# taz.de -- Die Kunst von James Ensor aus Ostende: Seine Tochter ist das Licht
       
       > James Ensor kommentierte mit seiner bitterbösen Malerei die Gesellschaft
       > Belgiens um 1900. Zu seinem 75. Todesjahr wird er im Land groß gefeiert.
       
 (IMG) Bild: Eine Art Selbstporträt: James Ensor, „Der Skelettmaler“ (Het schilderend geraamte), 1896
       
       Dieser Rochen hat schon was. Gleitet nicht durch tiefe Wasser, sondern
       sitzt da und guckt einen mit hängenden Mundwinkeln an; traurig und
       ermattet. Die Schwanzflosse, die zwischen seinen Beinen hervorbaumelt,
       wirkt wie ein erschlaffter Penis. Links daneben eine große Muschel,
       geöffnet, saftig und rosig-rot. „Vulva-Muschel“, raunt ein Betrachter. „Ja,
       das hat schon eine sexuelle Konnotation“, sagt Museumsführerin Christa. Und
       noch mehr: „Diese Muscheln dienten Seeleuten damals bei langer einsamer
       Zeit auf See, na, Sie wissen schon …“
       
       All das habe James Ensor (1860–1949), der Maler dieses kühnen Stilllebens
       aus Rochen, Muschel und dem Fischgetier dazwischen, sehr wohl gewusst.
       
       Wir sind im Ensor-Haus in Ostende, heute sein Museum. In einem kleinen Teil
       des Hauses hatte Ensors Mutter ein Krimskrams-Geschäft, frühe Souvenirs,
       besondere Muscheln, seltene asiatische Pretiosen. Das hat den kleinen James
       immens inspiriert.
       
       Ensor ist einer der ganz großen Maler Belgiens. Längst wird sein Name in
       einer Linie genannt mit [1][René Magritte], Paul Delvaux, dazu die großen
       Klassiker van Eyck, Vater und Sohn Breughel, Rubens. Ensor war einmalig
       böse, anarchisch und satirisch, Ende des 19. Jahrhunderts, als noch kaum
       jemand so offensichtlich tabulos den Pinsel einsetzte. In der
       Kunstgeschichte bekommt er die Etiketten [2][Symbolist,] früher
       Expressionist und Wegbereiter der Moderne. Die Museumsführerin nennt ihn
       schlicht „Generalist“. Denn: „Der konnte alles, wenn er wollte.“ Zu Ensors
       75. Todesjahr stehen 2024 in Belgien diverse Ausstellungen an.
       
       ## Ostende: Vom Fischerdorf zum Seebad mit Kolonialgold
       
       Bis in die 1870er Jahre war Ostende Garnisonsstadt, Fischerdorf. Dann ließ
       König Leopold II. den Ort mit seinem unermesslichen Reichtum aus der
       brutal ausgebeuteten Kolonie Kongo zum mondänen Seebad ausbauen:
       Prachtbauten, ein gigantischer Sommerpalast, die Pferderennbahn Hippodrom
       Wellington, riesiger Kursaal, allfälliger Luxus. Adel und Großbürgertum
       trafen sich in diesem „Nizza des Nordens“. Im Casino sang Caruso, Paul
       Delvaux hinterließ im Innern ein riesiges Fresko.
       
       Im Sommer 1936 trafen sich in Ostende viele Prominente auf der Flucht vor
       der Nazi-Barbarei: Die österreichischen Schriftsteller [3][Stefan Zweig]
       und Joseph Roth zum Beispiel. Im Schankraum des Restaurants Hotel Au Parc
       stehen heute Bilder der beiden beim Trinkgelage. Im Nobelort de Haan sitzt
       auf einer Parkbank eine lebensgroße Figur von Albert Einstein, der auch ein
       halbes Jahr an der belgischen Küste lebte, vor seiner Überfahrt nach
       Amerika. Ensor und Einstein haben sich getroffen, wie Fotos belegen.
       
