# taz.de -- Kritik an Israel: Sprachlose Weitergabe
       
       > Ist Kritik an Israel wegen der Täterschuld nicht möglich? Davon kann
       > keine Rede sein – die Aufarbeitung drang nie in die Tiefe der
       > Gesellschaft ein.
       
 (IMG) Bild: Das Brandenburger Tor in Berlin am 85. Jahrestag der Pogrome vom November 1938
       
       [1][Amerikanische linke und linksliberale Intellektuelle], aber auch
       Vertreter des Postkolonialismus in Deutschland erwecken den Eindruck, dass
       es in Deutschland aufgrund einer Täterschuld nicht möglich und opportun
       sei, Israel zu kritisieren. Es gebe vielmehr eine fragwürdige offizielle
       Antisemitismusdefinition, die jede Kritik an Israel im Keim ersticke.
       
       Als Beleg wird die Absage von Veranstaltungen und Ausstellungen mit
       Vertretern des Globalen Südens, die sich kritisch zu Israel äußern,
       angeführt. Auch die Verpflichtungserklärung, die der Berliner Kultursenator
       allen Vertragspartnern abfordern wollte – [2][wovon er inzwischen abgerückt
       ist] –, stieß in diesem Zusammenhang auf massiven Widerspruch.
       
       Wenn es so wäre, dass es aufgrund von politischen Tabus weder auf
       institutioneller Ebene noch auf gesellschaftlicher Ebene möglich ist,
       Israel und seine Regierung zu kritisieren, müsste man sich ernsthaft Sorgen
       um die Meinungsfreiheit in Deutschland machen. Es ist zudem legitim und
       notwendig, Versuchen einer Zensur der Kritik an Israel und dem Vorgehen
       gegenüber der Zivilbevölkerung im Gazastreifen entgegenzutreten.
       
       Gleichwohl ist der Eindruck, dass man in Deutschland Israel nicht
       kritisieren dürfe oder könne, grundfalsch. Jeden Tag wird in der
       Öffentlichkeit kritisch über die Netanjahu-Regierung, rechtsextreme
       Minister und das Vorgehen gegen die Zivilbevölkerung im Gazastreifen
       berichtet. Auch die dortige inhumane Lage wird ausführlich dargestellt.
       
       Zudem wird Israel gemahnt, sich an das Völkerrecht und zivile Standards zu
       halten sowie die Versorgung der palästinensischen Bevölkerung
       sicherzustellen. Außerdem wird seit Monaten mit Sympathie über die
       Protestbewegung in Israel gegen die Netanjahu-Regierung und deren Versuche,
       die Demokratie auszuhöhlen, informiert. Es kann also keine Rede davon sein,
       dass man sich in Deutschland nicht kritisch mit Israel auseinandersetzen
       könne.
       
       Überhaupt stellt sich die Frage, ob es in der deutschen
       Mehrheitsgesellschaft jene „Täterschuld“ gibt, von der behauptet wird, dass
       sie Kritik an Israel verhindere. Viele Deutsche sind vielmehr gegenüber den
       Juden und deren Schicksal ziemlich desinteressiert und gleichgültig, wie
       vor kurzem eine Umfrage von Forsa gezeigt hat: 59 Prozent der Befragten
       sagten, dass ihnen Israel fremd sei, nur 23 Prozent empfanden eine „Nähe“
       zu Israel. Auch die Anteilnahme der deutschen Öffentlichkeit am Massaker
       der Hamas am 7. Oktober 2023 fiel erschreckend gering aus.
       
       Die 68er-Generation kann sich zugutehalten, mit der Elterngeneration die
       Auseinandersetzung über die Verstrickung in die Nazi-Verbrechen öffentlich
       geführt zu haben. Insofern ist ein gewisser Stolz auf die in dieser
       Auseinandersetzung entstandene deutsche Erinnerungskultur zwar berechtigt,
       aber ob das Ausmaß der Erinnerung angesichts der jüngsten antisemitischen
       Vorfälle wirklich in die Tiefenschichten der Gesellschaft vorgestoßen ist,
       bleibt fraglich.
       
