# taz.de -- Alter, Gefühle und Ageism: Darf man sich freuen, alt zu werden?
       
       > Keiner will alt aussehen und alle wollen sich jünger fühlen, als sie
       > sind. Wohin führt dieses unaufgeklärte Verhältnis zum eigenen Alter?
       
 (IMG) Bild: Selbstbestimmt im Alter mit oder ohne Falten
       
       Als mein Vater starb, hatte er praktisch keine Falte im Gesicht, volles
       Haar und war geistig und auch körperlich noch top in Schuss. Na ja, nicht
       ganz: Herzinfarkt mit knapp 30. Als ich ihn in einem Nebenraum des
       Stimpfacher Rathauses aufgebahrt liegen sah, dachte ich: Also, das kann es
       echt nicht sein. Ich würde älter werden, als er wurde. Viel älter.
       Mindestens doppelt so alt.
       
       Tja. Man schafft ja vieles nicht, was man sich so vornimmt – aber das habe
       ich geschafft. Und ich bin richtig glücklich darüber, alt zu werden.
       Allerdings merke ich, dass das bei anderen auf tiefes Misstrauen stößt. Die
       Vater-Story, schön und gut, aber das will er sich doch damit nur
       schönreden.
       
       Ich sage dann: Was ist denn die Alternative zum Altwerden, ihr Honks? Es
       gibt nur eine, und das ist jung sterben. Das haben wir popkulturell als
       erstrebenswert verherrlicht („[1][Hope I die before I get old“]), aber im
       echten Leben kann es nicht so richtig geil sein, mit 27 an seiner Kotze zu
       ersticken [2][wie Jimi].
       
       Wollen die meisten ja auch nicht, aber alt sein schon gar nicht. Deshalb
       ziehen sie – wie übrigens auch in politischen Bereichen, in denen nur
       Realitätsnähe Fortschritt bringen könnte – eine illusionistische
       Vorstellung vor: nicht sterben und nicht alt werden.
       
       ## Seufzend an den nächsten Geburtstag denken
       
       Das passt ideal zur notorischen Widersprüchlichkeit von unsereins: Die
       Chancen in der Gesellschaft sind ungerecht verteilt, aber ich hab mir alles
       selbst erarbeitet. Selbstverständlich bin ich für autofreie Räume, aber
       doch nicht auf Kosten meines Parkplatzes vor der Tür. Schulklassen total
       divers, aber nicht bei meinen Kindern, sonst Privatschule.
       
       Also muss man immer seufzend an seinen nächsten Geburtstag denken und
       larmoyant hadern, statt sich zu freuen, dass man wieder ein Jahr geschafft
       hat, während andere nicht so viel Glück hatten. Das ist emotional-kulturell
       so eingefräst, klar, aber intellektuell ziemlich erschütternd und auch
       zynisch.
       
       Man darf auch auf keinen Fall [3][so alt aussehen, wie man ist]. Und man
       muss immer sagen, dass man sich ja gar nicht „so alt“ fühle. Ich bezweifle
       überhaupt nicht, [4][dass Alterskrankheiten und nachlassende
       Funktionsfähigkeiten sich scheiße anfühlen], aber das könnte man mir als
       biologistisch auslegen. Der Punkt ist: Die Leute dürfen sich grundsätzlich
       nicht so alt fühlen, wie sie sind, [5][weshalb sie sich einreden, sich
       jünger zu fühlen]. Wie immer das gehen soll.
       
       Es ist überhaupt verwunderlich, dass die Kategorie Galter („gefühltes
       Alter“) sich noch nicht medial oder gesetzlich etabliert hat. Vermutlich
       wird man bald schon beides nebeneinanderstellen, Alter und Galter, etwa bei
       [6][Christian Lindner] (44/17) oder [7][Claudia Roth] (68/21). In einem
       Zwischenschritt wird dann zunächst das Kreuzberger Bezirksamt durch klare
       Kriterien (Hautunreinheiten, Marihuana-Konsum, Grüne-Jugend-Positionen) das
       gefühlte Alter ermitteln.
       
       Irgendwann wird durch eine Fortschrittskoalition durchgesetzt, dass jeder
       das Recht hat, sein Alter im Personalausweis selbstbestimmt durch sein
       gefühltes Galter zu ersetzen. Renten werden selbstverständlich trotzdem
       bezahlt, allerdings in „Kindergeld“ umbenannt.
       
       Die weiterführende Frage ist nun, ob das politische und kulturelle Problem
       der Altersdiskriminierung letztlich auch daraus folgt, dass wir dieses
       unaufgeklärte Verhältnis zum eigenen Alter pflegen. Jedenfalls schickte mir
       in dieser Woche ein sich offenbar jünger fühlender Freund eine
       Textnachricht: Er schrieb, er rufe jetzt nicht mehr an, „weil ich nicht
       sicher bin, ob Du nicht schon schläfst (in Deinem Alter)“. Die SMS kam um
       21.27 Uhr.
       
       13 Nov 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://youtu.be/qN5zw04WxCc?si=tPLC65nVuYaARn2d
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Peter Unfried
       
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