# taz.de -- Die Kunst der Woche: Das „Nichts“ am Horizont
       
       > Spaziergang mit Echse, Warten auf Baldessaris Knie und übertippte
       > Schhreibmaschinenblätter: diese Woche steht die Komplexität des Porträts
       > im Zentrum.
       
 (IMG) Bild: Blick in Viktoria Binschtoks Ausstellung „43% happy“
       
       Wer malerisches Können schätzt, das ideenreich mit einem gewissen
       ketzerischen Witz gegenüber dem bekannten Kanon auftritt, sollte sich die
       Ausstellung von Tora Aghabayova ansehen. Die 1979 geborene Künstlerin
       absolvierte ihren Master of Fine Arts an der Azerbaijan State Academy of
       Art in Baku. 2011 kam sie nach Berlin, wo sie in einem Atelier im Kunsthaus
       Bethanien arbeitet.
       
       „Allegory of a Stranger“ ist der Titel ihrer ersten Einzelausstellung in
       Berlin in der Galerie [1][Under the Mango Tree]. Der fabelhafte Fremde
       begegnet uns dort in Gestalt eines molligen Mannes mit Fischschwanz, der –
       insofern er mehr nach Meerjungfrau als nach einem Wassermann ausschaut –
       ein wenig „queer“ zu seinem mythologischen Vorbild steht.
       
       In einem postsowjetisch neosurrealistischen Ansatz setzt ihn Tora
       Aghabayova in „Swing“ (2023) à la Fragonard auf die Schaukel, die freilich
       als dicker schwarzer Schwimmreifen tief im Dschungel hängt, oder sie
       platziert ihn dort in „Peace Agreement“ (2023) inmitten wilder Tiere wie
       Tiger und Echsen.
       
       In beiden Fällen beschwört die Künstlerin nach eigener Aussage die
       Möglichkeit einer Versöhnung mit den Ängsten und Schwierigkeiten, in der
       Gesellschaft als anders und fremd wahrgenommen zu werden. Tatsächlich
       könnte man ihre Gemälde auch als autofiktional bezeichnen. Die Einsamkeit
       der im Dämmerlicht versinkenden Landschaften mit ihren leeren Straßen in
       der wunderbaren Serie „Nichts“ kann als die Einsamkeit der Künstlerin in
       der Hauptstadt gelesen werden.
       
       Aber sie versteht es, sich eine interessante, vielleicht sogar gefährliche
       Gesellschaft zu erfinden, und gemalt als perfekte Edward-Hopper-Frau
       schreitet sie, begleitet von einer großen Echse, über die leere Landstraße
       dem Horizont entgegen.
       
       ## Komplexe Erinnerungsarbeit
       
       Das Unterfangen, sich künstlerisch mit den eigenen Ängsten und
       Schwierigkeiten auseinanderzusetzen und am Ende womöglich zu versöhnen,
       mündet wohl zwangsläufig in eine Art Selbstporträt. Das ist dann aber kein
       einfaches Bild, sondern eine komplexe Erinnerungsarbeit, in der die Frage
       nach dem, was ist, und sich in der Frage fortspinnt nach dem, was sein
       könnte oder was hätte sein können, wenn ….
       
       „Conditionals“ heißt die Ausstellung bei [2][Tanya Leighton], die Alejandro
       Cesarco als Raum solcher latenter Möglichkeiten installiert hat. Neben
       Fotografien von Zeichnungen und Druckseiten sowie John Baldessaris Knieen
       zeigt der 1975 in Montevideo geborene Künstler, der heute in Madrid lebt
       und arbeitet, mit „Midcareer“ und „Script“ zwei Filme aus diesem Jahr.
       Beide stehen für Möglichkeiten des Erinnerns und beide sind sie ein
       Selbstporträt.
       
       „Script“ handelt vom Lesen und Wiederlesen, von der Lektüre über die Jahre
       hinweg, von Texten von Andrea Büttner, Isabelle Graw, Benjamin H.D. Buchloh
       oder Douglas Crimp, um nur einige zu nennen. Der Film zeigt die Buchseiten
       mit all ihren Unterstreichungen, Markierungen und Randnotizen, in denen man
       sich Jahre später beim erneuten Lesen wiedererkennt, womöglich aber auch
       vergeblich sucht.
       
       Die Enttäuschung bringe den in seinen Sehnsüchten Gefangenen auf den Boden
       der Tatsachen zurück, sagt der vom uruguayischen Schauspieler David Hendler
       verkörperte „Midcareer“-Künstler, bevor der Film mit dem Bild einer im
       Dämmerlicht versinkenden Landschaft endet, die die Kamera auf der von
       magischem Neonlicht beleuchteten Straße durchquert – ein Bild das aus Tora
       Aghabayovas Serie „Nichts“ stammen könnte.
       
       Auslöser, Cesarcos Ausstellung bei Tanya Leighton zu besuchen, war das in
       der Ankündigung erwähnte Foto „Untitled (John Baldessari's Knees)“
       2013/2023, also die Verheißung, die Knie des Künstlers, kennen zu lernen.
       Wobei sich gleich die Frage stellte, was eigentlich verspreche ich mir von
       dieser Fotografie? Warum will ich Baldessaris Knie sehen? Und wie weiß ich,
       dass es seine sind, die ich da sehe? Ist das überhaupt wichtig? Warum
       sollte nicht jedes Paar Knie, als die von John Baldessari durchgehen? (Nur
       dürften die Beine nicht zu kurz und die Knie nicht zu schmal sein.)
       
