# taz.de -- Film über Feministin Helke Sander: Offen für die Kontroverse
       
       > „Helke Sander: Aufräumen“ von Claudia Richarz ist der erste Film über die
       > Regisseurin und Pionierin der westdeutschen Frauenbewegung.
       
 (IMG) Bild: Realitätsnahes Porträt: Helke Sander in „Aufräumen“
       
       Wenn sich Helke Sander etwas vornimmt, dann überlegt sie es sich genau. Das
       wird recht früh klar im Dokumentarfilm „Aufräumen“ von Claudia Richarz, der
       die 87-jährige Filmemacherin, Autorin, Hochschullehrerin und Pionierin der
       westdeutschen Frauenbewegung porträtiert. Der Film begleitet die
       Regisseurin dabei, wie sie in und ein bisschen auch mit ihrem Leben
       aufräumt, und das tut Sander mit der ihr eigenen Gründlichkeit.
       
       Nicht nur der Kleiderschrank wird vor der Kamera entleert und die Bedeutung
       und die Geschichte von einzelnen Kleidungsstücken erläutert. Selbst die
       Musik für ihre Beerdigung hat sie schon ausgewählt: prähistorische
       Flötenmelodien, die älteste überlieferte Musik, das würde doch zu einer
       Beerdigung passen, sinniert Sander laut und schiebt eine CD in die Art von
       Stereoanlage, die man noch aus den Wohnzimmern von Eltern und Großeltern
       kennt.
       
       Ein bisschen ist „Aufräumen“ auch eine Hommage nicht nur an eine wichtige
       Filmemacherin, sondern auch an die Generation der Babyboomer oder 68er, die
       unser Leben bis in die Gegenwart geprägt haben, die in der Öffentlichkeit
       schon länger keine dominante Rolle mehr spielen und die sich nun nach
       langen Leben aufs Sterben vorbereiten.
       
       Das Jahr 1968 ist ein Schlüsseljahr in der westdeutschen Geschichte,
       allerdings aus den falschen Gründen. Wenn die Achtundsechziger
       gesellschaftlich etwas erreicht haben, war es weniger der Widerstand gegen
       den Vietnamkrieg, die Notstandgesetze, den Springer-Verlag oder gar die
       kapitalistische Gesellschaftsordnung. Die gesellschaftlichen Veränderungen,
       die bis heute die größere, wenn auch selten thematisierte Rolle spielen,
       erreichte die Frauenbewegung, die erste der „Neuen Sozialen Bewegungen“,
       die in den 70er und 80er Jahren wirklich sozialen Wandel in der
       Bundesrepublik ausgelöst haben.
       
       ## Bürgerliche Selbstermächtigung
       
       Die Frauenbewegung geht allem vor, was an bürgerlicher Selbstermächtigung
       und „Politik von unten“ folgen sollte: Schwulenbewegung, Umweltbewegung,
       Hausbesetzungen, Kampagnen gegen Bauvorhaben wie die Startbahn West oder
       gegen die Volkszählung.
       
       Und [1][Helke Sander war eine der wichtigsten Protagonistinnen der frühen
       Frauenbewegung]; ihr ganzes Leben und ihr ganzes Werk sind durch den
       Umstand geprägt, dass sie und andere Frauen sich nicht so an der
       politischen Arbeit beteiligen konnten, wie sie das gerne getan hätten, weil
       sie sich um ihre Kinder kümmern mussten. Dass die Herren der Schöpfung sich
       an dieser Aufgabe beteiligten, war zu dieser Zeit offenbar auch unter
       linken Männern schwer vorstellbar.
       
       Bei der 23. Delegiertenkonferenz des Sozialistischen Deutschen
       Studentenbundes (SDS) in Frankfurt am Main forderte Sander im September
       1968 darum als Mitgründerin des Aktionsrat zur Befreiung der Frauen: „Wir
       können mit der Lösung der gesellschaftlichen Unterdrückung der Frauen nicht
       auf Zeiten nach der Revolution warten, da eine nur politisch-ökonomische
       Revolution die Verdrängung des Privatlebens nicht aufhebt.“ Die Forderung
       stieß bei den männlichen Genossen auf wenig Interesse. Wütend über diese
       Ignoranz warf die Studentin Sigrid Rüger drei Tomaten und traf auf dem
       Podium den SDS-Cheftheoretiker Hans-Jürgen Krahl.
       
       Die Presse berichtet weithin; es ist die Urszene der westdeutschen
       Frauenbewegung, in ihrer zeithistorischen Bedeutung so wichtig wie Beate
       Klarsfelds Ohrfeige für Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU) oder
       Angela Merkels Selfie mit einem Flüchtling, aber leider viel weniger
       bekannt. Immerhin: Wenn man bei Google den Namen „Helke Sander“ eingibt,
       schlägt die Website als weiteres Suchwort „Tomatenwurf“ vor.
       
       ## Politischer Aktivismus und künstlerisches Werk
       
       Diese Betonung ihrer Rolle in der Frauenbewegung soll die Bedeutung ihrer
       Filme und Bücher nicht schmälern, im Gegenteil. Bei Helke Sander ist
       politischer Aktivismus und künstlerisches Werk untrennbar miteinander
       verflochten. Noch in ihrem bisher letzten Film „Mitten im Malestream“ von
       2005 verhandelt sie mit Weggefährtinnen die frühen Konflikte und
       Flügelkämpfe der Frauenbewegung. Und auch in ihrem Meisterwerk „Redupers.
       Die allseitig reduzierte Persönlichkeit“ von 1977 geht es um die Frage, wie
       man eine Existenz als freie Künstlerin und als alleinerziehende Mutter in
       Einklang bringen kann.
       
