# taz.de -- Schönheitsoperation in Deutschland: Gebt mir ein A
       
       > Unsere Autorin möchte ihre schweren Brüste gegen winzige eintauschen.
       > Aber sollte sie als Feministin ihren Körper nicht lieben, wie er ist?
       
       Am Morgen der Erstkonsultation. Du rasierst deine Achseln. Hast es die
       ganzen Wintermonate über nicht getan. Tust es jetzt, weil ein Freilegen des
       Brachlands voll schießender Wildgräser vor der eleganten Ärztin dir
       unvorstellbar ist. Du bist 34 Jahre alt, du arbeitest als wissenschaftliche
       Mitarbeiterin an einer Universität und hast kein Problem mit weiblicher
       Identität oder jedenfalls kein Interesse, mit der Ärztin ein Gespräch
       darüber zu beginnen. Deine größte Angst: dass sie dich für
       grundunsympathisch und gender-verwirrt und einen Hippie-Hipster aus der
       Großstadt hält, und dass sie dich darum nicht sauber operiert.
       
       Es ist unfair, dass du so denkst und vorurteilsbehaftet, aber dies ist
       Bayern. Du ziehst dir eine Bluse an. Sie sind sich sicher, dass Sie eine
       Frau sein wollen? Hatte die Therapeutin vor nicht langer Zeit gefragt, auch
       dies in Bayern. Es ist das erste Mal, dass dich jemand so direkt danach
       fragt, wer du sein willst.
       
       Draußen stürmt es wie so oft im Januar 2023. Drinnen im Wartezimmer der
       Praxis für Ästhetische und Plastische Chirurgie sieht es nicht anders aus
       als in den Wartezimmern dieser Welt. Pflanzen, die sich in trockener Erde
       festkrallen. Magazine und Comichefte sollen beim Warten helfen und machen
       nur ungeduldiger. Warum nicht eine Discokugel aufhängen, die ihre
       Spiegelparty an die Wände wirft? Wie wäre es mit einer Ecke, in der man Tee
       zubereiten könnte? Einer Lazy Sunday Jazz-Playlist, die gemütlich schnurrt.
       
       Deine Ärztin ist vielleicht fünfzig und schön auf altmodische Art. Gehört
       es sich so für eine plastische Chirurgin? Es sind ihre Seidenstrümpfe in
       creme-weiß, die in goldenen Pumps stecken, ihre gewählte Sprache mit dem
       osteuropäischen Akzent, an die du noch lange denken wirst. Warum du diese
       Seidenstrumpf-Pumps-Kombination als tröstlich empfindest, die
       Selbstsicherheit der Ärztin in ihrer konformen Ästhetik? Vielleicht, weil
       auch du hier bist, um eine Form zu finden. Selbst wenn Termine frei gewesen
       wären bei ihrem Chef, dem Top Dog mit weißen Loafers und Segelyachtlächeln:
       Deine Brüste soll dir nur diese Frau entfernen.
       
       Aber nun schaffst du es nicht, ihr zu sagen, dass du deine schweren Brüste
       gegen winzige eintauschen möchtest. Statt E Körbchen A, was eigentlich kein
       Körbchen ist, allenfalls der Hohlraum eines Eierbechers. Kleiner, viel
       kleiner, wenn es geht, sagst du, und sie sagt, wir schaffen B, das passe
       auch besser zu deinen 1,82. Dann zeichnet sie auf einem Papier deine neuen
       Brüste auf. Kreise dort, wo die Mamillen, die Brustwarzen, aufgeschnitten,
       aufgeklappt und im Anschluss einige Zentimeter nach oben verrückt werden.
       Einen langen T-förmigen Schnitt im rechten Winkel hinunter zum
       Unterbrustgewebe, dort wo überschüssiges Gewebe entfernt werden wird. Die
       Ärztin ist der erste Mensch, der deine Brüste so ansieht und berührt.
       Professionell, der Umstrukturierung des Rohmaterials verpflichtet.
       
