# taz.de -- Fehlende Plätze in Kitas: Und raus bist du!
       
       > In Deutschland fehlen hunderttausende Kita-Plätze, besonders für die ganz
       > Kleinen. Wie gehen Betreuer:innen mit der angespannten Lage um?
       
 (IMG) Bild: Spielend lernen die Kinder in der Kita
       
       Die Kinder haben klare Zuständigkeiten: Es gibt einen Dirigenten, der das
       Morgenritual leitet. Einen Tischdienst. Einen Zahnputzchef. An diesem
       Montagmorgen darf Ly, ein Mädchen mit einem langen Zopf, die Dienste
       einteilen. Sie läuft zur Wand, an der 22 Namen stehen. Ajala, Jack, Zeynep,
       Lisa, Jakub. Ly überlegt kurz, dann greift sie zu einem Schild, auf dem Cem
       steht.
       
       Den ernennt sie zum Dirigenten. Johannes Hauenstein, der Erwachsene in der
       Runde, nickt. „Jetzt noch die anderen Dienste“, sagt er. Nach dem
       Stuhlkreis beginnt der Erzieher einer Kita im Berliner Westen mit seiner
       eigentlichen Arbeit: der „Vorschule“. Hauenstein meint damit das
       Bildungsangebot für die 22 Kinder.
       
       Offiziell gibt es keine Vorschulen mehr in Berlin. Vor knapp zwanzig Jahren
       hat der Senat sie abgeschafft. Bis heute ist der Ansatz umstritten, die
       Kita-Kinder ab fünf Jahren spielerisch ans Lernen und an die schulische
       Disziplin heranzuführen. Nur Hamburg bietet noch Vorschulen im letzten
       Kita-Jahr an.
       
       Doch inzwischen werden die Rufe nach mehr Förderung in der Kita wieder
       lauter – seit offensichtlich ist, dass sich die Grundschulen zunehmend
       schwertun, [1][allen Kindern das Lesen, Schreiben und Rechnen
       beizubringen]. Mittlerweile scheitern sie damit bundesweit im Schnitt bei
       jedem dritten bis vierten Kind – Tendenz stark steigend. Wie die
       [2][jüngste Pisa-Studie] zeigt, holen die Schüler:innen diese Rückstände
       in höheren Klassen meist nicht mehr auf.
       
       ## Der Lernhunger verpufft
       
       Entsprechend planen mehrere Bundesländer Fördermaßnahmen in der Kita,
       darunter Sachsen-Anhalt oder Baden-Württemberg. Auch in Berlin sollen die
       Deutschkenntnisse durch ein verpflichtendes „Kita-Chancenjahr“ steigen.
       
       Johannes Hauenstein ist dafür. Seit den 70er Jahren arbeitet er als
       Erzieher in Berlin. Er hat unterschiedliche pädagogische Ansätze
       kennengelernt: Abenteuerspielplatz, Kinderläden, Ganztagsbetreuung an einer
       Grundschule. Auch an einer Kita in staatlicher Trägerschaft hat er
       gearbeitet. Heute überwiege in der frühkindlichen Bildung der „offene
       Ansatz“, sagt Hauenstein.
       
       Also die Vorstellung, dass das Kind seinen Wissensdrang mehr oder weniger
       von alleine stillt. Doch das, meint er, funktioniere nicht. Ohne klare
       Struktur verpuffe der Lernhunger der Kinder. Und ohne gezielte
       Konzentrationsübungen falle vielen der Wechsel an die vergleichsweise
       strenge Grundschule schwer.
       
       Deshalb trainiert Hauenstein an diesem Morgen das Hörverständnis seiner
       Vorschulgruppe. „Ist in Wiese ein 'i’?“ Jedes Kind nimmt er reihum mit
       einer Frage dran. Das genaue Zuhören ist Teil einer festen Wochenstruktur.
       Jeden Tag werden Sprach- und Schreibübungen gemacht. Dazu kommt, dass die
       Kinder am Dienstag selbst Experimente durchführen dürfen. Am Mittwoch ist
       A-Capella-Tag, am Donnerstag dann dürfen sie Parks und Museen erkunden.
       Auch die „Hausaufgaben“, die abgeheftet werden, gehören zum Ritual. Es
       handelt sich dabei um Mal- und Schreibübungen, die den Kindern helfen
       sollen, sich selbst zu strukturieren.
       
