# taz.de -- Literatur über jesidische Erfahrungen: Die heilende Wirkung des Schreibens
       
       > Sie wurden einst vor der genozidalen Gewalt des „Islamischen Staats“
       > gerettet. Nun lasen jesidische Autorinnen und Autoren in Stuttgart.
       
 (IMG) Bild: Zur Flucht gezwungen: Eine Gruppe Jesiden aus dem Nordirak auf dem Weg in die Türkei im August 2014
       
       Während die Lichter des Weihnachtsmarkts durchs Fenster funkeln und das von
       den Fenstern abgeschnittene Halbrund des Riesenrads davor wie eine
       gigantische beleuchtete Sonnenuhr anmutet, liest die Abiturientin Jihan
       Alomar von zusammengepferchten Menschen, von Angst und Gewalt im
       Sindschar-Gebirge im Sommer 2014. Später, in Gefangenschaft des
       „Islamischen Staats“ (IS), will ihr die Mutter die Haare abschneiden, damit
       sie als Junge getarnt vor sexueller Gewalt geschützt ist.
       
       Es ist keine Zeit für Diskussionen. „Mein Stolz fiel mit meinen Haaren in
       den Schmutz. Ich wäre am liebsten nie als Mädchen auf die Welt gekommen“,
       schreibt sie in ihrem Buch „Dankbarkeit – Die schlimmste Zeit meines
       Lebens“. Die junge Frau muss mit den Tränen kämpfen.
       
       Aber das Buch, das sie zusammen mit deutschen Freunden geschrieben hat, ist
       das Dokument eines gewonnenen Kampfs. Wenige Tage vor Weihnachten unter den
       barocken Kronleuchtern des Stuttgarter Schlosses hört man die Geschichten
       zweier jesidischer Autoren, die mit dem jesidischen Sonderkontingent der
       Landesregierung ins Land gekommen sind, gerührt und staunend.
       
       Vor allem traumatisierte Frauen und Kinder kamen damals, die vor dem Mord
       und Terror des IS geflohen waren. Insgesamt 1.100 Menschen, darunter auch
       die spätere Friedensnobelpreisträgerin Nadia Murad. Ministerpräsident
       Winfried Kretschmann hat sich damals persönlich dafür eingesetzt.
       
       ## Das Schreiben hat ihm die Psychotherapie erspart
       
       Jetzt, fast zehn Jahre später, werden deshalb nicht nur Geschichten von
       Flucht und Leid erzählt. Es sind auch Geschichten gelungener Integration.
       Hier haben sich junge Menschen eine Sprache angeeignet, die ihnen fremd
       war, und schwere Traumata, wenn nicht überwunden, so zumindest
       zurückgedrängt, um ein Leben zu beginnen.
       
       Es ist ein Abend, der auch von der heilenden Wirkung des Schreibens kündet.
       Farhad Alsilo hat schon kurz nach seiner Ankunft in Deutschland angefangen,
       seine Geschichte aufzuschreiben. Als 14-Jähriger, mit den wenigen Worten,
       die er auf Deutsch konnte. Drei- oder viermal habe er das Buch geschrieben,
       das heute „Der Tag, an dem meine Kindheit endete“ heißt. Er beschreibt, wie
       sein Vater vor seinen Augen erschossen wurde, wie er mit seiner Mutter
       schwindelig vor Hitze durch die Wüste floh.
       
       Alsilo studiert inzwischen Maschinenbau in Stuttgart. Das Schreiben habe
       ihm die Psychotherapie erspart, sagt er. Deutschland, das Land, dessen
       Sprache er jetzt beherrscht, sei heute seine Heimat. Er habe sich nie so
       sicher gefühlt.
       
       ## Erinnerungen an die Sommerferien
       
       Die Texte der beiden jungen Autoren sind fesselnd und anrührend durch ihre
       Unmittelbarkeit. Die Texte der in Deutschland geborenen Autorin Ronya
       Othmann blicken mit räumlichem Abstand und durch den Filter eigener
       Kindheitserinnerungen auf das Schicksal des jesidischen Volks. Othmann war
       Kolumnistin der taz, hat 2019 den Publikumspreis von Klagenfurt gewonnen.
       Mit ihrem Debütroman „Die Sommer“ hat sie das Leben der Jesiden vor dem
       Angriff des IS festgehalten, gespeist aus den eigenen Erinnerungen an die
       Sommerferien bei der Familie des Vaters, die sie als Kind dort erlebt hat.
       