       Als du noch keine Brüste hattet, wolltest du unbedingt welche. Mit 9, mit
       10, mit 11 Jahren fragtest du deine Mutter, wann, oh wann, die tektonische
       Plattenverschiebung beginnen würde. Abends vor dem Einschlafen schautest du
       hinunter, die Hände zu einer frommen Kathedrale geformt. Bitte Gott, mach,
       dass die Brüste kommen. Wie überzeugt du davon gewesen bist, dass Gott, ein
       Mann undeutbaren Alters in weißem Gewand, dein Brustwachstum zur Chefsache
       erklären würde, wenn man ihn nur genug anbetete.
       
       Auf dem Campingplatz in der französischen Schweiz, auf den du als Kind
       jedes Jahr mit deiner Familie fuhrst, hatte jemand einen roten Sport-BH auf
       dem Volleyballplatz verloren. Dort lag er und nie hattest du etwas
       Schöneres gesehen. Natürlich nahmst du ihn mit. Nach dem Anziehen fühltest
       du den negativen Raum, die schrecklichen Lücken. Aber deine Brüste würden
       jeden Tag wachsen, und du wolltest vorbereitet sein. Vögel bauen ihr Nest,
       bevor sie Eier legen. Du bautest gleich zwei und hängtest ein Schild in den
       Ast: Herzlich Willkommen.
       
       Am Computer öffnet die Ärztin ein PDF mit Vorher/Nachher-Bildern. Es ist
       der zweite Termin bei ihr, wenige Wochen später. Zehn Paar riesige Organe
       von halbkugeliger Form auf dem Bildschirm und du traust dich kaum
       hinzusehen, als würdest du etwas Verbotenes tun. Wie schwer die Frauen
       getragen haben müssen. Du siehst es an den Bildern, die Brüste drücken sie
       nieder. Gebeugte Schultern, eingefallene Brustbeine. Nachher sind ihre
       Brüste klein und rund und unauffällig und du findest selbst die Narben
       schön. Du möchtest die Frauen so vieles fragen. Wie fühlen Sie sich heute?
       Wie haben Sie diesen Schritt Ihrem Partner oder Ihrer Partnerin erklärt?
       Haben Sie es Ihren Eltern gesagt? Fühlen Sie sich schuldig, dass Sie Ihr
       Geld für eine Brustverkleinerung anstatt für lebensnotwendige Dinge
       ausgegeben haben?
       
       Dein halbes Leben schon hast du den Wunsch nach kleinen Brüsten. Mit 17,
       18, als das Bedürfnis schrecklich dringlich war, fehlten die finanziellen
       Mittel; mit Mitte 20 entdecktest du einen Feminismus für dich, der so, wie
       du ihn auslegtest, vielleicht ein Fitnessstudio erlaubte, [1][aber
       keinesfalls Herumschneiden am Körper]. Wie oft du die immer gleiche innere
       Debatte geführt hast.
       
       Auftaktrede: Du sollst deinen Körper lieben, wie er ist. Nur das ist wahre
       Fürsorge. Nur das ist der Mittelfinger gegen das Patriarchat. Nur so ändert
       sich vielleicht etwas.
       
       Die Gegenrede, die immer lauter wurde mit den Jahren: Wenn die Welt Brüste
       zu fetischisierten Objekten macht – der Begierde, des Spotts, der
       Sanktionierung – musst du sie nicht wollen. Musst sie nicht mehr festhalten
       müssen, wenn du zum Bus rennst. Musst nicht mehr frühmorgens im Wald
       joggen, weil dann noch niemand unterwegs ist, der starren kann auf das, was
       sich trotz drei übereinander gezogenen BHs bewegt. Nie mehr soll jemand zu
       deinen Brüsten sprechen, statt dir ins Gesicht zu sehen.
       
       Wie es wäre, fragtest du dich, dich zu entkleiden vor jemandem, den du
       liebst, ohne dabei in Angst zu geraten. Es ging dir nicht darum, schöner zu
       werden. Du wolltest dich nur endlich normal fühlen, nicht immer so
       schrecklich nackt und ausgeliefert.
       