       1889 sind auf Ensors Wimmelbild vom Ostender Strandleben zu sehen: vögelnde
       Hunde, zwei Menschen im innigen Zungenkuss zugetan, Bordellbetrieb
       inklusive Spanner mit Fernrohr. Lauter Ungeheuerlichkeiten für die Zeit.
       Eine Replika hängt im Eingangsraum des Ensor-Hauses, interaktiv, mit
       animierbaren Motiven. Überaus beliebt bei Besuchern.
       
       Typisch für Ensors Bilder sind Masken, böse Fratzen, Totenköpfe,
       schelmische Visagen. Er malte sich auch mal selbst als Skelett. Das bunte
       „Selbstporträt mit Blumenhut“ ist eine parodistische Anspielung auf das
       ikonische Rubens-Bildnis.
       
       ## „Der Einzug Christi in Brüssel“
       
       Ensors berühmtestes Werk heißt „Der Einzug Christi in Brüssel“: Eine
       gemalte Groteske, bunt und schrill wie ein Karnevalsumzug, mit Hunderten
       Fratzenfiguren und Jesus als Sessionsprinz. Oder ist das Ensor selbst als
       Karikatur des Erlösers? Im Hintergrund kotzen zwei Figuren die Veranda
       herunter. Ja, Ensor war manchmal wenig feinschlächtig. Das Œuvre ist 4
       Meter breit und gut 2,50 Meter hoch, höher als Ensors Atelier damals war.
       Also hat er es in Etappen gemalt: malen, trocknen lassen, ein Stück
       aufrollen, weitermalen, weiterrollen etc.
       
       Seit 1987 hängt das Original im Paul Getty Museum in Los Angeles. Zehn
       Millionen Dollar war es den Amerikanern damals wert. Gern hätte es Belgien
       zum Ensor-Jahr ausgeliehen. Aber ohne massive Beschädigungen ist das alte
       Werk nicht mehr von den Getty-Wänden abnehmbar, heißt es, und schon gar
       nicht transportabel.
       
       Ensor gilt als Rebell, Provokateur, Sozialist und Anarchisten-Bewunderer,
       Avantgarde sowieso, zugleich war er ein spitzzüngiger Tischredner. Er malte
       schimpfende Hexen, blutrünstige Chirurgen, keifende Juristen, alles gern
       umrahmt von Schreckensfratzen. „Und mit Priestern hatte er es auch nicht
       so“, sagt die Führerin, er sei höchstens „ein Salon-Katholik“ gewesen.
       
       Auf seinen Bildern residieren Engel in der lodernden Hölle. Oder Pfaffe,
       Offizier und König scheißen von einer Mauer einträchtig auf das Volk;
       Titel: „Doktrinäre Ernährung“. Statt Jesus ist auch mal ein Hund ans Kreuz
       genagelt. Ensor hatte drei Möpse.
       
       Sein Vater, ein stadtbekannter Trunkenbold, war Engländer, daher der
       Vorname und wohl auch sein schwarzer Humor. Misanthrop und Menschenfreund
       sei James Ensor zugleich gewesen, sagt Xavier Tricot, Belgiens
       renommiertester Ensor-Forscher und Ausstellungskurator. „Und er mochte die
       Figur Jesus als geschundenen Revolutionär.“
       
       ## Gerüchte um den lebenslangen Junggesellen
       
       Über Ensors Privatleben weiß man wenig. Angeblich hatte er eine heimliche
       Freundin in Ostende. Lebenslang unerfüllt bleib sein Liebeswerben um die
       Tochter des Rektors der Uni Brüssel, wo er in frühen Jahren eine Weile
       lernte. Wer lebenslang Junggeselle ist, lockt schnell Gerüchte an. Ob er
       wohl was mit seinem jahrzehntelangen Haushälter Auguste hatte?
       