       Vor zehn Jahren haben Hauenstein und eine Kollegin das Programm entwickelt
       und seither an verschiedenen Kitas in Berlin erprobt. In einem sozialen
       Brennpunkt im Wedding, im Ost-Berliner Bezirk Pankow und nun im
       bürgerlichen Charlottenburg. Überall hätten sie damit gute Erfahrungen
       gemacht. Vor allem hätten sie Kinder zum Lernen motiviert. Auch die, die
       kein oder wenig Deutsch konnten. „Die allermeisten konnten wir guten
       Gewissens in die Schule schicken“.
       
       Bildungsforscher:innen betonen schon länger, wie wichtig
       Vorschulbildung ist. „Wir brauchen eine systematische, bedarfsgerechte
       Förderung von Kindern bereits im Vorschulalter“, mahnt die nationale
       Pisa-Projektleiterin Doris Lewalter. Die Kita soll heute nicht mehr nur die
       Vereinbarkeit von Familie und Beruf garantieren – sie soll Kinder fördern
       und allen die gleichen Bildungschancen bieten. Oder zumindest die Defizite
       verringern, die Kinder aus sozial benachteiligten Elternhäusern mitbringen.
       
       Dass Kitas dazu in der Lage sind, zeigt eine in Deutschland einzigartige
       Langzeit-Bildungsstudie. Seit 2012 begleiten Forscher:innen vom
       Leibniz-Institut für Bildungsverläufe (LIfBi) in Bamberg rund 3.400
       zufällig ausgewählte Kleinkinder. Der erste „Test“ erfolgte bereits nach
       sechs bis acht Monaten über eine aufwendige Videodokumentation und
       Elternbefragung.
       
       Mit drei Jahren dann untersuchten die Forscher:innen unter anderem, wie
       gut das Kind Logikaufgaben bewältigt. Mit vier sein mathematisches
       Verständnis. Mit fünf seinen Wortschatz und sein soziales Verhalten. Eine
       internationale Gruppe von Forscher:innen hat die vollständig
       vorliegenden Daten von 992 Kindern nun auf zwei Aspekte hin untersucht: Wie
       entwickelten sich die einzelnen Kinder je nach sozialer Herkunft? Und
       welche Rolle spielte es, ob das Kind dabei eine Kita besuchte oder nicht?
       
       Mitte Januar [3][wurden die Ergebnisse dieser Studie veröffentlicht]. Aus
       Sicht der stellvertretenden LIfBi-Direktorin und Mitautorin Corinna
       Kleinert sind die Langzeitdaten eindeutig: „Vor allem Kinder aus Familien
       mit niedrigem sozioökonomischen Status profitieren vom Kita-Besuch.“
       Während es bei den besser gestellten Kindern keinen so großen Unterschied
       mache, ob sie in eine Kita gehen oder nicht (außer im sozialen Verhalten!),
       lernten benachteiligte Kinder dort deutlich mehr Wörter und hatten ein
       besseres mathematisches Verständnis. „Die Kita kann soziale Ungleichheiten
       absenken“, sagt Kleinert.
       
       Allerdings zeigen ihre Daten auch: Ausgerechnet die Kinder, die am meisten
       von der Kita profitieren würden, nehmen die Betreuung deutlich seltener in
       Anspruch.
       
       Woran genau das liegt, ist wenig erforscht. Eine Studie des Bundesinstituts
       für Bevölkerungsforschung (BiB) zeigt jedoch, dass der [4][ungleiche Zugang
       zu Kita-Plätzen] bis heute unverändert hoch ist. Sozial schwächer gestellte
       Familien haben bei der Kita-Platzvergabe nur etwa halb so gute Chancen wie
       besser gestellte – obwohl beide Gruppen einen gleich hohen Bedarf angeben.
       Corinna Kleinert vom LIfBi hält deshalb einen weiteren Ausbau der
       Kita-Plätze für dringend notwendig, um gleiche Bildungschancen für alle
       Kinder zu gewährleisten.
       