       Kathy Davis, einzige feministische Theoretikerin auf dem Gebiet der
       Ästhetischen Chirurgie, schreibt, dass der Konsens feministischer Stimmen
       Schönheitsoperationen als extreme Form medizinischer Misogynie einordne
       (ihre Studie [2][„Reshaping the Female Body: The Dilemma of Cosmetic
       Surgery“] liegt knapp 30 Jahre zurück). Dieser Konsens besage, dass
       Schönheitsoperationen das Bild des defizitären weiblichen Körpers
       reproduzierten. Eine selbstbewusste Wahl für oder gegen einen Eingriff zu
       treffen, sei demnach im Patriarchat nicht möglich.
       
       Für die Frauen wiederum, mit denen Davis für ihre Untersuchung sprach,
       stand die Operation oft am Ende einer jahrelangen Anstrengung, in ihrem
       Körper zu Hause zu sein, sich als Subjekt mit Körper wahrzunehmen statt als
       objektisierten Körper. Darüber hinaus bestätigten die Frauen, die
       Operationen für sich vornehmen zu lassen, nicht aufgrund äußeren Drucks aus
       ihrem Umfeld. Warum gelten uns diese Entscheidungen nicht als
       selbstbewusster Weg, in einer noch immer von patriarchalen Strukturen
       durchwebten Gesellschaft einigermaßen gut zu leben, fragt Davis am Schluss.
       Denn wenn wir Schönheitsoperationen nicht auch als selbstbestimmt
       anerkennen, ist jede Frau automatisch Opfer.
       
       Du willst kein Opfer sein, brauchst aber die Feministinnen auf deiner
       Seite. Deshalb musst du jedoch den Wunsch junger Mädchen nicht gutheißen,
       die sich einer Schamlippenkorrektur unterziehen wollen, weil der Freund da
       unten alles eklig findet.
       
       Conclusio einer bereits dein halbes Leben geführten Debatte: Eine
       Schönheitsoperation muss als Ultima Ratio der Selbstfürsorge gelten können.
       Deine Ärztin hat keinen Fragebogen, auf dem sie Feministin ja/nein
       ankreuzen könnte. Sie schaut nicht auf deine Brüste und sagt: So groß sind
       sie gar nicht, probieren Sie es doch mit Yoga.
       
       Inmitten des Gesprächs klingelt das Handy. Ihre Tochter ruft an, sie ist
       allein zu Hause und krank. Viel trinken musst du. Auf dem Küchentisch steht
       die Medizin und Papa kommt um 12 nach Hause. Deine Ärztin ist also Mutter.
       Du weißt nicht warum, aber das macht alles besser. Sie entschuldigt sich,
       malt weiter auf dem Papier deine perfekten Brüste auf.
       
       Und so viel wird es kosten. 6.500 Euro. Der Preis beinhaltet
       Konsultationen, Operation, Übernachtung in der Klinik, die Nachsorge, den
       medizinischen BH. Es wird sowieso eine Privatzahlung sein, so wie heute die
       meisten der jährlich [3][30.000 Brustverkleinerungen]. Früher
       [4][übernahmen die Krankenkassen] in den allermeisten Fällen eine
       Brustverkleinerung, heute geschieht das [5][nur noch sehr selten], selbst
       wenn ein Zusammenhang zwischen orthopädischen Beschwerden und dem
       Brustumfang erkannt wird. Natürlich sind 6.500 Euro zu viel Geld. Aber du
       hast ein bisschen was von deinen Großeltern geerbt. Erst dadurch ist die
       Operation nach jahrelangen theoretischen Überlegungen überhaupt in den
       Bereich des Möglichen gerückt. Was deine Großmutter sagen würde, wüsste
       sie, wozu ihr Erbe eingesetzt wird?
       
       Zu Hause am Küchentisch, du vergleichst Preise. In Berlin kostet die
       Operation um die 1.000 Euro weniger, aber du kannst für die Nachsorge nicht
       wöchentlich dorthin fahren. Was du kannst: die bayerische Provinzstadt, in
       der du lebst, verfluchen. Und so geht deine Kalkulation: Für den Preis der
       Operation könntest du 433,333 Bücher für 15 Euro kaufen. Die Dinge
       gegenüber dem Wert von Büchern zu bemessen, ist ein alter Trick, neben der
       Natur gibt es kaum etwas, das du so liebst wie die Literatur.
       
