# taz.de -- Bildungsmisere in Deutschland: Wo bleibt der Wumms?
       
       > Die Schulen könnten nach dem jüngsten Pisa-Schock wieder mal den Notstand
       > beschreiben. Oder endlich ein Zeichen setzen und den Laden schließen.
       
 (IMG) Bild: Schule sollte mehr vermitteln als die Fähigkeit, Dollar in Euros umzurechnen
       
       Alle Jahre wieder wird die Bildungskatastrophe entdeckt, beschworen – und
       wieder vergessen. Von Jahr zu Jahr wird es schlimmer. [1][Dieses Mal
       besonders schlimm]. Die Pisa-Ergebnisse, schlechter noch als die von 2001,
       werden wie alle Jahre wieder mit einschlägigen Zahlen über funktionalen
       Analphabetismus, die horrende Zahl der fehlenden und teilzeitbeschäftigten
       Lehrer und die endemische Unfähigkeit, Dollar in Euro umzurechnen,
       garniert. Und alle Jahre wieder kann man auf den hinteren Seiten der
       Qualitätspresse lesen, dass wir eine „neue Vision davon, was die Schule
       überhaupt ist“, brauchen. Diesmal [2][plädiert der Bildungssoziologe Aladin
       El-Mafaalani], wieder einmal, für eine Ganztagsschule, die in der Lage ist,
       „Familienersatz“ zu sein. Nicht nur, weil viele Familien es nicht
       schaffen, ihren Kinder beim Lernen zu helfen, sondern auch zunehmend unter
       „Erziehungsschwäche“ leiden, beim Vermitteln von Normen, Weltkenntnis,
       sozialen Kompetenzen, Motivation und Umgangsformen versagen.
       
       Der Gedanke ist nicht neu. Schon in den fünfziger Jahren plädierte der eher
       konservative Soziologe Helmut Schelsky für eine Schule, die nicht nur
       Wissen vermittelt, sondern „erzieht“ – eine Horrorvorstellung für
       Antiautoritäre wie für Besitzstandskonservative. Wenn die Großfamilie
       zerfalle und die Religiosität verblasse, müsse die Schule zur „Neben- und
       Parallel-Organisation des Elternhauses“, ja zu einer „Gegenstruktur“
       werden: gegen den Realitätsverlust durch Arbeitsteilung und Medien ein
       Bewusstsein für die Komplexität der Gesellschaft vermitteln, ja gegen den
       „Konsumterror“ die Kräfte der Selbstbestimmung stärken.
       
       Lange vor Markenwahn und Tiktok entwarf Schelsky die Skizze einer Schule,
       die sehr viel intensiver mit den Elternhäusern kooperiert ebenso wie mit
       den Betrieben der Gemeinde, und das in einer damals noch ethnisch relativ
       homogenen Nation mit ansteigendem Wachstum und halbwegs konturierten
       politischen Parteien und Gewerkschaften. Umso dringlicher wird diese Idee
       heute: in einer mit Wachstumsschwäche und Klimawandel konfrontierten
       Gesellschaft, in der es statt um Konsumsteigerung darum geht, Bestände neu
       zu verteilen, in der technologische Umwälzungen tief in das Leben der
       Einzelnen eingreifen, alle Welt nach Zusammenhalt ruft und der Anteil der
       15-Jährigen mit Migrationsfamilie seit 2000 von 22 auf 39 Prozent
       gestiegen ist.
       
       ## Es geht um mehr als Chancengleichheit
       
       Dazu kommt noch, als neueste Aufgabe, die Forderung an die Schule,
       Wahrheitsinstitution zu sein in einer Medienwelt, die Jugendliche mit
       [3][Fake News], Deepfakes, ungedeckten Behauptungen und Grobianismen,
       Irrationalität und den schrillen Lockungen von Influencern überschwemmt, in
       der die Rhythmen von Tiktok die Aufmerksamkeitsfähigkeit angreifen.
       