       Tatsächlich fehlen zehn Jahre nach Einführung des Rechtsanspruches auf
       einen Kita-Platz ab dem ersten Lebensjahr immer noch hunderttausende
       Plätze. Vor allem bei den unter Dreijährigen klaffen Bedarf und Angebot
       auseinander. Trotz des massiven Ausbaus der Betreuungsangebote durch Bund
       und Länder kann heute nur etwa jedes dritte Kind unter drei eine Kita
       besuchen: laut einer Untersuchung des Kölner Instituts der deutschen
       Wirtschaft gab es im März 2023 Kita-Plätze für rund 857.000 Kinder. Jedoch
       hatten die Eltern von 1,16 Millionen Kindern Bedarf.
       
       Bei den älteren Kindern ist die Situation zwar deutlich entspannter – 92
       Prozent besuchen bundesweit eine Kita – einen Betreuungswunsch geben jedoch
       97 Prozent der Eltern an. Die [5][neue Präsidentin der
       Kultusministerkonferenz] (KMK), Christine Streichert-Clivot, erklärt den
       Dauermangel so: „Wir merken, dass die Nachfrage steigt, wenn wir das
       Angebot ausbauen und die Eltern von den Gebühren befreien.“
       
       Allein in Berlin fehlen nach Angaben der Bertelsmann Stiftung 17.000
       Plätze. Auch die Kita, an der Johannes Hauenstein arbeitet, musste in
       diesem Jahr wieder viele Eltern abweisen. Dabei könnte die Einrichtung
       prinzipiell ein paar Kinder mehr aufnehmen als die aktuell 75, aber es
       fehlt das Personal. „Die Vorgaben des Senats verbieten uns, noch mehr
       Kinder aufzunehmen, wenn dann der Personalschlüssel nicht mehr stimmt“,
       sagt Charlotte Yılmaz. Die Leiterin von Hauensteins Kita hat die taz
       eingeladen, sich ein Bild vom dem Arbeitsalltag in ihrer Einrichtung zu
       machen, vorausgesetzt, die Namen der Kinder und auch ihrer werden
       anonymisiert.
       
       Zu ihren Aussagen aber steht sie: „Die Ansprüche an die Kitas sind enorm
       gestiegen. Vor allem die Dokumentation ist sehr umfangreich“.
       Sprachstandserhebungen, Sprachlerntagebücher, Lerndokumentation,
       Beobachtungsbögen, Entwicklungsgespräche mit den Eltern. Alles schreibe die
       Bildungsverwaltung vor, sagt Yılmaz. Im Arbeitsalltag sei das kaum zu
       bewältigen. Mehrmals musste ihr Kita-Träger schon eine Zeitarbeitsfirma
       beauftragen, um kurzfristig einen qualifizierten Ersatz zu gewinnen.
       
       Für Erzieher Hauenstein sind die Arbeitsbedingungen auf dem Papier gut. Für
       die 22 Kinder sind 4 Fachkräfte zuständig. In der Praxis sind sie wegen
       Urlaub, Krankheit, Teilzeit, Verwaltungsarbeit meist zu zweit. Vor allem
       aber wünscht sich Hauenstein mehr Zeit, um seine Bildungsangebote gut vor-
       und nachbereiten zu können. Um nicht auszubrennen, hat der Erzieher seine
       Stunden reduziert – auf 22 die Woche.
       
       „Ich liebe meine Arbeit. Aber acht Stunden Bildungsarbeit am Tag gehen
       einfach nicht“. Ideal seien drei oder vier Stunden. Das entspreche in etwa
       der Zeit, die Grundschullehrer:innen mit dem Unterrichten verbringen.
       Die restlichen Wochenstunden hätten die Zeit für Elterngespräche,
       Vorbereitung, Recherche. So eine Aufteilung hätte Hauenstein als Erzieher
       auch gerne.
       
       Doch wie das gehen soll, wenn an allen Enden Fachkräfte fehlen, kann er
       nicht beantworten. Allein um die Betreuungswünsche aller Eltern zu
       erfüllen, müssten die Kitas aktuell 100.000 Erzieher:innen zusätzlich
       einstellen, [6][zeigt der aktuelle Kita-Fachkräfteradar] der Bertelsmann
       Stiftung. Deren Bildungsexpertin Anette Stein sieht noch ein weiteres
       Problem: „Selbst wenn all diese Erzieher:innen da wären, wären wir weit
       entfernt von einer kindgerechten Betreuung“. Stein versteht darunter, dass
       eine Fachkraft rechnerisch nicht mehr als 3 Krippen- oder 7,5 ältere Kinder
       alleine betreut.
       