       Sind neue Brüste mehr wert als all die Bücher? Aber auch: Würden 433,333
       zusätzliche Bücher in dein Apartment passen? Würden sie nicht.
       
       Auf Antwortsuche in der Literatur fragst du dich, warum es kaum Bücher über
       Brüste gibt. Also nicht über Brustkrebs. Nicht Stillratgeber. Keine
       Pornografie. Sondern Bücher über [6][die Kulturgeschichte der menschlichen
       Brust]. Über Brüste, die Kunst erschaffen. Ja, Louise Bourgeois, Künstlerin
       mit Brustfetisch. Ja, Femen, die Oben-ohne-Aktivistinnen aus der Ukraine.
       Und sonst? Ausgerechnet im schrulligen Buchladen einer amerikanischen
       Kleinstadt in Washington State, wo du ein halbes Jahr lang an der
       Universität arbeitest, findest du einen Regalmeter voller Brüste. Florence
       Williams’ [7][„Breasts: A Natural and Unnatural History“] und Marilyn
       Yaloms [8][„A History of the Breast“] gefallen dir, der Rest handelt wieder
       davon, wie frau sich vom Brustkrebs gesundessen kann (Brokkoli, roh!) und
       wie richtiges Stillen geht.
       
       Obwohl du sie bedingungslos wolltest, kamen deine Brüste spät. Lange
       tanztest du so viel Ballett, dass dein Körper kein Kapital für sekundäre
       Geschlechtsmarker erübrigen konnte, nicht mal für die Regelblutung. Dafür
       schafftest du es, mit dem Hinterkopf deine Kniekehlen zu berühren. Mit 17
       hattest du es plötzlich mit zwei aktivierten Vulkanen zu tun. Es tat weh,
       dein Körper war plötzlich laut wie jemand, der in der Fußgängerzone
       ausrastet, um sich schlägt und schreit. Männer an der Ampel starrten,
       Jungen in der Schule starrten. Die Mädchen auch, neidvoll und giftig.
       
       Wenn du an diese Zeit zurückdenkst, fragst du dich, ob du dir nicht
       mindestens die Hälfte all dieser Blicke eingebildet hast. Du magst das Wort
       gefühlt nicht, wenn es gebraucht wird, um Erfahrungen zu relativieren, aber
       hier ist es angebracht. Gefühlt starrte die ganze Welt immerzu auf deine
       explodierten Brüste. Du musstest sie verstecken, abbinden und dich nicht
       mehr so viel bewegen. Flacher atmen, weniger sein.
       
       Traum aus dieser Zeit: Mit einer großen Gartenschere, einer solchen zum
       Heckentrimmen, schneidest du dir die Brüste ab. Du gehst sehr gründlich vor
       und trägst Hautschicht für Hautschicht ab. Kein Schmerz und alles ist
       voller Blut.
       
       Du entschiedst, zu einer Therapeutin zu gehen. Sie ist Psychoanalytikerin
       für Kinder und Jugendliche, und du bist 20 Jahre alt und eigentlich kein
       Kind mehr. In der Praxis ist alles voller Spielsachen und auf dem Sofa
       stoßen dir Knie und Kinn beinahe zusammen. Du sitzt auf dem Zwergen-Sofa,
       weil du deine Form schrumpfen willst, damit du in dein Leben passt. Ein
       Leben, das irgendwie außerhalb von dir selbst stattfindet. Zum Abschied
       sagt die Therapeutin, sie habe viel von dir lernen können. Darüber, was es
       bedeutet, heute eine junge Frau zu sein. Du hättest auch gerne gewusst, was
       es bedeutet, heute eine junge Frau zu sein. Wie die Therapeutin es von dir
       lernen konnte, ist dir schleierhaft. Immerhin aber hast du begriffen, dass
       es gut ist, hin und wieder zu essen.
       
