# taz.de -- Aufarbeitung der NS-Zeit: In der Familie des Massenmörders
       
       > Lange ist die Großnichte des Kriegsverbrechers Hermann Göring vor ihrer
       > Familiengeschichte davongelaufen. Nun hat sie ein Buch darüber
       > geschrieben.
       
 (IMG) Bild: Hermann Göring mit seinem Anwalt Dr. Otto Stahmer während der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse 1946
       
       Da musste etwas raus, musste etwas geklärt werden. Das machen schon die
       ersten zwei Sätze von Bettina Görings Autobiografie „Der gute Onkel. Mein
       verdammtes deutsches Erbe“ klar. „Bettina Göring“ steht da in einer Zeile.
       Und dann in der nächsten kursiv gestellt „Die.“ Und etwas weiter unten:
       „Schublade auf. Rein mit ihr.“
       
       Schubladendenken, damit kennt sie sich aus, schreibt die 1956 in Wiesbaden
       geborene Göring. Sie ist die Großnichte von [1][Hermann Göring.] Engster
       Vertrauter von Adolf Hitler, mitverantwortlich für die sogenannte
       „Endlösung“ der Judenfrage und damit für millionenfachen Mord im
       Nationalsozialismus. Ein Monster, ein Psychopath.
       
       Für Bettina Görings Familie ist er: „Der gute Onkel“. Der immer für die
       Familie da war und sich um alle gekümmert hat. Auch um seine drei
       vaterlosen Neffen. Einer von ihnen war Bettina Görings Vater, Hermann
       Görings Patenkind. „Alles Lüge“ giftet dessen Mutter noch 1970,
       fünfundzwanzig Jahre nach Kriegsende, als eine Holocaust-Dokumentation im
       Fernsehen gezeigt wird. Vergasungen habe es nie gegeben, und wenn, dann
       habe Hermann nichts davon gewusst.
       
       ## Schwarz oder weiß
       
       Schwarz oder weiß. Dazwischen gab es für Bettina Göring lange nichts.
       Deshalb dieses Buch. Deshalb hat Bettina Göring sich nochmals ausführlich
       ihrer Familiengeschichte gestellt. Auf knapp 400 Seiten. Um das „so
       verführerische, weil so praktische Schubladendenken“ hinter sich zu lassen,
       schreibt sie.
       
       Für sie ist das – wie so oft bei autobiografischen Büchern – ein wichtiger
       Prozess. Und nicht nur für sie. Es ist wichtig, dass es dieses Buch gibt.
       Denn nicht das „Zu-viel-über-die-dunkle-deutsche-Geschichte-Reden“ ist das
       Problem, sondern das Schweigen darüber. Immer. Vor allem, wenn es um die
       eigene Familie geht.
       
       Immer mehr Nachfahren beschäftigen sich zwar mittlerweile mit den [2][Taten
       ihrer Vorgänger im Nationalsozialismus]. Die Auseinandersetzung mit der
       eigenen Familiengeschichte bleibt jedoch meist ein blinder Fleck in der
       viel gelobten deutschen Erinnerungskultur.
       
       Laut einer 2020 veröffentlichten Studie der Universität Bielefeld und der
       Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft antworteten 68 Prozent der
       Befragten auf die Frage, ob ihre Vorfahren unter den Tätern während der
       NS-Zeit gewesen waren mit „Nein“. Die Frage nach Mitläufern unter ihren
       Vorfahren verneinten immer noch 50 Prozent.
       
       Auch Bettina Göring ist vor ihrem „verdammten deutschen Erbe“ lange
       davongelaufen. Als Jugendliche war ihr Markenzeichen ein abgewetzter
       Nerzmantel aus dem Nachlass ihrer Großmutter. Dass das ein Geschenk vom
       „guten Onkel Hermann“ war, ignorierte sie. Zu schick fühlte sie sich in dem
       originellen Kleidungsstück. Da war für die Schatten aus der Vergangenheit
       kein Platz. Dachte sie. Und merkte nicht, wie ihre Geschichte sie trotzdem
       vor sich hertrieb.
       
