# taz.de -- Franz Dobler schreibt über Adoption: Zwei Mütter, aber nur eine Mama
       
       > Was es heißt, als Adoptivkind in Nachkriegsdeutschland aufzuwachsen.
       > Franz Doblers neuer Roman „Ein Sohn von zwei Müttern“ hat Stil und
       > berührt.
       
 (IMG) Bild: Verkratzte Erinnerungen: Im bayerischen Schongau, das Foto stammt von 1962, wuchs Franz Dobler auf
       
       „Erinnerungen sind ein echtes Problem. Die treten dir eines Nachts die Tür
       ein und behaupten, sie gehörten zu dir. Das ist gelogen, du kennst sie
       nicht. Sie behaupten, sie würden seit vielen Jahren in deinem Haus wohnen,
       ganz unten hinten im Keller, wo du schon lange nicht mehr warst“, schreibt
       Franz Dobler in seinem neuen, dieser Tage erscheinenden Roman „Ein Sohn
       von zwei Müttern“. Aber, fügt Dobler an, diese Erinnerungen könnten ja viel
       behaupten, „und du sagst, sie sollen verschwinden. Dann holen sie
       verkratzte und verknitterte Fotos aus ihren Taschen.“
       
       Erinnerungen, die darauf pochen, für wahr und ernst genommen zu werden,
       sind in der Tat ein Problem. Man kann ihnen nicht trauen. Denn manche
       besonders vertraute und lieb gewonnene Erinnerungen dienen, so lehrt uns
       die Psychoanalyse, paradoxerweise der Verdrängung von verstörenden
       Ereignissen.
       
       Traumatischen, emotional stark besetzten Erfahrungen gelingt es häufig nie
       oder erst spät, sich gegen ihre Verdrängung aufzulehnen – und dann
       überhaupt erst als Erinnerung zu erscheinen. Aber auch dann spürt man, dass
       Erinnerungen nie ganz authentisch sind, sondern – wie Dobler treffend
       schreibt – vielmehr verkratzten und verknitterten Fotos ähneln.
       
       ## Achmed oder eher doch Ali?
       
       Wir dürfen davon ausgehen, dass der Protagonist seines Romans, den der
       Autor dadurch auf Distanz hält, dass er ihn konsequent „Er“ nennt, Franz
       Dobler sehr nah ist. Man könnte gar vermuten, dass dieser Trick Dobler erst
       ermöglicht hat, über sich selbst zu erzählen. Denn „Er“ hat sich zeitlebens
       mit der Frage herumgeschlagen, was es bedeutet, der Sohn von zwei Müttern
       zu sein.
       
       Ist der Prozess der Auseinandersetzung mit dieser Frage erst einmal in Gang
       gesetzt, zeigt sich schnell, dass manches gar nicht so verwirrend ist, wie
       es zu sein schien: „Er hatte zwei Mütter, aber nur eine Mama.“ Punkt. Die
       Mama wiederum zweifelt nie daran, dass „Er“ ihr Kind ist. Der Papa dagegen
       neigt dazu, den Plan des Sohns, Schriftsteller zu werden, darauf
       zurückzuführen, dass dieser eben nicht „sein eigen Fleisch und Blut“ sei.
       
       Die Väter allerdings sind ohnehin zweitrangig in dieser Geschichte. Von
       seinem leiblichen Vater weiß „Er“ nicht einmal genau, wie er heißt, weil
       sich auch seine leibliche Mutter, die er eines Tages in New York besucht,
       nicht daran zu erinnern glaubt, „vielleicht Achmed oder eher doch Ali“? Die
       Mutter hatte den Vater nur einmal getroffen, auf einer Party, er war ein
       etwas über zwanzigjähriger persischer Austauschstudent.
       
       Die persische Herkunft väterlicherseits bedeutet Doblers Figur nichts,
       warum auch? Hat er seinen Vater doch nie kennengelernt. Dobler ist „ein
       Kanake, der kein Kanake ist“, wie sein Schriftstellerkollege Jamal Tuschick
       einmal bemerkt. Er sei damit bester Beweis, „dass diese
       Blut-und-Boden-Denke totaler Quatsch ist“.
       
       ## Keine einfache Geschichte
       
       Die existenzielle Verunsicherung, die mit dem komplizierten Status des
       Adoptivkinds einhergeht, ist keine „Identitätsstörung“, wie linksrechte
       Wurzelfetischist*innen gern annehmen. Denn der Sohn hat ja eine Mama
       und einen Papa – und „seine Mama war für ihn immer seine eine und einzige
       Mama geblieben“.
       
       Warum die Mutter ihren Sohn freigegeben hat, erfährt „Er“ erst später. Dass
       seine Mama ihn aufgenommen hat, weil sie ihren eigenen Sohn verlor, wird
       ihm jedoch eines Tages erzählt. Denn „Er“ hat Mama und Papa früh in
       Aufregung gesetzt, als er eines Abends in der Badewanne erklärte, ein
       Adoptivkind zu sein – noch ohne zu begreifen, was ein Adoptivkind ist.
       