       Der Heckenscheren-Traum kommt noch einige Male wieder. Dein halbes Leben
       lebst du mit diesen Brüsten, und noch immer trägst du zu schwer an dir
       selbst. Ist all das Leiden real? Keine Brüste. Zu viel Brüste.
       
       Was machen sie im Krankenhaus eigentlich mit all dem Gewebeabfall? Es muss
       eine spezielle Müllsortieranlage geben. Wo stehen diese Mülltonnen, und wie
       oft und von wem werden sie geleert? Riecht es dort oder verdeckt eine
       Chemiekeule alles? Ob deine Brüste auch in der Tonne liegen werden? Mit all
       den anderen abgefeilten und abgesaugten und abgestoßenen und unbrauchbaren
       und ungeliebten und verleugneten Teilen, die einmal zu uns gehörten, die
       wir einmal waren?
       
       Die goldenen Zwanziger verbrachtest du auf dem Crosstrainer mit dem
       Versuch, die Brüste abzutrainieren. Selbst schuld, manche Geschwüre züchtet
       man selbst, nichts hattest du einmal sehnlicher gewollt. Mal schwitztest du
       auf Texte aus den Literaturtheorie-Seminaren, die du an der Universität
       besuchst. Ein bisschen horny, die Ränder gewellt von zu vielen
       Markierungen. Körperliches Schrumpfen bei geistigem Wachstum. An anderen
       Tagen breitetest du vor dir auf dem Hometrainer die Gala aus, die
       Prominente in unvorteilhaften Posen zeigte. Schwabbel nach Schwangerschaft
       vor und nach der Brustvergrößerung schaut euch ihre Lippen an der Beauty
       Doc hat es vermasselt hat sie wieder zugenommen sie ist viel zu dünn wir
       machen uns Sorgen ertrunken in der Badewanne Nippelgate bei der
       Oscarverleihung.
       
       Die amerikanische Autorin Melissa Febos, die sich auf autofiktionales
       Schreiben konzentriert, [9][schrieb im Mai 2022] in der New York Times
       über ihre Brustreduktion, inklusive Foto im Unterhemd. Als prominente
       Feministin hat sie dir damit gewissermaßen die Absolution erteilt.
       
       Du hängst damals einen Zettel an die Wand, er soll dich zum Sparen
       animieren:
       
       Buy Boobs, not Books 
       
       Die Brustverkleinerung heißt im Fachjargon Mammareduktionsplastik.
       Natürlich Mamma, natürlich Mutter. Als könntest du mit den Brüsten auch
       gleich die Mutter loswerden. Die Mutter in dir, die Verpflichtung zum
       Muttern, die Vorstellungen deiner Mutter von dir als ebensolche. Für viele
       Frauen mag es da keinen Zusammenhang geben. Für dich schon. Beide
       Entscheidungen, deine Brüste verkleinern zu lassen und keine Mutter werden
       zu wollen, fallen in denselben Zeitraum. Als deine Ärztin warnt, dass
       Stillen nach dem Eingriff schwierig werden könnte, zuckst du mit den
       Achseln.
       
       Du selbst suchst eigentlich dein ganzes Leben lang immerzu nach Müttern,
       fühltest dich als Kind magnetisch angezogen von älteren Frauen und konntest
       es gar nicht erwarten, eine weise Frau mit langem grauem Zopf zu werden.
       Die amerikanische Schriftstellerin Maggie Nelson nennt diese
       Übermutterfiguren ihre „many-gendered mothers of the heart“. Und
       tatsächlich müssen es nicht immer Frauen sein, die diese Funktion erfüllen.
       Doch deine Mütter der Literatur, der Musik und Philosophie, der
       Psychoanalyse und Kunst waren und sind sehr häufig Frauen, die sich auch
       als solche identifizieren.
       