       Sander erzählt von den Dilemmata, in die man da geraten kann, so
       realitätsnah und so alltäglich, dass man manchmal das Gefühl hat, wieder in
       einer Altbau-Wohnküche in den 1970er Jahren zu sitzen. Wenn die
       Protagonistin von intellektuellen Kulturwelt-Männern „mit Connections“ beim
       Rotweintrinken befummelt wird, dann nimmt das die „#MeToo“-Bewegung voraus;
       wenn niemand ihre Performance an der Berliner Mauer so richtig ernst nehmen
       will, denkt man unwillkürlich an die vielen weiblichen Künstlerinnen, die
       zur selben Zeit ebenfalls eher als Exotinnen im Kunstbetrieb betrachtet
       wurden und erst heute allmählich anerkannt werden – wenn überhaupt.
       
       Der Film sollte eigentlich Pflichtprogramm für jede Einführung in die
       Geschichte des deutschen Feminismus sein, denn er zeigt, wie viel sich
       seither verändert hat, aber leider auch, wie viel sich im Grunde bis heute
       kaum geändert hat. Außerdem ist er lustig, unterhaltsam und lebensklug.
       
       Wie „Aufräumen“ zeigt, hat Sander durch eine Ehe mit einem Finnen früh
       erfahren, dass Bohemiens und Künstler nicht überall so patriarchalisch und
       dumpf wie ihre deutschen Kollegen sein mussten. Bei den Schwiegereltern
       lernt sie einen Vater kennen, für den Kinder und Familie nicht Frauensache
       sind, und macht außerdem Impro- und Studententheater und Kunstaktionen.
       Nach der Scheidung kehrt sie mit Sohn Silvo 1965 nach Deutschland zurück
       und gehört 1966 zum ersten Jahrgang der Deutschen Film- und Fernsehakademie
       Berlin – als eine der ganz wenigen weiblichen Studentinnen und zusammen mit
       Kommilitonen wie Harun Farocki, Hartmut Bitomsky, [2][Gerd Conradt] und
       Wolfgang Petersen.
       
       ## Der voyeuristische „male gaze“
       
       Ihr erster Kurzfilm, „Subjektitüde“ von 1967 über eine Szene an der
       Bushaltestelle am Bahnhof Zoo, nimmt vorweg, was Generationen von
       Filmtheoretikerinnen am Medium Kino beschäftigen sollte: einen spezifisch
       weiblichen Blick, der sich fundamental vom kontrollierenden und
       voyeuristischen [3][„male gaze“] auf weibliche Körper und Sujets durch
       männliche Filmemacher unterscheidet, wie Laura Mulvey in den 70er Jahren
       analysierte.
       
       Zu dieser Zeit war sie auch schon in der Studentenbewegung aktiv, wie ihr
       Film „Brecht die Macht der Manipulateure“ von 1967 zeigt, der zur
       Unterstützung der Anti-Springer-Kampagne entstand. Doch bald nimmt ihr
       Aktivismus eine praktisch-pragmatische Wendung, als sie bei der Gründung
       eines ersten Kinderladens in Berlin dabei ist, um Sohn Silvo
       unterzubringen. 1974 ruft sie die Zeitschrift [4][Frauen und Film] ins
       Leben, die es bis heute gibt und die in den 70er Jahren eine wichtige Rolle
       dabei spielte, die Filme von deutschen Filmautorinnen auf die Tagesordnung
       zu setzen.
       
       Der Sohn – inzwischen selbst Schriftsteller und auch schon im gereiften
       Alter – kann nicht nur Gutes am Aktivismus seiner Mutter finden, wie sich
       bei einem gemeinsamen Spaziergang am Ostseestrand herausstellt, der in
       „Aufräumen“ zu sehen ist – offenbar hätte er sich eine Mutter gewünscht,
       die weniger mondän und aktiv, dafür mehr für ihn da gewesen wäre. Doch die
       größten Gefühle werden noch heute mobilisiert, als es um den Film „BeFreier
       und Befreite“ (1992) geht, Helke Sanders Dokumentarfilm über die
       Vergewaltigungen, die russische Soldaten am Ende des Zweiten Weltkrieges
       begingen – auch das heute wieder ein leider aktuelles Thema, wie die
       russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine zeigen.
       
       Die ehemalige Weggefährtin Gertrud Koch warf ihr ausgerechnet in der von
       Sander gegründeten Zeitschrift Frauen und Film vor, revisionistische
       Geschichtsklitterungen zu verbreiten – ein Vorwurf, der sie bis heute
       verletzt, wie man in „Aufräumen“ deutlich sehen kann. Auch ein Auftritt in
       Frankfurt, bei dem Sander gegen das Gendern spricht und dafür von jungen
       feministischen Aktivistinnen in die Mangel genommen wird, zeigt, dass sie
       bis heute die Kontroverse nicht scheut.
       
       ## Wäre die Biografie sonst gerade verlaufen?
       
       So verwundert es, dass es bis jetzt gedauert hat, dass ein Film über eine
       der bedeutendsten deutschen Filmemacherin entstanden ist. Oder eigentlich
       doch nicht, wenn man sich die Biografie von Helke Sander ansieht, die
       möglicherweise etwas gerader verlaufen wäre, wenn sie nicht immer wieder
       auf die Machtunterschiede und die mangelnde Gleichberechtigung zwischen
       Mann und Frau aufmerksam gemacht hätte. Gut, dass Claudia Richarz, ihre
       ehemalige Studentin an der HfbK und selbst durch die Dokuserie „Abnehmen in
       Essen“ bekannt geworden, jetzt diesen empathischen und lehrreichen Film
       gedreht hat.
       
       7 Mar 2024
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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