       „Ich habe keine Kinder“, hat Ensor mal gesagt, „meine Tochter ist das
       Licht.“ Das breite Leuchten am Meer war seine Antriebsfeder, sein heller
       Musenkuss. Egal welches Motiv, der perfekte Winkel zum Licht, der
       punktgenaue Sonnenstrahl, das ist Ensor-Bildern immer eigen.
       
       Zum Ensor-Jahr 2024 gibt es reichlich Devotionalien: bunte
       Ensor-Papierservietten, Masken-Pralinen (mit Meersalz), mehrsprachige
       Ensor-Comics (im Comic-Land Belgien ein Muss), ihm gewidmete Musik
       belgischer KünstlerInnen („My friend James“), darunter auch ein Lied des
       kürzlich verstorbenen Rock-Chansonniers Arno („Ensor, mein Mentor“). Das
       Ganze auf Schallplatte, passender Tonträger zu Ensors Epoche. Statt eines
       Grammofons reicht allerdings ein handelsüblicher Plattenspieler. Indes muss
       die LP, kleiner analoger Gimmick, mit schnellen 45 Umdrehungen pro Minute
       abgespielt werden.
       
       Die meisten seiner Bilder hat James Ensor bis 1900 gemalt. Größere
       Ausstellungen gab es erst ab den 1920er Jahren, als die Kunstkritik diesen
       lange unbekannten, seltsamen Typen vom Ende der belgischen Welt entdeckte
       und vorsichtig zu würdigen begann. „Das Bürgertum sah ihn lange als
       Nestbeschmutzer und Ungläubigen“, erklärt Xavier Tricot. 1945 habe René
       Magritte seinen Kollegen bei einer Ausstellung in Brüssel mal vergiftet
       gelobt: „Jetzt liebt die Bourgeoisie deine Bilder.“ Was sagte Ensor dazu?
       Tricot lächelt: „Er war zu alt, um zu antworten.“
       
       ## Eine Oper für Marionetten
       
       Der späte Ensor, längst mit markantem, kantigem Vollbart in
       lichtstrahlendem Weiß, hat auch komponiert, ohne Notenkenntnis übrigens.
       Ausdauernd hat er am Klavier oben im blauen Salon seines Hauses gesessen,
       der heute so hergerichtet ist, wie es damals war. 1933 war Ensors Oper „La
       gamme d’amour“ (Bandbreite der Liebe) fertig, ein Opus für Marionetten, das
       von Ballett-Tänzern gespielt und auch ein paar mal aufgeführt wurde.
       
       Im Alter glaubte sich Ensor als Komponist noch bedeutender denn als Maler;
       eine recht exklusive Einschätzung. Er habe halt ein „sehr großes
       Selbstbewusstsein gehabt“, lächelt Museumsführerin Christa. Biograf Tricot
       ergänzt: „Er war schon etwas narzisstisch.“
       
       Ganz Ostende ist in diesen Tagen Ensor. [4][Das städtische Museum Mu.Zee]
       zeigt seit Ende Dezember seine Stillleben (auch das Rochen-Original) im
       Kontrast mit anderen belgischen KünstlerInnen dieses Genres. Es sind Ensors
       erste Ausflüge in seine fantastische Welt: Nur bei ihm ist die
       Schnapsflasche doppelt so groß wie eine Frauenfigur daneben. Eine Kerze
       ersetzt einen Ruderer in einem Boot, Hände wuchern aus einem Eimer. Und
       überall Farbexplosionen in Pastell.
       
       Bei der englischsprachigen Führung klingt der Name Ensor immer wie other
       oder sogar wie answer. Anders? Sicher. Aber Antwort – worauf? „Er war
       jenseits der Realität, weiter als die Wirklichkeit“, sagt die Guide Sabine.
       Und: „Er hat die Energie des Lichts gemalt.“
       
       Die Recherchen wurden unterstützt von Visit Flanders.
       
       5 Jan 2024
       
       ## LINKS
       
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