       Überall siehst du die Mutter, wo vielleicht sonst niemand eine sieht. Der
       Gedanke jedoch, selbst Mutter in einem herkömmlichen, biologischen Sinn zu
       werden, bereitet dir immense Schwierigkeiten. Jahrelang denkst du, dein
       Wunsch nach einem kinderlosen Leben sei präventive Schadensbegrenzung. Dir
       die Verantwortung zu übertragen, jemanden am Leben zu halten. Das erscheint
       dir grob fahrlässig. Du wärst eine dieser Mütter, die irgendwann nicht mehr
       heimkommt, zur Krippe, zum Kind.
       
       Die Urgroßmutter, nach der du benannt bist, bekam neun Kinder, von denen
       sieben überlebten. Kinder waren einfach da, wie das Wetter auch. Die
       unzähligen Fehlgeburten, der Moment, wenn das Unterkleid voller Blut war
       oder beim Waschen etwas in die Schüssel fiel. Ob sie je gefragt wurde, was
       sie sich wünschte vom Leben, wovon sie träumte? Ihr Mann wollte Dinge und
       nahm sich, was ihm laut Ehevertrag zustand. Sprach von den Kindern als
       Ware. Kinder, die lebten, um in der Bäckerei zu arbeiten. Kornsäcke in den
       Schlund der Mühle wuchten. Viele kleine Lungen voller Mehlstaub. Viele
       kleine Hände, die schwere Teige formen. Verhütung? Nicht in den 1930er
       Jahren im kleinen Schwarzwalddorf.
       
       Deine Urgroßmutter weinte, als sie dich das erste Mal hielt, es wurde dir
       so erzählt. Sie war eine alte Frau und weinte, als hätte sie ihr ganzes
       Leben darauf gewartet, noch einmal ein Baby zu halten. Du denkst an sie in
       seltsamen Momenten. Wenn du zur Arbeit fährst oder die Kreditkarte an das
       Lesegerät hältst. Das Geld auf deinem Konto erhältst du für ein extrem
       unproduktives Leben. Bezahlt wirst du von einer Universität dafür, dass du
       über Literatur nachdenkst, schreibst und ab und zu mit Studierenden
       sprichst. Hätten andere Frauen deiner Familie auch lieber Bücher
       geschrieben als zu gebären, wären auch gerne reproduktiv unproduktiv
       gewesen?
       
       Deine Ärztin trägt beim nächsten Termin wieder ihre Seidenstrümpfe und
       goldenen Pumps. Fragt, wie die Brüste aussehen sollen. Du zeigst auf den
       Aufklärungsflyer zur Mammareduktionsplastik. Auf dem Cover entsteigt
       Bouguereaus’ berühmte Venus ihrer Muschel. Sie kämmt ihr bodenlanges Haar
       und hat die schönsten Kieselstein-Brüste, die du je gesehen hast. Zu klein,
       sagt die Ärztin. Schaffe sie nicht. Du schaust dich im Zimmer um, das keine
       Orientierung bietet, bis dein Blick auf die Brüste deiner Ärztin fällt. Sie
       zeichnen sich unscheinbar ab unter ihrem weißen Kittel. Ich hätte gerne
       Ihre Brüste. Sagst du und bist erstaunt, dass der Satz wirklich aus deinem
       Mund kommt. Die Ärztin zuckt kein bisschen und streicht danach immer wieder
       über ihre Brust, um die Form nachzuzeichnen. Dir zu zeigen, wie sie zwei
       kleine Tropfen formen wird, die ihren ähneln. Kleine Tropfen, sagt sie, die
       schönsten zwei Worte der Welt.
       
       Sie ist viel kleiner als du, deine Ärztin. Aber wegen der Fürsorge in ihrem
       Blick willst du sie umarmen, willst von ihr umarmt werden, an ihre kleinen
       Körbchen gedrückt werden. Sagen soll sie, dass du schön sein wirst, dass
       alles gut werden wird. Sie wirkt wie eine Mutter, die alles unter Kontrolle
       hat. Brustverkleinerung, Bauchfettabsaugen und ein Facelift vor dem
       Mittagessen, am späten Nachmittag der Tochter bei den Hausaufgaben helfen.
       