       Bei alldem geht es um mehr als „nur“ um Chancengleichheit und endemische
       Verdummungsgefahr. In England schlug gerade die oberste Bildungsinspektorin
       des Landes Alarm. Nach Corona und der Phase des Homeschoolings sei der
       Schulbesuch in vielen gesellschaftlichen Milieus nicht mehr
       selbstverständlich und zwingend. Es sei eingerissen, dass Kinder zu Hause
       bleiben, wie und wann es ihnen oder den Eltern passt, Influencer würden
       gegen Lehrer ausgespielt, Eltern auf Hinweise der Lehrer aggressiv
       reagieren.
       
       Eine Folge davon sei, dass es in prekären Milieus keine gesellschaftliche
       Instanz mehr gibt, um die herum die Tagesroutinen von Erwachsenen und
       Kindern organisiert sind. Prekär seien allerdings auch
       Mittelschichtseltern, die ihre Kurzreisen frei gestalten wollen.
       
       ## Recht auf Mindeststandard von Bildungsangeboten
       
       Wenn die öffentliche Schule nicht mehr als zentrale Institution der
       Gesellschaft anerkannt werde, entstehen Lücken im sozialen Gewebe, in die
       hinein dann bestenfalls die telematische Bildungsindustrie,
       schlimmstenfalls die populistische Presse einrücken kann. Gleichzeitig zu
       den Pisa-Brandmeldungen lese ich denn auch, dass gerade Millionen an
       Venture-Kapital in Plattformen investiert werden, auf denen unterbezahlte
       und scheinbeschäftigte Lehrkräfte Nachhilfe geben und Motivation
       vermitteln, mit Gewinnspannen für die Plattformbetreiber, die in keiner
       Industrie mehr zu erzielen sind, zu Preisen, die sich allenfalls die
       Mittelschicht leisten kann – und dass Bild und Chat-GPT demnächst
       kooperieren werden.
       
       Unser Verfassungsgericht hat vor zwei Jahren ein neues Recht proklamiert:
       auf den „unverzichtbaren Mindeststandard von Bildungsangeboten“, welcher
       die „Entwicklung der Kinder und Jugendlichen zu Persönlichkeiten
       ermöglicht, die ihre Fähigkeiten und Begabungen entfalten und
       selbstbestimmt an der Gesellschaft teilhaben können“. Das Urteil blieb ohne
       größere Resonanz.
       
       „Die wiederholte Feststellung des Bildungsnotstands erzeugt nicht mehr
       Druck, sondern mehr Gewöhnung.“ Schreibt der ehemalige
       Bildungs-Staatssekretär Mark Rackles, und weiter: „Ein „Notstand“ ist ein
       juristischer Begriff und ein Rechtfertigungsgrund. (…)
       
       ## Zeit für zivilen Ungehorsam
       
       Wenn die Politik auf den Bildungsnotstand und den anhaltenden Protest der
       Zivilgesellschaft nicht reagiert, dann kann es Zeit für neue Formen des
       zivilen Ungehorsams sein. Wenn eine Schule ihrem grundgesetzlichen Auftrag
       nicht mehr nachkommen kann, dann kann sie zum wiederholten Male [4][den
       Notstand beschreiben]. Sie könnte aber auch ein Zeichen setzen und den
       Laden schließen.“
       
       Ein wochenlanger Streik der Lehrer für einen Bildungswumms,
       Montagsdemonstrationen vor Kultusministerien, Flashmobs von Eltern in
       Schulen – man könnte sich da vieles denken. Dass mir so etwas so
       unwahrscheinlich vorkommt wie das Erreichen der Klimaziele, und dass man
       sich mit solch flammenden Appellen eher zum Gespött zu machen fürchtet –
       das verweist mich auf die furchtbare Erkenntnis, dass es ohne Zusammenbruch
       noch nie einen Systemwechsel gegeben hat.
       
       20 Dec 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Pisa-Schock-fuer-deutsche-Schuelerinnen/!5974146
 (DIR) [2] https://www.zeit.de/2023/53/integration-schulen-aladin-el-mafaalani-pisa-studie
 (DIR) [3] https://www.derstandard.at/story/3000000199676/unser-verstand-ist-die-beste-waffe-gegen-fake-news-auf-social-media
 (DIR) [4] /Ex-Lehrer-zum-Umgang-mit-der-Pisa-Studie/!5976170
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Mathias Greffrath
       
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