       ## Erinnerung als ritualisierte Pflicht?
       
       Zwangsläufig hat die Erinnerung an den Holocaust im Laufe der Zeit unter
       den Nachfolgegenerationen nicht nur nachgelassen, sondern läuft auch
       Gefahr, [3][zu einer ritualisierten Pflichtaufgabe] zu werden. Der
       französische Philosoph Claude Lefort hat einmal gesagt: „Seit einiger Zeit
       spricht man viel von der ‚Pflicht, sich zu erinnern‘. Das ist erfreulich.
       […] Aber ohne die Pflicht zu denken, läuft die Pflicht, sich zu erinnern,
       Gefahr, wirkungslos zu sein.“
       
       Jedenfalls hat die Aufarbeitung der Vergangenheit nicht so tiefgreifend das
       Familiengedächtnis vieler deutscher Familien erreicht wie erhofft. Zwar
       wird im öffentlichen Raum durch Mahn- und Gedenkstätten sowie in
       Sonntagsreden an die Gräueltaten der Vergangenheit erinnert, aber das
       verleugnete Wissen um den Holocaust und die Verbrechen des NS-Regimes
       konnte sich gleichwohl durch das Beschweigen auf verquere Art und Weise auf
       die nächsten Generationen übertragen.
       
       Die Nachfolgegenerationen sind auch heute noch mit der sprachlosen
       Weitergabe eines schuldbelasteten Erbes konfrontiert. Dies gilt für den
       Westen, aber noch stärker für den Osten Deutschlands: Unter dem dünnen
       Firnis des staatlich verordneten Antifaschismus wurden in den Familien noch
       stärker als im Westen Einstellungsmuster tradiert und konserviert, die
       nahtlos an die Zeit des Nationalsozialismus anknüpften. Man muss
       befürchten, dass es jenseits der hohlen Bekenntnisse der AfD-Führung zur
       christlich-jüdischen Tradition vor allem unter den Mitgliedern der
       ostdeutschen Landesverbände der AfD einen tief sitzenden Antisemitismus
       gibt.
       
       ## Weniger Mitgefühl mit Juden
       
       Vor diesem Hintergrund kann man zumindest infrage stellen, ob es in der
       behaupteten Breite überhaupt jene Täterschuld unter den Deutschen gibt, von
       der gesagt wird, dass sie eine Art Zwangssolidarität mit Israel stifte. Im
       Unterbewusstsein wird es sicherlich auch bei den Nachgeborenen noch etwas
       von diesem Schuldbewusstsein geben, aber gerade durch dessen Verdrängung
       wendet sich das Mitgefühl eher von den Juden ab als ihnen zu.
       
       Wenn man noch einen Schritt weitergeht, kann man auch sagen, dass es zu
       einer Schuldumkehr gekommen ist, indem sich insbesondere linke Strömungen
       mit „den“ Palästinensern solidarisieren, weil sie als vermeintliche „Opfer
       der Opfer“ betrachtet werden. Dabei ist es die Hamas, die – ähnlich wie die
       Nationalsozialisten – die Juden auslöschen will, und zwar einzig und allein
       deshalb, weil sie Juden sind.
       
       Und wenn heute jüdische Studierende in Deutschland durch
       propalästinensische Aktivisten am Betreten von Hörsälen behindert werden,
       erinnert das auf fatale Art und Weise an das Vorgehen des NS-Regimes. Vor
       diesem Hintergrund kann man froh sein, dass es wenigstens in den
       politischen Institutionen und in der politischen Klasse eine klare Haltung
       zu Israel, seinem Existenzrecht und seinem Recht auf Selbstverteidigung
       gibt.
       
       30 Jan 2024
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Linker-Antisemitismus/!5572949
 (DIR) [2] /Antisemitismus-im-Kulturbetrieb/!5984346
 (DIR) [3] https://www.swr.de/swr2/leben-und-gesellschaft/holocaustgedenktag-2022-100.html
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Lothar Probst
       
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