       In der überwiegenden Mehrheit der Kita-Gruppen in Deutschland ist diese
       Empfehlung jedoch reines Wunschdenken – vor allem in den ostdeutschen
       Bundesländern. Dort liegen die Personalschlüssel teilweise fast doppelt so
       hoch. Hinzu kommt: Verwaltungsaufgaben, Urlaubs- und Krankheitstage
       verringern die Zeit, in der Erzieher:innen die Kinder pädagogisch
       betreuen können.
       
       Wozu das führt, konnte man im November in Berlin beobachten. Rund 2.600
       Erzieher:innen der landeseigenen Kita-Betriebe haben wegen des hohen
       Personalmangels beim Senat eine „kollektive Gefährdungsanzeige“ erstattet.
       Dabei hat das Berliner Kita-Institut für Qualitätsentwicklung bereits in
       der Vergangenheit mehrfach Alarm geschlagen. „Auf Grund von personellen
       Engpässen können zum Teil pädagogische Aufgaben nicht erfüllt werden“,
       heißt es etwa in einem Bericht von 2022.
       
       ## Standards werden gesenkt
       
       Das Beispiel zeigt, wie dramatisch die Situation ist. Um der Personalkrise
       etwas entgegenzusetzen, senken viele Bundesländer mittlerweile die
       Standards. In Rheinland-Pfalz etwa können Fachkräfte bereits nach 20 Tagen
       „Basisqualifizierung“ in einer Kita arbeiten. Hessen hat die Gruppe an
       Ausbildungsberufen erweitert, die nun als Kita-Fachkräfte in Frage kommen.
       Und in Brandenburg dürfen bis zu 20 Prozent aller Mitarbeiter:innen
       neuerdings komplett ohne pädagogische Ausbildung an Kitas arbeiten. Viele
       Länder haben zudem schon den Weg für den Quereinstieg in die Kita geebnet,
       auch Berlin.
       
       Anette Stein von der Bertelsmann Stiftung beobachtet diese Entwicklung mit
       Sorge. „Das Kita-System steht heute bereits vor dem Kollaps“. Viele hätten
       Probleme, die Öffnungszeiten aufrechtzuerhalten. Jetzt noch die Ansprüche
       an die Qualität zu senken, wäre aus ihrer Sicht verheerend. Statt mehr
       unqualifiziertes Personal einzustellen, empfiehlt sie, die Öffnungszeiten
       vorübergehend einzuschränken – und die frei werdenden Ressourcen für mehr
       Plätze zu nutzen.
       
       Langfristig könne die Qualität nur gewährleistet bleiben, wenn der Bund
       auch über 2025 hinaus in die Kita-Qualität investiere und die Länder die
       Personalschlüssel anpassen. Optimistisch stimmt Stein lediglich, dass
       einige Länder mittlerweile auf eine praxisorientierte und vergütete
       Ausbildung setzen. Das mache zumindest den Einstieg in den Beruf
       attraktiver.
       
       Das alleine wird jedoch nicht reichen. Ab 2026 führt der Bund einen
       weiteren Rechtsanspruch ein: den auf Ganztagsbetreuung an Grundschulen.
       Auch der ist wichtig. Zum einen für die Chancengerechtigkeit. Zum anderen
       für berufstätige Frauen, die häufig unfreiwillig auf Teilzeit reduzieren,
       wenn die Kinder in die Schule kommen, weil sie nachmittags nicht betreut
       sind.
       
       Für die Kitas jedenfalls sind die Pläne ein Prüfstein: Verbessern sich die
       Arbeitsbedingungen bis dahin nicht deutlich, könnte ihr Personal Richtung
       Grundschulen abwandern.
       
       Für Johannes Hauenstein kommt ein Wechsel aber nicht in Frage. An seiner
       Kita werde er für seine Bildungsarbeit wertgeschätzt, sagt er. In der
       Grundschule, so hat er das erlebt, nähmen die Lehrkräfte seine Arbeit
       hingegen nicht ernst.
       
