# taz.de -- Der Theaterregisseur Nuran David Calis: Nazis als groteske Clowns
       
       > Nuran David Calis will das Theater wieder zu einem politischen Raum
       > machen. Für das Schauspiel Leipzig hat er Brechts „Arturo Ui“ inszeniert.
       
 (IMG) Bild: Der Theaterregisseur Nuran David Calis hat einen Hang zum Dokumentarischen
       
       „In God we trust“ steht in goldenen Lettern über einem Säulenbogen, während
       sich von hinten eine Clownstruppe durch ein Loch abseilt. Irgendwo zwischen
       gruselig und grotesk, im Full-Mafia-Modus bringt die Chaos-Truppe die
       ohnehin korrupten Politiker auf ihre Seite. Dann wird eine Tür aufgetreten.
       „Stopp“, ruft es aus dem Zuschauerraum. „Schaffst du es auch so, dass beide
       Türen gleichzeitig aufgehen?“
       
       [1][Regisseur Nuran David Calis] legt Wert auf Details bei seiner
       Inszenierung des Brecht-Stücks „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“,
       einer Parabel auf den Werdegang Hitlers in der Weimarer Republik, die am
       Freitag im Schauspiel Leipzig Premiere hatte.
       
       „Bertolt Brecht und Heiner Müller, das sind die ganz Großen“, sagt Calis,
       was erklärt, warum er hier – im Gegensatz zu seinen sonstigen Arbeiten –
       nicht mit Überschreibungen, Umschreibungen oder ganz eigenen Texten
       arbeitet. In Leipzig hat er vor einigen Jahren schon einen ähnlich
       angelegten „Baal“ von Bertolt Brecht gezeigt und war auch mit Dürrenmatts
       „Besuch der alten Dame“ und Fassbinders Migrantendrama „Angst essen Seele
       auf“ zu Gast am Haus.
       
       Dabei ist Letzteres ein Stoff, zu dem Calis auch einen biografischen Zugang
       hat. Selbst 1976 in Deutschland geboren, blieb er als Enkel von
       Gastarbeiter:innen nach damals geltendem Recht Ausländer. Seine Eltern
       sind armenischer und jüdischer Herkunft. Nachdem die Großelterngeneration
       erst zum Arbeiten und dann zum Bleiben nach Deutschland gekommen war,
       suchten seine Eltern ihr Glück erneut im Herkunftsland Türkei. Doch mit den
       aufziehenden dunklen politischen Wolken Ende der 1970er kehrten sie zurück
       nach Bielefeld, diesmal aber nicht als Gastarbeiter:innen, sondern im
       [2][prekären Status von Asylsuchenden.]
       
       Tod als ultimativer Einschnitt 
       
       Nach neun Jahren Duldung dann endlich die Einbürgerung, doch der Vater
       starb kurz danach mit nur 44 Jahren. Nuran David Calis erfährt den Tod als
       ultimativen Einschnitt: „Ich wusste, ich wollte was machen aus mir und
       meinem Leben – und Schluss machen mit diesem Leben im Schatten, das meine
       Eltern mir vorgelebt hatten.“ Doch was sollte das sein?
       
       Über eine Freundin kommt er nach dem Abitur nach München, hospitiert am
       ehrenwerten Residenztheater bei Klaus Reichert, und auch Intendant Dieter
       Dorn wird auf ihn aufmerksam. Es klappt beim ersten Anlauf mit dem
       Regiestudium an der Otto-Falkenberg-Schule in München samt Regieassistenz
       am Resi. „Ich war der einzige Ausländer und der Einzige aus einer
       Nicht-Akademiker-Familie dort“, resümiert er die Situation Ende der 1990er.
       „Ich fragte mich: Wo ist hier meine Welt? Ich muss mir den Raum nehmen und
       sie erschaffen.“
       
       Zugleich erkennt er für sich Chancen, die er nur ergreifen muss, und
       bemerkt zugleich, dass viele, die wie er sind, von solchen Möglichkeiten
       einfach nichts wissen. Hier findet er zu Brecht und Müller, zum Theater als
       soziale Frage, das ihn bis heute umtreibt. Das gilt für den Arturo Ui, aber
       noch stärker vielleicht für andere Projekten.
       
       „Ich mache zum einen politisches Theater, aber zum anderen muss Theater
       auch wieder ein politischer Raum werden. Das sind die Pole meiner Arbeit.“
       Stücke wie Wedekinds „Frühlingserwachen“ werden dabei einer Generalrevision
       unterzogen und als Überschreibungen ins Heute gewendet.
       
       Sein erstes eigenes und stark biografisch geprägtes Stück „Dog Eat Dog“
       schreibt er bereits zu Schulzeiten auf dem Laptop des Rektors. Darin
       berichtet Calis vom Aufwachsen in einer Bielefelder Hochhaussiedlung. Es
       wird zu den Autorentagen am Thalia angenommen.
       
       Dokumentarisches Theater zum NSU 
       
       2008 beschäftigt er sich für das Schauspiel Köln in „Stunde Null“ mit
       deutscher Migrationsgeschichte. Es entspricht seinem Hang zum
       Dokumentarischen, um so das Theater zum politischen Raum werden zu lassen,
       in dem wirklich etwas verhandelt wird. So ist Nuran David Calis einer der
       ersten Regisseure, der sich an das Thema des NSU herantraut – eben mit den
       Mitteln des dokumentarischen Theaters.
       