       ## Psychatrie und Elektroschocks
       
       Mit vierzehn ist sie von zu Hause weggelaufen, hat in Südamerika, in
       Indien, in England und in den USA gelebt. Ihr heutiger Standort ist
       Thailand. Zwei Mal wurde sie in psychiatrische Kliniken eingewiesen, einmal
       mit Elektroschocks behandelt.
       
       In Indien schloss sie sich der Bhagwan-Bewegung an. Nach deren Umzug in die
       USA erlebte sie, wie sich die spirituelle Gemeinschaft in ein autoritäres
       System verwandelte. Inklusive Wachtürmen und Privatpolizei. Die Angst, ihre
       Wahlfamilie zu verlieren, ließ sie die Warnsignale lange ignorieren. Bis es
       zu spät war. Eine Erfahrung, die ihren Blick auf die Nazi-Verstrickungen
       ihrer Familie verständnisvoller machte.
       
       Bettina Görings Buch hat etwas Manisches, Getriebenes. Mithilfe ihrer
       eigenen Erinnerungen, Archivmaterial und Gesprächen mit Familienmitgliedern
       versucht sie, ihre eigene und ihre Familiengeschichte bis ins kleinste
       Detail aufzudröseln.
       
       ## Zeitliche Sprünge
       
       Sie und ihre Co-Autorin Melissa Müller, die auch eine in zwanzig Sprachen
       übersetzte [3][Anne-Frank]-Biografie verfasst hat, haben sich für viele
       zeitliche Sprünge entschieden. Bis weit ins 19. Jahrhundert reichen ihre
       Exkurse zu Görings Familie, die sich mit Ereignissen aus Bettina Görings
       Leben vermischen.
       
       Entwicklungen werden häufig nur kurz angedeutet und erst viele Seiten
       später ausführlich eingeordnet. Das Zusammenspiel zwischen Gegenwart und
       Vergangenheit ist so zwar immer präsent, die Lektüre dafür oft fordernd bis
       zäh.
       
       Sie habe ihren Frieden gemacht, schreibt Bettina Göring am Ende des Buches.
       Dass dies kein einfacher, aber ein wichtiger Prozess war, ist dem Buch
       anzumerken.
       
       8 Feb 2024
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Hermann-Goerings-Narzissmus/!5987249
 (DIR) [2] /NS-Verbrechen-in-der-Ukraine/!5913858
 (DIR) [3] /Anne-Frank/!t5019787
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Verena Harzer
       
       ## TAGS
       
 (DIR) wochentaz
 (DIR) Politisches Buch
 (DIR) Nazideutschland
 (DIR) NS-Verbrechen
 (DIR) Familiengeschichte
 (DIR) Geschichtsaufarbeitung
 (DIR) Schwerpunkt Nationalsozialismus
 (DIR) Alternative für Deutschland (AfD)
 (DIR) NS-Widerstand
 (DIR) NS-Forschung
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Gedenkstätte erinnert an Zwangsarbeiter: Im Namen Jesu
       
       In Neukölln gab es das deutschlandweit einzige von Kirchengemeinden
       betriebene Zwangsarbeitslager. Hier waren Männer aus der Ukraine, Belarus
       und Russland interniert.
       
 (DIR) Nachfahren von NS-Widerstandskämpfern: „Aus der Geschichte lernen“
       
       Kinder und Enkel von NS-Widerstandskämpfern wenden sich an die deutsche
       Bevölkerung. Sie warnen vor der AfD und rechtsextremen Tendenzen.
       
 (DIR) Ausstellung über Reichsbahner: Retter auf Schienen
       
       Das Deutsche Technikmuseum widmet einem Arbeiter der Reichsbahn eine
       Sonderausstellung. Im Holocaust hatte er zwei Jüdinnen gerettet.
       
 (DIR) NS-Verbrechen in der Ukraine: Auf der Spur der Täter
       
       Viele Deutsche wollen wissen, welche Verbrechen Familienangehörige während
       des NS in der Ukraine begangen haben. Ein Historiker hilft dabei.