       ## „Ich will nicht nur verwalten“
       
       Katrin Schmidt-Sailer, 57, leitete ein Kita-Zentrum 
       
       „Mein Frust kam in Wellen und die Abstände wurden immer kürzer. Für mich
       ist wichtig zu erkennen, dass sich was bewegt. Aber ich drehte mich auf der
       Stelle. Also bin ich ausgestiegen.
       
       Mein Slogan war immer: Ich möchte gestalten, nicht verwalten. Klopapier,
       Möbel oder Spielbedarf bestellen – darum haben sich früher Kolleg*innen
       aus der Verwaltung gekümmert. Heute muss ich für all das drei Angebote
       einholen. Mit der Zeit hatte ich immer weniger Kapazitäten für das, wofür
       ich eigentlich angetreten bin.
       
       Immer wieder an der Realität zu scheitern, frustriert auf Dauer. Wer im
       pädagogischen Bereich arbeitet, ist Gestalter*in und möchte kreativ die
       Ideen der Kinder aufgreifen und umsetzen. Wenn ein Kind erzählt, es war im
       Zoo und hat eine Babygiraffe gesehen und möchte sie allen zeigen, dann
       wäre es logisch, einen Ausflug zu organisieren. Aber das ist schwer
       umzusetzen.
       
       Die Fragen, denen wir uns stets zuerst widmen müssen, sind: Wie viele sind
       heute da? Wer kann was machen? Wie viele Kinder muss wer im Blick haben?
       Die Kinder spüren unseren Stress und reagieren entsprechend darauf. Die
       Zahl der Kinder, die wir als herausfordernd empfinden, hat zudem
       zugenommen.
       
       In meinen 17 Jahren als Leitung eines Kita-Zentrums in Karlsruhe hat sich
       einiges entwickelt. Zum einen ist der Bedarf an Betreuung für Kinder unter
       drei immer weiter gestiegen. Zum anderen arbeiten mehr Erzieher*innen
       in Teilzeit. Man braucht also mehr Personal und entsprechend mehr
       Kapazitäten für Führungsarbeit. Für Teamarbeit waren weiterhin zwei Stunden
       vorgesehen, egal ob wir 20 oder 40 Leute waren. Da hat mein Träger keinen
       Unterschied gemacht. Aber ich würde behaupten, auch mein Träger ist immer
       mehr in Not gekommen, weil Verwaltungsvorschriften dazukamen und auch der
       Personalmangel verwaltet werden muss.
       
       Ich bin Gewerkschafterin und denke: Mehr Gehalt ist nicht das Zünglein an
       der Waage. Es braucht vor allem bessere Arbeitsbedingungen. Denn durch den
       Stress werden auch wir kränker. Ich hatte viele Ideen, aber die verpufften.
       Jetzt gebe ich selbstständig Schulungen zur gewaltfreien Kommunikation und
       arbeite mit pädagogischen Fachkräften. Bedarf ist da, denn die aktuelle
       Lage belastet viele Teams.“ Protokoll: Adefunmi Olanigan
       
       ## „Das ist ein enormer Druck“
       
       Anonym, 36, Erzieherin in einer Krippe im Allgäu 
       
       „Normalerweise besteht eine Gruppe aus zwölf Kindern und drei bis vier
       Erzieher*innen. Ich bin seit mehreren Monaten die einzige Vollzeitkraft.
       Eine weitere Kollegin ist drei Tage die Woche bis mittags da. Ich trage die
       komplette Verantwortung für die Kinder und die Organisation in der Gruppe.
       Das ist ein enormer Druck, denn die Kleinen sind alle auf mich fixiert.
       Wenn ich den Raum verlasse, dann stehen zwei, drei Kinder an der Scheibe
       zum Gang und weinen.
       
       Ich arbeite seit zehn Jahren als ausgebildete Erzieherin in der selben
       Kita. Seit neun Jahren bin ich in der Krippe, wo wir besonders kleine
       Kinder betreuen. Von 8 Uhr bis 15.30 Uhr sind sie bei uns. Es gibt
       Frühstück, Mittagessen und eine Brotzeit am Nachmittag, die ich vorbereite.
       Dazwischen haben die Kinder freie Zeit zum spielen, ich wechsle Windeln,
       lege die Kinder zum Mittagsschlaf hin, ziehe sie danach um. Die
       Organisationsaufgaben, wie Elterngespräche oder die Portfolios, die die
       Fortschritte der Kinder zeigen, bleiben oftmals liegen.
       