       Die Frauen deiner Familie haben sich, so kommt es dir vor, nicht bewusst
       für oder gegen Kinder entschieden. Absolutes Wunschkind seist du gewesen,
       sagt dir deine Mutter. Doch niemand hat dir als Kind gesagt, dass keine
       Kinder bekommen eine schöne, eine gute Form zu leben sei. Dass Frauen nicht
       muttern müssen.
       
       Deine eigene Mutter. In einem anderen Leben siehst du sie vor dir als
       Gewerkschaftsvorsitzende oder Anwältin. Immerzu klingelt das Telefon. Wenn
       sie abends nach Hause kommt, ihren Trolley mit Akten hinter sich
       herziehend, hast du sie schrecklich vermisst. Sie küsst dich und du drückst
       deinen Kopf ins Kissen. Dort hinein, wo ihr Parfüm hängen bleibt, nachdem
       sie wieder aus dem Zimmer gehuscht ist, zurück zu ihren Arbeitskämpfen und
       Streikplänen, den abendlichen Strategiesitzungen. Hatte deine Mutter, die
       echte, je darüber nachgedacht, keine Kinder zu bekommen? Darüber, nicht nur
       hinzuzuverdienen und jeden Mittag in der Küche zu stehen und gesundes Essen
       zu kochen. Quinoa-Bratlinge und Salat für Kinder, die schreiend nach
       Spaghetti verlangten.
       
       In einem Biergarten, in der grünen Welt der frisch ausgetriebenen
       Kastanien, fragst du sie. Sie besucht dich in deinem Erwachsenenleben. Du
       lebst mit dir selbst allein, du bist glücklich und manchmal einsam. Mama,
       hast du je überlegt, keine Kinder zu wollen? Ihr Gesicht fällt ihr
       herunter. Vielleicht habe sie es besser machen wollen als ihre Eltern. Es
       waren Dinge wiedergutzumachen, sagt sie. Nie. Nie. Im Biergarten fließen
       Tränen. Sie kann nicht verstehen, dass man lieber einsam ist als Kinder zu
       bekommen. Lieber Hausarbeiten korrigiert und schreibt, als zu Elternabenden
       zu gehen und Gemüse in Pastasaucen zu schleusen. Bist du stolz darauf,
       keine Kinder zu wollen? [10][Du wirst es bereuen], deine Mutter weiß es. In
       40 Jahren, wenn du in einem Altersheim liegend von Robotern versorgt werden
       wirst, wird niemand dich besuchen kommen. Wer weiß es schon, vielleicht
       behält deine Mutter recht.
       
       Und trotzdem willst du lieber ein Kunstmonster werden, wie die Erzählerin
       in Jenny Offills „Amt für Mutmaßungen“: „Ich hatte beschlossen, nie zu
       heiraten. Stattdessen wollte ich ein Kunstegomane werden. Frauen werden so
       etwas fast nie, weil solche Ungeheuer sich nur mit Kunst beschäftigen und
       nicht mit Alltagsdingen. Nabokov hat nicht einmal seinen Regenschirm
       zugemacht. Vera hat für ihn die Briefmarken geleckt.“ Ein literarisches
       Genie sein und die Erwartungen der Welt so wuchtig auf einem lasten zu
       fühlen muss so beschwerlich gewesen sein für Vladimir, dass er schlicht
       keine Kapazitäten hatte für weltliche Belange. Spucke im Mund sammeln etwa.
       
       Kinder kriegen und erziehen, das sei für die meisten Menschen der
       kreativste Akt ihres Lebens, denkt eine Freundin, die Künstlerin und Mutter
       ist und mit dieser Doppelrolle hadert. Im Idealfall würden die Menschen
       nirgends mehr über sich hinauswachsen als im Umgang mit Kindern. Aber Kunst
       braucht all das, was Kinder auch brauchen. Will auch geboren und versorgt
       werden und lernen und die Welt entdecken. Manche Eltern, manche Frauen,
       schaffen beides. Du weißt, dass du nicht zu ihnen gehörst.
       