       „Ein Sohn von zwei Müttern“ ist eine Erzählung, die auch davon handelt,
       dass ihr Autor sie nicht aufschreiben will: „Die erste Mutter hatte ihn zur
       Welt gebracht und die zweite Mutter, seine Mama, hatte ihn adoptiert. Die
       erste würde in New York darauf warten, ihn nach dreißig Jahren
       wiederzusehen, die Zweite war verstorben. Keine einfache Geschichte,
       deswegen wollte er nie darüber schreiben. Jedenfalls nicht mehr als
       Notizen, jedenfalls kein Buch. Was für viele und anscheinend immer mehr
       Autor:innen das Höchste der Gefühle war – das eigene Leben bis zum
       geradezu skandalösen Krümel Gras in Opas Nachtkasten zu erforschen und
       literarisch aufzubereiten –, langweilte ihn schon beim Gedanken daran.“
       
       ## Sind nicht viele Serienkiller Adoptivkinder?
       
       Literatur heißt, das Schreiben, die Motivation für das Schreiben und die
       Notwendigkeit des Schreibens selbst zum Gegenstand des Schreibens zu
       machen. Der Erzähler denkt in diesem elegant montierten Text unter anderem
       darüber nach, wie selbst die Wissenschaft sich von Klischees über
       Adoptivkinder in die Irre führen lässt – neigen Adoptivkinder stärker zu
       antisozialem Handeln, gar zur Gewalt? Sind nicht viele Serienkiller
       Adoptivkinder?
       
       Während er nachdenkt, stellen sich Erinnerungen und Assoziationen ein.
       „Jede Assoziation ein Überfall.“ So reihen sich Fragmente einer Erzählung
       über Kindheit und Jugend, über das Erwachsenwerden, über prägende
       Beziehungen und Bildungserlebnisse in den niemals stockenden Erzählfluss
       ein, der lediglich von kursiven, in eckigen Klammern gesetzten Ermahnungen
       des Autors an sich selbst unterbrochen wird: „[nicht mit Zitaten
       überfrachten!]“
       
       Doblers Roman handelt von einem spezifischen existenziellen Problem – ein
       Adoptivkind zu sein – und zeigt, dass dieses lediglich eine Variante des
       allgemeinsten Problems des Menschseins ist: Das ist das Problem, eine
       Mutter zu haben. Damit verbunden ist in Doblers Fall die Frage, was das für
       das Verhältnis eines heterosexuellen Manns zu Frauen bedeutet. Das
       Besondere, das Individuelle zeigt sich in Doblers Roman an der Frage, was
       es heißt, in einer kleinbürgerlichen Familie in einer konservativen
       oberbayerischen Kleinstadt in den 1960er Jahren aufgewachsen zu sein.
       
       ## Alles, was man wissen musste
       
       Der sensible Junge versteht intuitiv, dass mit der Gesellschaft, in der er
       aufwächst, etwas nicht stimmt. Wenn sie im Fernsehen zu sehen ist,
       beschimpft der Papa die israelische Ministerpräsidentin Golda Meir als
       „dreckige Hure“, weil „die Juden den Deutschen unglaublich viel Geld aus
       der Tasche zögen, obwohl die Schuld, die nicht so groß sei, wie die Welt
       behauptete, längst beglichen sei“.
       
       Als „Er“ noch ein „Bübchen“ ist, hat er einen älteren Freund namens Hans.
       Dieser kommt aus einer Familie, die man heute dysfunktional nennen würde.
       Hans führt eine Gang an und boxt sich als Kleinkrimineller in einer Welt
       durch, die ihm nichts zu bieten hat. Er bringt „dem Bübchen alles bei, was
       man wissen musste. Was Ficken bedeutete und wie man es und anderes machte,
       was irgendwie damit zu tun hatte. Wie man ein in der Hosentasche
       vergrabenes Klappmesser mit einer einzigen blitzschnellen Bewegung zog,
       aufschnappen ließ und gegen einen Angreifer richtete.“
       
       Es muss in dieser Geschichte auch einen väterlichen Freund geben, der dem
       Jungen [1][die Welt der Kultur] eröffnet, sonst würde es diesen Roman nicht
       geben. Es wird von Auseinandersetzungen mit dem erzkonservativen
       Chefredakteur der Lokalzeitung berichtet, wo der junge Mann wenig später
       den Journalismus erlernt. Es kommen Polizisten vor, die lebensklug und fair
       sind. All diese Menschen bescheren dem werdenden Künstler Erfahrungen, die
       zeigen, wie vielfältig die Menschen sind. „Er“ wird eben deswegen zum
       Künstler, weil er das sehen und verstehen kann.
       
       Doblers Roman handelt auch davon, was Menschen zu Außenseitern macht: Es
       ist nicht zwangsläufig ein Mangel an Liebe, sondern oft nur einer erhöhten
       Sensibilität geschuldet, die dem Außenseiter eine gute Startrampe für die
       künstlerische Auseinandersetzung mit der Welt ist.
       
       ## Coolness und Wärme in Einklang bringen
       
       Für seine Krimis wurde Dobler mit Preisen bedacht. Auch in diesem Roman
       bleibt er seinem coolen, an amerikanischer Literatur, an Filmen und
       Popsongs gewachsenen, [2][knappen, direkten und immer leise ironischen
       Tonfall] treu.
       
       Dessen lakonische Coolness wird jedoch gebrochen, weil Dobler seinem „Er“
       Verunsicherung erlaubt. Er stellt sich der Aufgabe, die er sich nicht
       ausgesucht hat. „Er war seit zwanzig Jahren auf der Flucht vor diesem Buch,
       und letztendlich gab er sich geschlagen, weil er erkannte, dass er vor
       diesem Buch nicht fliehen konnte, sondern es nur erledigen konnte.“
       
       Cool und stilbewusst zu schreiben, ist auch eine Methode, sich gegen
       Emotionen und die mit ihnen einhergehende Verletzlichkeit zu wappnen.
       Dobler aber bringt Coolness und Wärme in Einklang. So streng er gegen sich
       selbst und jeden Kitsch ist, so offen bleibt er in jedem Satz für Gefühle,
       auch wenn diese die Souveränität des Welt erzeugenden Autors zu
       unterminieren trachten. Franz Dobler ist ein Mensch, im jiddischen
       Wortsinn, und sein Buch ist schön, berührend, große Kunst.
       
       18 Feb 2024
       
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