       Manchmal mache ich Überstunden am Samstag für das Organisatorische,
       vorausgesetzt, ich finde einen Babysitter für meine eigenen zwei Kinder.
       
       Seit September schreiben wir Stellen für meine Gruppe aus, drei Personen
       haben sich beworben. Eine hat sich für eine andere Kita entschieden, die
       anderen beiden haben pädagogisch nicht gepasst. Mir ist es wichtig, dass
       die Kinder in guten Händen sind.
       
       Wenn genug Personal da wäre, würde ich gern die Gruppe aufteilen und mich
       konzentriert um die Größeren kümmern. Ich würde mit ihnen spielen oder ein
       Buch vorlesen, um danach über die Geschichte zu reden. Wir könnten besser
       an motorischen Fähigkeiten arbeiten, mal in Ruhe Formen aus Papier
       ausschneiden, ohne dass ein kleines Kind dazwischen geht. In der Realität
       freue ich mich, wenn ich den Tag überlebe.
       
       Seit meiner zweiten Erziehungspause während der Pandemie hat sich die Lage
       bei uns in der Kita verschlimmert. Ich rede immer häufiger mit Kolleginnen,
       die zu Bosch gehen und lieber Schichtarbeit am Band machen, weil es besser
       bezahlt ist. Ich liebe meinen Job und gehe gern zur Arbeit, aber ob ich
       meinem 17-jährigen Ich nochmal dazu raten würde, weiß ich nicht.“
       Protokoll: Anastasia Zejneli
       
       ## „Geld fehlt an allen Ecken“
       
       Martin Daub, 59, hat nach 20 Jahren als Kitaleiter in Pforzheim gekündigt 
       
       „Die Zusammenarbeit mit den Eltern fällt bei der Arbeit in der Kita meist
       als erstes hinten runter. Keine Institution ist so dicht an den Familien
       dran wie die Kitas. Aber das verpufft. Übrig bleiben nur noch
       Krisengespräche mit Eltern von Kindern, die aus dem System fallen.
       
       Und dann macht man das, was als Pädagoge oder Pädagogin eigentlich ein Tabu
       ist: Man kümmert sich überwiegend um die herausfordernden Kinder und nicht
       mehr um alle. Das allerdings signalisiert den sozial angepassten Kindern,
       dass sie auffällig werden müssen, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Das ist
       völliger Wahnsinn.
       
       Wir haben zwei Probleme, die sich überschneiden: zu wenig Personal und zu
       wenig Kita-Plätze. Geld fehlt auch an allen Ecken. Das beißt sich. Ich
       kenne keine Kita, die in den letzten drei Jahren nicht in der Situation
       war, dass man Angebote verkürzen oder ganz streichen musste. Ich hatte als
       Leitung oft das Gefühl, nur noch den Mangel zu verwalten. Toleranz,
       Inklusion, Selbstverwirklichung und Menschlichkeit – ich bin dafür
       angetreten, diese Werte und Normen in der Kita zu leben. Aber darum konnte
       ich mich nicht mehr groß kümmern.
       
       Es ging nur noch darum, den Tag rumzukriegen, ohne dass etwas passiert. Das
       hieß, die Öffnungszeiten abzudecken und der Aufsichtspflicht nachzukommen,
       so dass am Ende des Tages alle gesund nach Hause gehen können. Solche Tage
       nahmen immer mehr zu. Oft war ich abends total kaputt.
       
       Sich anstrengen zu müssen, mal ein paar Stunden länger bleiben, das ist
       kein Problem. Aber wenn das Gefühl anhält, dass man immer mehr arbeitet,
       und doch kommt dabei immer weniger raus, das frustriert.
       
       Ich bin gegangen, weil mir das Licht am Horizont fehlte. Es fehlt eine
       politische Idee und der politische Wille, der Situation und dem
       Fachkräftemangel zu begegnen. Mir scheint, es werden vor allem die
       Anforderungen an den Beruf, heruntergesetzt. Bloß schafft das wieder neue
       Probleme. So wird mit der Möglichkeit des Quereinstiegs zwar dem
       Personalmangel begegnet. Aber dadurch muss in den Kitas viel
       Ausbildungsarbeit stattfinden.
       
