# taz.de -- Wiederauflage Peter Flamms Roman „Ich?“: Schwer zu erklärende Gefühle
       
       > Der Erzähler in Peter Flamms Roman von 1926 „Ich?“ irrt durch sein
       > beschädigtes Leben nach dem Ersten Weltkrieg. Eine Wiederauflage vom
       > Fischer Verlag.
       
 (IMG) Bild: Spuren der Kämpfe des 1. Weltkriegs, unbekannter Ort 1919
       
       Nicht ich, meine Herrn Richter, ein Toter spricht aus meinem Mund. Nicht
       ich stehe hier, nicht mein Arm, der sich hebt, nicht mein Haar, das weiß
       geworden, nicht meine Tat, nicht meine Tat.“ Atemlos und verzweifelt
       versucht sich Hans Stern, Erzähler in Peter Flamms Roman „Ich?“, mit seiner
       Geschichte zu verteidigen.
       
       Er glaubt, er sei ein anderer, sei nicht der Arzt aus Berlin, sondern
       Wilhelm Bettuch, ein Bäcker aus Frankfurt. Er sagt, er hätte nur den Pass
       von Stern gefunden, der noch am letzten Tag bei Verdun von einer Granate
       getötet worden sei, völlig sinnlos, wie der ganze Krieg. Er hätte ihn
       genommen und dessen besseres Leben angenommen.
       
       Doch der Leser mutmaßt, dass es umgekehrt Stern ist, der sich für Bettuch
       hält. Denn als er in Berlin ankommt, erkennen ihn alle wieder, seine Frau
       Grete, seine Geliebte und sein Freund. Alle außer seinem Hund, der ihn bei
       seiner Ankunft beißt, so als spüre er, dass er in Wirklichkeit ein anderer
       ist und seine äußere körperliche Hülle nur so aussieht wie Hans Stern.
       
       Wie in der Odyssee, in der Argos, der Hund des Odysseus, den Helden sicher
       wiedererkennt, spürt Sterns Hund, dass sein Herr eigentlich auf dem
       Schlachtfeld geblieben ist und wie Wilhelm Bettuch in einem der zahllosen
       Gräber von Verdun liegt.
       
       ## Den Nerv der Zeit getroffen
       
       „Ich?“ traf 1926, als Peter Flamms Romandebüt zum ersten Mal erschien, den
       Nerv der Zeit und wurde ein Erfolg. Das Buch handelt von einem Trauma, mit
       dem sich Millionen herumschlugen: das Trauma des Krieges.
       
       „Eine Generation, die noch mit der Pferdebahn zur Schule gefahren war,
       stand unter freiem Himmel in einer Landschaft, in der nichts unverändert
       geblieben war als die Wolken und unter ihnen, in einem Kraftfeld
       zerstörender Ströme und Explosionen, der winzige, gebrechliche
       Menschenkörper“, beschrieb Walter Benjamin den epochalen Einschnitt des
       Ersten Weltkriegs.
       
       Das, was „Ich?“ auch heute noch interessant und lesenswert macht, sind
       nicht nur die gegenwärtigen Kriege, sondern ist ebenso das darüber
       hinausgehende Ringen Hans Sterns um seine Identität. Die Antwort auf die
       philosophische Frage „Wer bin ich“ wurde seit dem Beginn der Moderne immer
       prekärer. Das 19. Jahrhundert hatte mit der Industrialisierung und
       Verstädterung die Tradition und die Familie als Ursprünge und damit als
       Basis der Identität angekratzt.
       
       ## „Ich ist ein Anderer“
       
       „Ich ist ein Anderer“, schrieb Arthur Rimbaud. Dass sich daran bis heute
       nichts geändert hat, sondern im Gegenteil Globalisierung und Migration das
       Identitätsproblem eher noch verstärkt haben, zeigt das Nachwort von
       Senthuran Varatharajah. Hier schreibt ein Deutscher, dem wahrscheinlich die
       Frage „Wer bist du?“ oft gestellt wird. Für den die Frage nach der
       Identität nicht nur eine persönliche, private Frage bleibt.
       
       Hans Stern irrt in seiner Verteidigungsrede durch sein Leben nach dem
       Krieg. Atemlos folgt ihm der Leser, der erst langsam erfährt, weshalb er
       angeklagt wurde. Seinen Richtern versucht Stern zu erklären, dass er
       zwischen seinen Gefühlen und seiner Vernunft hin und her geworfen wird.
       Letztlich ist es diese Spannung, dieser Widerspruch, der für Hans Stern zum
       zentralen Problem wird.
       
       Peter Flamm, der eigentlich Erich Mosse hieß und Neffe des großen Berliner
       Verlegers Rudolf Mosse war, musste als Jude 1933 aus Deutschland fliehen
       und ließ sich in New York als Psychiater nieder.
       
       ## Bewusstsein und Vernunft
       
       In einem im Anhang abgedruckten Vortrag, den Erich Mosse 1959 auf einem
       PEN-Kongress in Frankfurt am Main hielt, formuliert er es mit Freud: Er
       verweist auf die nicht mehr funktionierende Austarierung der Spannung
       zwischen seinem „Es“, der Instanz der Gefühle und Triebe, und seinem „Ich“,
       dem Bewusstsein und der Vernunft.
       
       Ein zivilisatorisches Gleichgewicht im Menschen, das der Krieg zerstört
       hat. Der Krieg tötet nicht nur die, die auf dem Schlachtfeld bleiben,
       sondern auch die, deren Glück eigentlich nicht größer sein könnte, weil sie
       die Hölle überlebt haben und nach Hause zurückkehren konnten.
       
       19 Feb 2024
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Fokke Joel
       
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