       In Köln inszeniert er 2014 mit Überlebenden und Angehörigen das Stück
       [3][„Die Lücke“, das den Nagelbombenangriff] der rechtsextremen Terrorzelle
       am 9. Juni 2004 zum Anlass nimmt. Die Opfer berichten dabei nicht nur von
       der Tat selbst, sondern auch vom Umgang der deutschen
       Strafverfolgungsbehörden, die das rechtsextreme Motiv nicht verfolgten,
       sondern stattdessen die Täter:innen im Umfeld der Anwohner:innen
       suchten.
       
       Im Gespräch mit der taz erwähnt Calis immer wieder das Wort Empowerment.
       Zum einen natürlich der Opfer, die hier zu Protagonist:innen ihrer
       eigenen Geschichte werden, aber auch des Publikums, das an der
       Konfrontation mit anderen Positionen wachsen kann und Mechanismen und
       Vorgänge ganz im Brecht’schen Sinne zu erkennen vermag. „Es geht um
       Empathie. In den Tiefen der Gesellschaft gibt es eine große Bereitschaft
       zur Versöhnung“, davon ist Calis überzeugt.
       
       Das Thema bleibt an ihm haften, immer wieder beschäftigt er sich in
       verschiedenen Projekten mit dem NSU-Komplex, vor allem auch mit dem
       Versagen und der Blindheit der staatlichen Stellen. Höhepunkt dieser
       theatralen Aufarbeitung ist das 17-tägige Re-Enactment „438 Tage
       NSU-Prozess“ im Rahmen [4][des Kunstfests Weimar 2021.] Dafür verwandelt er
       ein altes Radiostudio, von dem einst Konzerte gesendet wurden, in einen
       Gerichtssaal. An den 17 Tagen werden die 17 Attentate des NSU verhandelt.
       Vorgetragen wird von Schauspielenden und prominenten Gäst:innen aus den
       Prozessakten. Konzise Textfassungen bringen die Widersprüchlichkeiten und
       Ungereimtheiten zutage, jeder Inszenierung folgt eine Diskussion mit
       Politiker:innen, Angehörigen sowie Rechtsbeiständen.
       
       Das Theater spielt Gericht und wird damit zum öffentlichen Raum, der mehr
       verhandelt, als der 6. Strafsenat des Oberlandesgericht München verhandeln
       wollte. Als es zu Drohungen gegen eine Installation am Spielort – eine
       Deutschlandkarte, in der Tatorte mit Einschusslöchern markiert sind –
       kommt, sichert ihm der Münchner Polizeipräsident unbürokratisch eine
       Erhöhung der Streifen zu. Alles bleibt friedlich.
       
       Das Theater als Gerichtssaal 
       
       „Im Dokumentarischen wird das Theater politisch“, bringt Calis seine
       Position auf den Punkt. Auch im Bühnenbild von Irina Schicketanz, die auch
       den Saal in Weimar gestaltet hat, zum Leipziger „Arturo Ui“ lässt sich ein
       Gerichtssaal sehen. Weitere Arbeiten [5][von Calis gibt es zu den
       Anschlägen von Mölln], zu den Drohbriefen des NSU, mit Geflüchteten, aber
       auch [6][zu den deutsch-kolonialen Massakern in Namibia] oder zur
       türkischen Zeitgeschichte.
       
       All dies führt irgendwie zum Arturo Ui, aber eher parallel. „Die Täter
       interessieren natürlich, aber es ist ein Gebot, dass man sich über sie
       lustig macht. Es muss als Farce sein. Ich würde keinen AfD-Politiker auf
       ein Podium laden, der dann neben einem Opfer des NSU sitzt. Das geht
       nicht!“
       
       Während Calis im Theater seine Räume gefunden hat, in denen er wirken kann,
       sieht er dass ebendiese Räume für den Nachwuchs enger werden. „Ob ich
       meinen Weg heute noch so gehen könnte, bezweifle ich. Heute ist mehr
       Gegenwind, die Intendanten fürchten die AfD, mit der sie in den
       Kulturausschüssen sitzen.“ Diese fehlenden Zugänge führen seiner Meinung
       nach zu unfruchtbaren Polarisierungen: „Ich erlebe, dass die ästhetische
       gegen die soziale Frage ausgespielt wird, dabei müssten wir doch eine
       solidarische Position einnehmen. Das heißt dann aber auch, dass man
       Widersprüche aushält.“ Doch gerade die Institutionen mauern.
       
       „Warum ist eine Sibel Kekilli oder ein Mehmet Kurtuluş nicht auf der
       Auswahlliste zur Akademie der Künste. Wo sind denn diese 60 Jahre
       Einwanderung kulturell sichtbar? Warum sind die neuen Regeln des
       Bühnenvereins zur Intendant:innensuche nur unverbindliche
       Empfehlungen?“ Calis engagiert sich bei dem Programm Dialogperspektiven,
       einem Forum des interreligiösen und weltanschaulichen Austausches und
       pluralistischen Diskurses. Gerade die aktuellen Wahlergebnisse sind für ihn
       ein klares Zeichen, dass die Theater viel stärker in die Offensive gehen
       müssen, weil es um die Freiheit geht. Nicht nur die Freiheit der Kunst,
       sondern die Freiheit von jedem und jeder Einzelnen.
       
       Dazu gehört auch über die alten und neuen Nazis zu lachen, auch wenn es
       manchmal schwerfällt. Wenn sie wie bei Brecht linkisch als groteske Clowns
       auf die Bühne rutschen, ist das schon mal ein guter Anfang.
       
       17 Oct 2023
       
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