       Zum Beispiel muss die Elternarbeit mit den Quereinsteigenden geübt werden,
       oder der Umgang mit herausfordernden Kindern. Diese Arbeit ist bei weniger
       Personal, vielen Ausfällen, höheren Anforderungen eine zusätzliche
       Belastung. Es ist eine Last, die den gut ausgebildeten Erzieherinnen und
       Erziehern aufgebürdet wird. Und die können sie irgendwann nicht mehr
       tragen.“ Protokoll: Adefunmi Olanigan
       
       ## „Wir priorisieren dann“
       
       Anonym, 50, ist Erzieherin in einer Kita in München 
       
       „Wir betreuen in unserem Kindergarten etwa 50 Kinder. Mal sind die Eltern
       Akademiker, andere beziehen Sozialhilfe. Es ist alles da. Das funktioniert
       ganz gut, weil wir nicht so krisengeplagt sind wie viele andere Kitas: Wir
       haben gerade mal so genug Personal – alle sind gut ausgebildet, meine
       Chefin hat eine Zusatzausbildung als Psychologin. Sie hält unser Team
       zusammen, auch wenn wir gestresst sind. Und wir haben einige
       Praktikant*innen, ohne die, das muss ich wirklich sagen, würde es nicht
       laufen.
       
       In der Praxis heißt das: Wir können uns mit den Kindern beschäftigen, wo
       bei anderen Kitas nur noch beaufsichtigt wird. Wir setzen uns mit den
       Kindern an den Tisch, basteln, machen unseren Morgenkreis. Die Kinder
       singen meine Lieder mit Freude hoch und runter und ich singe bei ihnen
       Quatsch mit ohne Ende. Das macht uns allen Spaß.
       
       Gerade haben wir das Thema Kalender und sprechen darüber, warum wir
       Silvester feiern. Ich habe erklärt, dass jetzt die Erde einmal um die Sonne
       gekreist ist. Sie haben den Globus genommen, die Sonne genommen und haben
       das nachgespielt. Diese Dinge passieren abseits von der Routine.
       
       Aber auch wir kämpfen mit dem Fachkräftemangel. Wir achten streng darauf,
       dass nie eine Erzieherin allein mit einer Gruppe ist. Wenn aber ein Kind
       besonders hohen Förderbedarf hat, braucht es schon eine Person, die nur bei
       ihm bleibt.
       
       Wir haben zum Beispiel einen Jungen in der Gruppe, der zuhause Zugang zu
       Filmen und Spielen bekommt, die nicht seinem Alter entsprechen. Der lebt
       das im Kindergarten aus. Wir schauen, wenn er mit anderen spielt, dass da
       nicht die Fäuste fliegen. Letzte Woche waren wir zu zweit, da ist zuerst
       meine Kollegin mal rausgegangen und dann ich. Weil wir es nicht mehr
       gepackt haben. Zu Mittag sind wir da alle schon ziemlich fertig.
       
       Vor allem bräuchten wir auch Personal für die Verwaltung; die wurde in den
       letzten Jahren immer mehr aufgebläht. Wir sind mehr im Büro und weniger bei
       den Kindern. Wir priorisieren dann: Was ist gerade wichtig, was unwichtig?
       Damit wir, wenn es nötig ist, für die Kinder und deren Eltern da sein
       können. Denen machen wir nicht die Tür vor der Nase zu. Aber es ist
       durchaus so, dass wir deshalb nach Feierabend auch mal ein oder zwei
       Stunden dranhängen.
       
       Wir haben es eben mit Einzelschicksalen zu tun, das darf man nicht
       vergessen. Die Kinder, die dringend Hilfe brauchen, die, die schreien oder
       die, die ganz still sind, denen fehlt oft das Rüstzeug zur Resilienz. Es
       geht nicht nur darum, mit ihnen die Farben oder Jahreszeiten zu lernen.
       Wenn wir ihnen beibringen, mit schwierigen Situationen umzugehen, nein zu
       sagen, Grenzen zu zeigen – dann würde das auch der Gesellschaft viel
       bringen.“ Protokoll: Alena Wacenovsky
       
       28 Jan 2024
       
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 (DIR) Ralf Pauli
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