# taz.de -- Gefühl der Ungerechtigkeit: Waldorfs Demokratieverständnis
       
       > Eine Pianistin spielte im Unterricht, es gab Bioessen. Doch unsere
       > Autorin fühlte sich als Waldorfschülerin benachteiligt. Heute weiß sie es
       > besser.
       
 (IMG) Bild: Demonstration von Waldorfschülern für einen gerechten Umgang mit Fördergeldern im Jahr 2009
       
       Es war Aufruhr in der Schulgemeinschaft. Man plante politische Aktionen.
       Ich weiß nicht mehr, um was es genau ging. Aber ich spürte deutlich, dass
       man sich als Waldorfschulgemeinschaft in der Existenz bedroht sah.
       
       Dass es ein ganz starkes Gefühl von Unrecht gab, weil man weniger Geld
       bekam als vergleichbare öffentliche Schulen. Ich habe mich mit vollster
       Überzeugung benachteiligt gefühlt. Vermutlich ganz ähnlich wie die
       demonstrierenden Berliner Waldorfkinder, die am 19. 9. 2023 vors Rote
       Rathaus zogen.
       
       Meine [1][ersten Erinnerungen an Politik] hängen also mit der Finanzierung
       meiner Waldorfschule zusammen. Das hat dazu beigetragen, dass mein
       Vertrauen in den Staat und in demokratische Prozesse bereits als Kind
       unterminiert wurden. Ich habe durch solche Argumentationslinien verstanden:
       Der Staat ist böse und gängelt uns unrechtmäßig – nicht nur über das Geld,
       sondern beispielsweise auch über die Regelungen für Schulabschlüsse.
       
       ## Ein starkes Gefühl von Unrecht
       
       Worüber damals niemand mit mir geredet hat, waren die unfairen Vorteile,
       die Waldorfschulen haben: Sie können sich die Kinder aussuchen, die „zu
       ihnen passen“ und sie können Schulverträge wieder kündigen, wenn Kinder
       „unbeschulbar“ werden oder das „Vertrauensverhältnis zu den Eltern“
       zerrüttet ist.
       
       An meiner Waldorfschule gab es kaum Kinder, die nicht [2][Deutsch als
       Erstsprache] hatten. An den umliegenden Grundschulen waren es teils über 90
       Prozent, deren Zweitsprache es war. Zudem ist ein christlicher
       Religionsunterricht an nahezu allen Waldorfschulen verpflichtend.
       
       Durch bewusste Selektion bestimmter Kinder kreieren Waldorfschulen eine
       sehr spezifische Gemeinschaft, die viele ressourcenstarke Eltern bindet und
       Kinder die mehr Ressourcen bräuchten, nicht aufnimmt oder später abstößt.
       
       Wir haben damals auch nie über den Reichtum gesprochen, in dem wir
       aufwuchsen. Wir hatten einen Eurythmiesaal mit Parkett und eine Pianistin,
       die täglich für den Unterricht spielte. Wir haben an Vollholztischen
       gesessen, frisch gekochtes Bioessen bekommen und mit qualitativ sehr
       hochwertigen Materialien gemalt, musiziert, gestrickt und gewerkt. Ich
       dachte wirklich, das käme einfach nur weil „uns“ Bildung nun mal wichtig
       wäre und dass jedes Kind auf die Waldorfschule gehen könne, wenn die Eltern
       es nur wollten.
       
       ## Eine Pianistin, frisches Bioessen, teures Werkzeug
       
       Wir haben uns eher arm gefühlt, weil irgendwie immer zu wenig Geld da war
       und wir nach jeder Aufführung mit Hut oder Geigenkasten an den Ausgängen
       standen. Und Schulgeld wäre ja auch gar nicht nötig, wenn die
       Waldorfschulen voll finanziert würden. So dachte ich auch noch, nachdem ich
       meine Schule längst verlassen hatte.
       
       Heute bringe ich meine Kinder morgens in eine unterfinanzierte öffentliche
       Grundschule und frage mich: Was wäre, wenn das praktische, politische und
       finanzielle Engagement der „Waldorfkohorte“ bei Regelschulen und
       Kiezinitiativen ankommen würde, weil sie einfach Teil davon wären? Wenn
       Holzwerkstatt und Malatelier inklusiv wären?
       
       [3][Bildungsgerechtigkeit] kann doch nicht dadurch entstehen, dass
       ressourcenstarke Familien sich in eine scheinbar geborgene
       Parallelgemeinschaft zurückziehen, wo Kinder fast unkontrolliert nach einem
       problematischen Lehrplan unterrichtet werden und dann vielleicht, so wie
       ich, mit einem verzerrten Demokratieverständnis in die Welt gehen?
       
       6 Nov 2023
       
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