       Interessanterweise Weise stellt sich heraus, dass das Foto eine
       Rekonstruktion ist, weil die Originalaufnahme, 2013 während Cesarcos Arbeit
       mit John Baldessari entstanden, verloren gegangen ist. John Baldessari
       wusste bekanntlich, dass „Kunst mehr ist als nur Malen“, aber was ist
       Kunst, auch die Malerei, mehr, als die Möglichkeit und die Notwendigkeit,
       Konzepte der Erinnerung, der Realität und des Sehens in Frage zu stellen?
       
       ## Bildproduktion und ein berühmtes Lächeln
       
       Von Anfang an sind Viktoria Binschtoks fotografische Werkgruppen
       ästhetische Versuchsanordnungen, um den [3][Bild-Welt-Verhältnissen] in
       Zeiten von Digitalisierung und inzwischen von KI auf die Spur zu kommen.
       Könnte es sich die Meisterschülerin von Timm Rautert unter dem Eindruck
       seiner „Bildanalytischen Photographie“ zur Aufgabe gemacht haben, das
       analytische Potenzial der Bildproduktion voll auszuschöpfen? Weil
       Bildproduktion mehr ist als nur Fotografieren?
       
       Ihre fünfzehn „Typewriter Photographs“ bei [4][Klemm’s] zeigen auf den
       ersten Blick die immer gleiche Aufnahme einer mechanischen
       Typenhebelschreibmaschine, in die ein weißes, beschriebenes Blatt eingelegt
       ist.
       
       Mal ist das Blatt eher leer, weil nur wenige Notizen darauf zu lesen sind,
       mal ist es mehrfach übertippt und vollgeschrieben. Mal sind die Wörter klar
       typografisch angeordnet und erinnern an längst vergangene Zeiten konkreter
       Poesie. Von links nach rechts schräg abfallend heißt es dann “occupied,
       free, occupied, occupied, occupied, occupied, free, occupied“ oder im
       Uhrzeigersinn „white mal, age 58.2, no hair, white female, age 42.5, blonde
       hair“, etc. Tatsächlich hat jede der in hellem Holz gerahmten Fotografien
       trotz des scheinbar immer gleichen Motivs einen anderen Titel. Weil eben
       jede Fotografie von einem anderen Bild handelt.
       
       Der Titel der schräg gereihten Wörter occupied und free lautet „parking
       lots“, was spontan sinnvoll erscheint und ebenso spontan an Ed Ruschas
       „Thirtyfour parking lots in Los Angeles“ (1967) erinnert, eben weil Ruscha
       nur die weißen, oft schräg gestaffelten Markierungen der leeren Parkplätze
       fotografiert hat. Ob eines der Bilderkennungsprogramme, die Viktoria
       Binschtok auf ganz unterschiedliches Material wie Pressefotos etwa vom
       G7-Gipfel, private Aufnahmen oder Werbebilder angewendet hat, hier
       Parkplätze erkannt hätte? Und erkennen wir in den Angaben „28 year old
       woman, brown hair, 43% happy“ die im Titel erwähnte „Mona L.“, das
       meistfotografierte Kunstwerk der Welt?
       
       Immerhin können wir gut verstehen, dass Mona Lisa bei all dem Trubel nur
       mäßig amüsiert ist. Was auch auf uns zutrifft, konfrontiert mit
       Deep-Learning-Systemen, die unsere Emotionen anhand von Mimik und Gestik so
       präzise erschließen, dass sie sie auch gleich quantifizieren können.
       Konfrontiert mit Systemen, die uns individuell erkennen, weswegen wir es
       sein könnten, wenn das Programm inmitten eines mit „person, person, person
       …“ vollgetippten Blatts verkündet: „suspect found!!!“.
       
       Völlig ernüchtert sind wir schließlich, wenn wir daran denken, dass hinter
       der Maschinenintelligenz vor allem menschliche Anstrengung steckt. Denn der
       funktionale wie der wirtschaftliche Erfolg der sogenannten selbstlernenden
       Systeme beruht auf der Ausbeutung von Arbeitskräften, deren Job es ist
       Millionen von Bildern einzeln zu beschreiben und im System zu verankern.
       
       Und der goldene Glanz der Typenhebel aus Messing in der alten mechanischen
       Schreibmaschine erinnert er nicht an den Sonnenuntergang, bevor die Welt im
       Dämmerlicht der Daten versinkt.
       
       2 Dec 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://underthemangotree.de/exhibitions-2023-allegory-of-a-stranger-tora-aghabayova
 (DIR) [2] https://www.tanyaleighton.com/artists/alejandro-cesarco
 (DIR) [3] /Das-Leben-ist-ein-Warenlager/!5208930/
 (DIR) [4] https://www.klemms-berlin.com/exhibitions/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Brigitte Werneburg
       
       ## TAGS
       
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