der besonderen Verantwortung
       Deutschlands eine bedingungslose Unterstützung des israelischen Vorgehens
       abgeleitet wird. In der israelischen Regierung sitzen Rechtsradikale, die
       einer ethnischen Säuberung das Wort reden. Zudem hat die Regierung in den
       letzten Monaten enorm an Glaubwürdigkeit in der Bevölkerung verloren und
       versucht, sie durch massive Vergeltung wiederherzustellen. Dies gefährdet
       auch das Leben der Geiseln. In dieser Situation ist es sehr wichtig, dass
       gerade die Verbündeten Israels auf der Einhaltung des Völkerrechts bestehen
       und den Schutz von Geiseln wie Zivilbevölkerung als Bedingung für die
       weitere Unterstützung nennen.
       
       Der israelische Verteidigungsminister Joaw Galant hat eine totale Blockade
       von Wasser, Strom und Lebensmittelzufuhr in den Gazastreifen verhängt. Wie
       bewerten Sie das? 
       
       Es ist zumindest ein Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht. Die
       Bundesregierung muss klarmachen, dass jede Seite für ihre Taten
       verantwortlich ist und für Verbrechen zur Rechenschaft gezogen wird.
       Verbrechen der einen Seite können nicht Verbrechen der anderen
       rechtfertigen. Die Hamas hat auf brutale Art und Weise Grenzen
       überschritten. Das rechtfertigt aber keine Grenzüberschreitungen der
       anderen Seite.
       
       Was kann die internationale Gemeinschaft tun? 
       
       Am Dringlichsten wäre, darauf hinzuarbeiten, die aktuelle Eskalation zu
       beenden. Es gilt, die weitere Brutalisierung und Entmenschlichung zu
       stoppen. Es braucht internationalen Druck auf alle Akteure, von allen
       Seiten. Die Hamas muss alle Geiseln unverzüglich freilassen, alle Angriffe
       auf Zivilisten und auf Gesundheitseinrichtungen müssen aufhören, humanitäre
       Hilfe muss ermöglicht und politische Vorschläge jenseits der militärischen
       Eskalation entwickelt werden. Medico hat seit Jahrzehnten, vor allem seit
       der völkerrechtswidrigen Abriegelung des Gazastreifens 2007, vor einer
       solchen Eskalation gewarnt und mit unseren israelischen und
       palästinensischen Partnern eine politische Lösung des Konflikts gefordert.
       Das gilt auch nach der Zäsur des 7. Oktobers. Es muss [3][der Kreislauf der
       Gewalt] durchbrochen werden. Denn ohne ein Recht auf Rechte für alle
       Menschen in Israel und Palästina, in welchen staatlichen Formen auch immer,
       wird es kein Ende der Gewalt und damit auch keine Sicherheit für Israelis
       wie Palästinenser geben.
       
       Hinweis: In einer früheren Version des Interviews stand, eine Rakete sei in
       ein Krankenhaus eingeschlagen. Als gesichert gilt, dass es am Dienstagabend
       zu einer Explosion auf einem Parkplatz nahe dem Al-Ahli-Krankenhaus in
       Gaza-Stadt kam. Die entsprechende Stelle wurde geändert.
       
       18 Oct 2023
       
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 (DIR) Daniel Bax
       
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