       Du leckst keine Briefmarken für andere. Du bist die Hohepriesterin der
       Einsamkeit. Nichts als Wonne beim Erwachen im Bett, allein. Gregorianische
       Choräle und Herunterstürzen von zwei Kaffees. Lesen, Schreiben. Einsamkeit,
       manche Etymologien sind so charmant. Einsam: einig, einträchtig, einzeln.
       Mit sich selbst einig sein. In Norddeutschland gibt es einen Ort namens
       Solitüde und in Schweden einen, der Ensamheten heißt. Woher kommst du? Du
       kommst aus Solitüde. Ort der kalten Betten und Wärmflaschen, die man
       umarmen muss. In denen sich die Tage ausbreiten vor dir und du nur
       aufzustehen brauchst aus dem Bett, um die Schallplatte zu drehen. Auf den
       Knien Bücher über Künstlerinnen der Einsamkeit, Polarforscherinnen, die
       endlich allein sein wollten. In Nachthemden der Großmutter durch die
       Wohnung wandern, Buchrücken streicheln. In Solitüde gibt es einen Markt,
       und du kennst die Bauern bei ihren Vornamen. Manchmal werden Fragen
       gestellt von Menschen, die von außerhalb kommen. Du hast oft zu erklären
       versucht, dass deine Lebensweise keine Kritik all der anderen ist. Dass du
       andere Menschen brauchst. Alleinsein im Schaffen, in der Kunst, nicht aber
       doch immerzu. Aber gehen können willst du immer.
       
       Ganz früh stehst du auf, leise, um deine Freundin nicht zu wecken. Sie ist
       mit dem Zug gekommen, um dich zur Operation zu begleiten und wieder
       abzuholen. Älteste Schulfreundin, auch eine deiner „many-gendered mothers“.
       Du trinkst einen letzten Kaffee. Stellst dir vor, wie der Schmerz sich
       anfühlen wird. Aller Schmerz kann Ritual sein und umgekehrt. Heilung hat
       viele Gesichter. Am Abend zuvor hat die Freundin gefragt, ob sie sie noch
       einmal sehen dürfte, die großen Brüste. Selbst deiner ältesten Freundin
       hast du sie kaum je gezeigt. Du kommst aus der Dusche, ziehst deinen
       Morgenmantel an, denn um sich auszuziehen muss man angezogen sein. Mach den
       Vorhang zu, sagst du, und dann tänzelst du durchs Zimmer, öffnest langsam
       die Schleife des Mantels und ziehst unter viel Gekreische blank. Selbst
       jetzt keimt noch Panik in dir, obgleich die Brüste doch beinahe schon in
       der Tonne mit dem Gewebeabfall liegen.
       
       Morgens geht ihr zu Fuß und Hand in Hand im Schlafanzug die wenigen Minuten
       zur Klinik. Deine Freundin, weil sie sich gleich wieder hinlegen will, und
       du, weil du dich sowieso gleich ausziehst. Über Amazonen-Kriegerinnen heißt
       es, sie hätten sich die Brüste abgeschnitten, um bessere Bogenschützinnen
       zu werden. Der Mythos hält sich hartnäckig, die Forschung hat ihn
       widerlegt. Aber du denkst an die Kriegerinnen, als du dir das
       Krankenhaushemd überziehst, die Haube aufsetzt, dich in die
       Kompressionsstrümpfe zwängst.
       
       Wenn du heute, neun Monate nach der Operation, gefragt wirst, wie du dich
       mit deinen neuen Brüsten fühlst, gerätst du in Erklärungsnot. Einerseits:
       als hättest du sie schon immer gehabt. Andererseits: geradezu verliebt in
       sie und unbeschreiblich erleichtert. Nie hast du mehr Fürsorge aufgebracht
       für deinen Körper als in den Monaten nach der Operation, die vertikal und
       horizontal verlaufenden Narben massiert und mit Silikonpflastern beklebt.
       Heute trägst du nur noch selten BH. In der Sauna warst du trotzdem noch
       nicht. Ein wenig sind deine neuen Brüste wie ein kostbares Geschenk, das du
       gerade bekommen noch nicht mit aller Welt teilen möchtest. Sie sind so
       schön. Selbst die Narben sind es.
       
       7 Jan 2024
       
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