       Der Abend im Neuen Schloss, der mit Literatur begonnen hat, endet mit
       Politik. Das ist bei diesem Thema fast zwingend. Der heutige
       Antisemitismusbeauftragte des Landes, Michael Blume, der damals das
       Kontingent vor Ort zusammengestellt hat, berichtet von den
       Integrationserfolgen und den Projekten, die die Landesregierung von
       Traumatherapie bis zu Energieversorgung im Nordirak angeschoben hat.
       
       Im Koalitionsvertrag der grün-schwarzen Regierung ist ein zweites
       Sonderkontingent vereinbart. Die Pläne dafür liegen fertig im
       Staatsministerium. [1][Diesmal sollen vor allem die zurückgebliebenen
       Familienväter nach Deutschland kommen], die damals noch als vermisst
       galten. Und Kinder aus Vergewaltigungen von IS-Kriegern an jesidischen
       Frauen, die aus der jesidischen Gemeinde ausgeschlossen bleiben.
       
       ## Werden die Eltern abgeschoben?
       
       Doch die Stimmung hat sich seit 2014 gedreht. Das Programm liege derzeit
       auf Eis, erklärt Kretschmann wenige Stunden vor der Lesung auf Frage der
       taz. Gleichzeitig sind Jesiden in Deutschland von Abschiebungen bedroht.
       Das Bundesinnenministerium steht auf dem Standpunkt, dass es für sie nach
       dem Ende des IS keine religiöse Verfolgung mehr gibt.
       
       Das schwarz-grün regierte Nordrhein-Westfalen sieht das anders und hat
       einen Abschiebestopp für Jesiden verhängt. Baden-Württemberg hat das bisher
       nicht vor. Farhad Alsilo wendet sich auf dem Podium direkt an Michael
       Blume. [2][Er solle ihn von seinen Eltern fragen, ob sie womöglich bald
       abgeschoben werden.] Blume verneint. Die Jesiden aus dem Kontingent seien
       auf alle Fälle „safe“.
       
       Aber es bleibt am Ende dieses hoffnungsvollen Abends auch der fade
       Eindruck, dass der grüne Ministerpräsident etwas sehr Verdienstvolles
       begonnen hat, das er sich, angesichts der allgemeinen Stimmung, nun aber
       scheut, zu Ende zu bringen. Da hilft dann auch die Kraft der Literatur
       wenig.
       
       21 Dec 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Jesiden-aus-dem-Nordirak/!5917377
 (DIR) [2] /Ueberlebende-des-Genozid-an-den-ziden/!5978191
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Benno Stieber
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Flucht
 (DIR) Jesiden
 (DIR) „Islamischer Staat“ (IS)
 (DIR) Genozid
 (DIR) Abschiebung
 (DIR) Literatur
 (DIR) Irak
 (DIR) Nordirak
 (DIR) Kurden
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Abschiebestopp von ÊzîdInnen: Niedersachsen will Vorbild sein
       
       Auf der Innenministerkonferenz wirbt Niedersachsens Innenministerin für
       einen bundesweiten Abschiebestopp von êzîdischen Frauen und Kindern.
       
 (DIR) Autorin über den Êzîden-Genozid 2014: „Vor den Augen der ganzen Welt“
       
       Ronya Othmann versuchte, die Wahrheit über Genozid an den Êzîden im Irak
       2014 herauszufinden. Aus ihrer Recherche entstand der Roman
       „Vierundsiebzig“.
       
 (DIR) Alkoholverkaufsverbot im Irak: Ansturm auf den letzten Tropfen
       
       Das irakische Parlament will Alkoholverkauf auch nach dem Ramadan
       verbieten. Das richtet sich vor allem gegen Christen und Jesiden. Ein
       Ortsbesuch.
       
 (DIR) Jesiden aus dem Nordirak: Die vergessenen Väter
       
       Nach dem Überfall des IS 2014 ermöglichte Baden-Württemberg 1.100
       Jesidinnen, nach Deutschland zu kommen. Einige warten noch immer auf ihre
       Partner.
       
 (DIR) Kurdische Jesid:Innen: Sie brauchen unsere Solidarität
       
       Die vom IS an den kurdischen Jesid:innen verübten Verbrechen müssen als
       Völkermord international anerkannt werden. Deutschland sollte dabei helfen.